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Irrländer
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eBook324 Seiten4 Stunden

Irrländer

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Über dieses E-Book

2016. Europa brennt. Bankrotte Staaten, soziale Not, Terroranschläge, die "Neue Pest" rast durch Irland, Flucht und Evakuierung. Aus Irland wird ein Hochsicherheitstrakt. Die Grenzen werden dicht gemacht. Man baut Schutzmauern.
25 Jahre später rennt die junge Generation gegen die "fürsorgliche" Gewalt und Unfreiheit an.
Luisa Lenz ist eine begabte Hackerin, schickt verbotene Nachrichten über das Meer und schließt sich dem Widerstand an. Bei einer gewagten Aktion kommt ihr Freund zu Tode. Sie zieht sich aus der Bewegung zurück und verkriecht sich in Passivität.
Liam McCabe ist als Kind mit seiner Familie aus Irland geflohen. Warum dürfen sie immer noch nicht zurück? Und was hat es mit den mysteriösen mails auf sich, die anscheinend aus Irland kommen und deren Empfängerin vor Liams Augen entführt wird ? Liam und Luisa geraten in den Sog bedrohlicher Ereignisse.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum18. Juni 2015
ISBN9783738031720
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    Buchvorschau

    Irrländer - Caro Weidenhaus

    2

    Cork, Irland

    Die Mc Cabs fuhren mit ihrem alten Volvo stadtauswärts. Mary saß vorne neben Jay Pop. Ihr Schwiegervater hatte selten Gelegenheit zum Fahren und hatte sich gleich händereibend hinter das Steuer gedrängt. Ryan saß hinten. Er war geduldiger mit ihrem fünfjährigen Sohn, der vermutlich nach kurzer Zeit anfangen würde zu quengeln. Dann erzählte Ryan Endlosgeschichten, an denen auch die Erwachsenen ihr Vergnügen hatten und in die sie sich ausschmückend einmischten. Im Moment aber schlief der kleine Liam.

    Jay Pop hatte Geburtstag, sein zweiundfünfzigster, und weil er kaum noch aus seinem Laden herauskam und oft davon sprach, dass er gerne mal wieder in den Süden runter wolle, hatten Mary und Ryan ihm diese Reise geschenkt. Und um ihn zu trösten, ihm zu demonstrieren, das Leben hat noch andere Seiten zu bieten, als tagaus, tagein in einem Laden zu sitzen, der nichts mehr abwarf, der nur rote Zahlen schrieb. Der Laden gehörte jetzt der Bank und Ende des Monats mussten sie ihn räumen. Auch sie hingen an dem Laden und ein anderes Leben war kaum vorstellbar. Gleichzeitig lockten Veränderungen, zumindest wenn man so jung wie sie war.

    Mary erinnerte sich, wie sie das erste mal vor dem Glaspalast, wie sie den Laden nannten, stand. Sie war gerade in eine Studentenbude ein paar Straßen weiter gezogen. Es war im Winter, Schnee lag auf den Straßen. Sie kam mit dem Fahrrad von der Uni. Sie bremste so plötzlich, dass ihr Rad ins Schlingern geriet und sie fast gestürzt wäre.

    Aus dem Schaufenster leuchtete ihr ein bunter Traum, ein glitzerndes Versprechen entgegen. In der Mitte des Fensters hing eine Tafel. Ein weihnachtlich, biblisches Motiv, aus feinstem Glas gefertigt. Da hingen Sterne und Monde, Perlenschnüre und standen Engelkerzenhalter aus buntem Glas, kitschig und wunderschön. Tiffanyimitate neben modernem Design. Eine stilisierte Tanne aus durchscheinend grünen Glasplättchen war so raffiniert beleuchtet, als würden Kerzen eine weihnachtliche Stimmung zaubern. Die Beleuchtung selbst war ein Kunstwerk. Man sah keine Strahler, keine Lampen. Geschickt von oben und der Seite ausgeleuchtet, war das Fenster ein perfekt gestaltetes Bühnenbild.

    Vielleicht werden Erwachsene zur Weihnachtszeit ein bisschen rührselig und bunte Kinderträume und Erinnerungen rücken wieder näher. Mary fühlte sich in Zeiten zurückversetzt, in denen man sich noch verzaubern ließ. Sie betrat den Laden und kaufte einen kleinen Kerzenleuchter. Und weil sie fast täglich am Laden vorbei kam, wurde sie zur Stammkunden mit kleinem Budget. Als Ryan sie herumführte, war sie schon längst verliebt.

    Das Haus war ein schmales Reihenhaus, so wie sie schon immer in diesem Stadtteil gestanden hatten. Hinter dem Laden lag eine Werkstatt, in dem Jay Pop seine Kunstwerke fertigte und ihn jetzt Ryan immer mehr ablöste. Die Küche daneben hatte ein Glastür, die in einen winzigen, vernachlässigten Garten führte. In der oberen Etage wohnten die beiden Männer. Eine Frau gab es nicht, bis ihr Ryan einen handgroßen, blauen Engel schenkte, bis sie mit Liam schwanger war und einzog.

    Nun waren sie auf dem Weg nach Glangariff , auf der Halbinsel Beara. Man hat dort, behauptet man, das beste Klima Irlands. Sie waren um sechs Uhr aufgebrochen. Der Himmel lag wie ein schweres graues Tuch über der Stadt und es regnete ununterbrochen. Sie hofften, dass es im Süden besser würde.

    Jay Pop ließ sich über das Wetter aus und zitierte ein irisches Sprichwort: „Four seasens on a monday. „Es ist doch durchaus ein Vorteil, dass wir hier so viel Regen haben. Das hält den Massentourismus fern. Hätten wir ein Klima wie in Spanien, wäre die Küste von Kerry mit Betonburgen zugeklotzt und wenn man über Land führe, würde man anstatt auf bescheidene, weißgetünchte Bauernhäuser auf pseudospanische Haciendas stoßen. Wer trotz des Wetters Irland bereist, muss ein wirkliches Interesse an unserem Land haben. sagte er.

    „Und warum fahren wir dann runter nach Glangariff, anstatt hier den Regen zu genießen? Wenn mich nicht alles täuscht, war der Grund dein ewiges Gerede von dem wunderbaren Klima im Süden." Ryan frohlockte und Mary hoffte, dass die Männer nicht zu streiten anfangen würden. Streitereien, die zwar gutmütig waren, aber oft hitzig eskalierten und sich endlos ausdehnen konnten.

    Jay Pop schaltete das Radio an. „...in der letzten Woche haben die Auswanderungsanträge die Rekordzahl von über achttausend erreicht. Jetzt sind es nicht nur junge, gut ausgebildete Menschen, die ihr Glück auf dem Kontinent suchen, jetzt packen ganze Familien ihr Hab und Gut... „

    „Nicht jetzt." sagte Mary und schaltete das Radio wieder aus. Sie befürchtete, dass die Nachrichten den Männern wieder Stoff für endlose Debatten liefern würden. In den letzten Wochen sind diese hitziger geworden und oft laut eskaliert. Denn auch Ryan und sie überlegten ernsthaft, das Land zu verlassen. Es galt nur noch und das war die schwerste Hürde, Jay Pop zu überzeugen. Und der sträubte sich vehement. Ignorierte, dass der Kampf längst verloren war, hatte selbst keine Pläne und hielt sich mit Phrasen aufrecht. Phrasen wie: - die Iren haben noch jede Krise bewältigt. – sollen sie doch abhauen, die Ratten. Dadurch wird es nur leichter, das Schiff durch das Unwetter zu steuern.- Als verstünde er etwas von der Seefahrt.

    Natürlich tat er Mary leid. Er war ein alternder Mann, der wenige Veränderungen in seinem Leben erleben musste und jetzt auch keinen Wunsch mehr nach Neuanfängen verspürte. Und er hatte im letzten Jahr zu viele Schläge einstecken müssen. Auch wenn schon in den letzten Jahren die Wirtschaftskrise immer offener ihre Fratze zeigte, bisher hatten sie sich mit dem Laden über Wasser halten können. Bis in der Nähe ein Einkaufstempel seine Glastore öffnete und mit Billigpreisen lockte. Eine Kette, deren Logo in allen Einkaufspassagen der europäischen Städte zu sehen war. Diese Entwicklung war der Ruin für die kleinen Läden in Dublin. Bis dahin wegen ihres nostalgischen Charmes und als Touristenfang gehätschelt und gehuldigt, wurden die Innenstädte plötzlich freigegeben für die großen Raubritter der Wirtschaft. Auch anderen kleinen Läden und Handwerksbetrieben ging es ähnlich wie ihnen. Rechnungen konnten nicht mehr bezahlt werden, der Großhandel stellte seine Lieferungen ein und die Banken gaben erstaunlich freigiebig Kredite, um die kurzfristigen Engpässe zu überbrücken. Die Engpässe waren Tunnel, an deren Ende die Banken und Investoren lauerten. Meistens dauerte es nicht einmal ein Jahr, dann wechselte der Laden, das Haus, die Werkstatt den Besitzer.

    Jay Pops Hausbank verhielt sich noch großzügig. Nach Abzug aller Hypotheken und anderer Verbindlichkeiten wurde ihnen noch ein Rest ausgezahlt, der reichen konnte, um sie ein paar Monate, maximal ein halbes Jahr über Wasser zu halten. Am ersten des nächsten Monats war die Übergabe.

    Und dann? Mary hatte Angst um Jay Pop. Und malte ihm aus, wie sie sich eine neue Existenz aufbauen würden. Es war ja schon vielen vor ihnen gelungen. Vielleicht sollten sie nach Deutschland , von dem es hieß, es sei immer noch ein relativ stabiles Land, auswandern. „Stell dir vor, etwas kleines, exklusives, ein winziger Laden mit deinen Glassachen und ein Regal mit englischsprachigen Büchern und eine Leseecke, in der wir Tee und Gebäck anbieten." Sie hatte gerade ihr Studium der Englischen Literatur abgeschlossen.

    „Du liest mehr als du lebst." zog Jay Pop sie manchmal auf. Zu ihren Träumen schwieg er verbissen.

    Als würde sich das übrige Europa in einem steilen Aufschwung befinden, warb es massenweise Iren an. Man versprach ihnen Eingliederungshilfen, Arbeit und Wohnung. Es lockte und gaukelte den Menschen wie vor Jahrhunderten das goldenen Amerika schöne Träume vor. Auch Mary und Ryan glaubten den Versprechungen. Und wenn sie es nüchtern betrachteten, schlimmer als in diesem Irrenhaus konnte es kaum werden. Die Zeitungen stockten täglich die Zahlen derer auf, die an der „neuen Pest" erkrankten. Die Folgen der Ausfälle wurden immer schmerzhafter. Irland war zu einem Staat verkommen, der seine Diener nicht mehr bezahlen konnte, der Rentner ohne Rente und Arbeitslose ohne Unterstützung vor geschlossenen Ämtern stehen ließ. Der Schulen und Krankenhäuser schloss und den öffentlichen Verkehr so reduzierte, dass Pendler Mühe hatten, ihren Arbeitsort zu erreichen. Jeden Tag flohen hunderte Iren aus dem Land. Sie handelten verzweifelt und überstürzt, denn jeder hatte Angst, zu spät zu kommen. Denn irgendwann musste das Ausland mit Arbeitskräften gesättigt sein und dann würden die Türen zugeschlagen. Wer zu lange zögerte, konnte dann sehen, wie er überlebte in einem Land, das längst jede Verantwortung für seine Kinder abgelegt hatte.

    Am Kinsale Head machten sie eine Rast. Die Regenwolken hatten sich aufgelöst und der Atlantik glitzerte im Morgenlicht. Felsen wie aztekische Pyramiden stiegen steil aus dem Meer. Vom rauen Klima angegriffen, zerbröckelnd und doch so massig, dass sie weitere Millionen Jahre dort stehen würden. An ihren Sockeln peitschte gierig der Atlantik mit haushohen Wellen. In der Luft jagten die Seevögel kreischend gegen das Donnern der Brandung an. Und oben auf dem Plateau so weit man schauen konnte smaragdgrüne Matten, die selbst im Herbst noch genauso frisch leuchteten wie im Mai.

    Ryan hatte am Abend vorher Sodabrot gebacken, dazu aßen sie Bücklinge, die sie unterwegs in einer kleinen Räucherei gekauft hatten, und tranken heißen Tee aus Thermoskannen.

    Nach der Pause wollten sie wenig befahrene Nebenstraßen in Richtung Bantry nehmen, sich Zeit lassen, um etwas von der Landschaft zu sehen. Aber kurz vor Clonakilty schien ihre Reise erst einmal zu Ende. Die schmale Straße war von einem Demonstrationszug blockiert.

    Jay Pop fuhr auf den Seitenstreifen und kurbelte das Fenster herunter. Er verwickelte sich in ein Gespräch mit einem jungen Paar. Der Mann trug ein Pappschild wie eine Monstranz vor sich her. Entmachtet die Banken, stand in dicken schwarzen Buchstaben darauf. Von Banken flossen rote Blutstropfen. Eine Dramatik wie in einem Gruselfilm.

    „Lasst den Wagen stehen und kommt mit. sagte der Mann.„ In Cork und in Dublin und vielen anderen Städten wird heute demonstriert. Das Gesicht des Mannes leuchtete begeistert und seine Augen bohrten sich in Marys und lockten: komm mit!

    Die Frau hinter ihm tänzelte leichtfüßig und spielte auf einer Fiddle eine altirische Ballade. Die Menschen strömten zu fünft, sechst nebeneinander, zu hunderten hintereinander einen Hügel hinunter auf Mary zu. In der Ferne tanzten sie wie bunte Segelschiffe auf einem langen Fluss.

    Der Sog zerrte an ihr, dass ihr schwindelig wurde und

    ihr Herz heftig gegen die Rippen polterte. Sie fühlte sich aufgerüttelt wie ein Kaleidoskop, in dem Bilder in schneller Folge durcheinanderwirbelten und sich zu immer neuen Szenen zusammensetzten. Wie sie als junges Mädchen ihrer erste Demo erlebt hatte. Sie war am Anfang begeistert aus Solidarität mit den Kommilitonen mitgezogen. Aber allmählich, umso mehr sie mit den politischen Zuständen und den Forderungen der Demonstranten vertraut wurde, hatte die Wut auch sie angesteckt. Sie hatte zugesehen, wie Schaufenster zu Bruch gingen und Autos brannten.

    Sie hatte schon lange an keiner Demo mehr teilgenommen. Die Familie, das Studium, ließen keine Zeit und Energie mehr für andere, wichtige Dinge. Sie fühlte eine übermächtige Sehnsucht nach einer Freiheit, die sie so lange nicht mehr gespürt hatte. Selbst nach der Gefahr, sich Knüppeln und Tränengas auszusetzen. Dabei sein, sich diesen Menschen zugesellen, sich wieder wichtig fühlen. Das war wie in eine andere Haut oder Rolle schlüpfen. Ihr Blick fiel auf Liam, der neugierig den Kopf über die Schulter seines Großvaters nach vorne reckte. Heute sollte sie für ihn kämpfen, für seine Zukunft, das wusste sie plötzlich. Sie fühlte sich dabei so ernst und verantwortungsbewusst wie damals, als sie ihn das erste mal im Arm hielt und ihm leise versprach, dass sein Leben wunderbar sein und sie alles dafür tun würde.

    „Die Banken haben unseren Laden geschluckt. Ich gehe mit. sagte sie „ Ich muss das einfach tun. Ihr drei Männer werdet auch ohne mich ein paar schöne Tage haben. Und bevor die Männer protestieren und sie verunsichern konnten, nahm sie ihre Umhängetasche, öffnete die Tür und stieg aus. Ein paar Leute in unmittelbarer Nähe klatschten Beifall.

    Sie waren mehr als zwei Stunden gelaufen, hatten einige kleinere Orte passiert und manchmal hatten sich ihnen Leute spontan angeschlossen. Mary hatte Blasen an den Füßen und ihr Hals war rau und trocken. Eine Frau, die schon eine Weile neben ihr hergelaufen war, bemerkte ihren gierigen Blick und reichte ihr eine Flasche mit Wasser. „Nimm, ich habe genug. sagte sie. Mary trank dankbar. Das Wasser war lauwarm und schmeckte metallisch. Einige Kilometer später wurde ihr übel. Sie kämpfte mit einem Brechreiz. Ihr war schwindelig. Die Anstrengung, dachte sie, oder es kommt vom Wasser. Vielleicht hat die Frau es aus einem dreckigen Brunnen oder aus einem Bach geschöpft und ich habe mich vergiftet. An die „Neue Pest wollte sie noch nicht denken. Daran sind schon Menschen gestorben.

    Sie schleppte sich noch eine Weile weiter. Dann bekam sie furchtbare Bauchkrämpfe. Sie ließ sich am Straßenrand ins Gras fallen. Plötzlich wollte sich ihr Darm unkontrolliert entleeren und sie raffte sich mit aller Kraft auf, schaffte es aber nur wenige Schritte in die Wiese hinein. Hinterher fühlte sie sich schwach, aber die Krämpfe waren nicht mehr ganz so quälend. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie nicht alleine litt. Alle paar Meter hockten Menschen auf der Wiese, von hohem Gras oder niedrigen Büschen kaum geschützt, und jammerten und stöhnten. Am Straßenrand ratlose Zuschauer. Ein groteskes, peinliches Schauspiel.

    Von der Energie, die den kilometerlangen Menschenzug angetrieben hatte, war nichts mehr zu spüren. Als läge ein Fluch über der Demo und die Menschen erkrankten nur auf Grund ihrer Teilnahme. Die Leute hockten sich an den Straßenrand und versuchten über ihre Handys den ärztlichen Notruf und Krankenwagen zu rufen. Aber es schien kaum noch freie Leitungen zu geben. Als letzten Ausweg rief man Freunde, Verwandte, jeden den man erreichen konnte und der über ein Auto verfügte, an.

    Mary bekam von all dem nichts mehr mit. Sie lag mit geschlossenen Augen im Gras. Sie brannte vor Hitze und die Schmerzen waren so heftig wie damals bei Liams Geburt. Irgendwann trug sie ein fremder Mann auf seinen Armen zu einem Auto und stopfte sie zu zwei anderen Frauen auf die Rückbank. Er hatte vor Stunden einen Anruf von seiner Tochter bekommen, aber weil er sie in dem Chaos unmöglich finden konnte, hatte er sich die nächsten Kranken eingeladen. Er hoffte, dass auch seine Tochter Hilfe von einem fremden Samariter bekommen würde. Er fuhr an diesem Tag noch mehrere Touren ins Hospital von Cork.

    3

    Dr. Malloy machte sich Sorgen. Sie war kein Mensch, der sich viel sorgte. Schon deshalb war dieser Zustand beunruhigend. Schon als der Anruf kam und sie kaum Zeit hatte zu packen, bevor man sie abholte, hatte sie ein ungutes Gefühl. Ein gute Woche vorher hatte man ihr einen Urlaub verordnet. Urlaub auf Befehl. Sie hatte nachgegeben, da sie schon länger auf dieses zweifelhafte Vergnügen verzichtet hatte. Ihre wenige Freunde hatte sie informiert. Genau am Abend vor Urlaubsbeginn hatte man sie abgeholt. Da lag der Verdacht nahe, dass beides zusammenhing und geplant war.

    Der Anruf kam von höchster Stelle. Schon die Einladung, die mehr wie ein Befehl formuliert war, hatte Dr. Malloy verwundert. Als man ihr mitteilte, dass sie in beratender Funktion zu dem Außenministertreffen in Dublin eingeladen war, reagierte sie ungläubig. Sie war Leiterin des Katastrophenschutzes für Irland. Ein Posten zugegebenermaßen in schwindelnder Höhe. Aber sie fand, nicht hoch genug, um solch einen bedeutenden Gipfel zu erklimmen. Die Fragen des Katastrophenschutzes konnten zwar durchaus grenzübergreifende Zusammenarbeit nötig machen, waren aber kaum Inhalt von weltpolitischen Entscheidungen. Auch wenn die Art, wie man sie informiert hatte, ungewöhnlich war, versuchte sie die misstrauischen Stimmen zu beschwichtigen. Bestenfalls stand sie vor einem Sprung auf der Karriereleiter. Wohin auch immer.

    Kaum hatte sie den Anruf und Befehl erhalten, den Telefonhörer aufgelegt, klingelte es schon an ihrer Haustür. Die beiden Männer stellten sich vor, beriefen sich auf den Anruf und wiesen sich als Beamte des Staatssicherheitsdienstes aus. Auf Fragen antworteten sie ausweichend. Unter ihren Augen packte sie ihre Sachen. Es sei weder nötig, dass sie ihren Laptop oder das Handy mitnehme, sagte der ältere der beiden, der Wortführer. Sie protestierte. Ohne diese Dinge fühle sie sich amputiert.

    „Lassen sie es hier." Der Ton in seiner Stimme verbot jede Diskussion darüber. Sie gehorchte.

    Auf der Fahrt in einem Auto mit passend zu der Situation getönten Scheiben, hörte sie bald auf, Fragen zu stellen. Die beiden Männer gaben vor, nicht mehr als sie informiert zu sein. Sie solle sich freuen. Es sei schließlich eine Ehre mit bedeutenden Politikern Europas zusammenzuarbeiten.

    Gedanklich zog sie eine gerade Linie :

    Katastrophenschutz – EU Gipfel – Katastrophe.

    Morgens brauchte es seine Zeit, bis ihr Gedankenapparat warm gelaufen war. Dann mied sie Kontakte und erst recht wollte sie nicht angesprochen und zu einem Gespräch genötigt werden. Deshalb verließ sie den breiten Hauptweg und nahm die schmalen Trampelpfade, die von einem nächtlichen Regen noch aufgeweicht waren. Gegen morgen hatten sich die Wolken verzogen und jetzt dampfte das Gras unter einem klaren Himmel. Das war hübsch.

    In diesen sehr frühen Morgenstunden hatte sie den Park bisher für sich alleine gehabt. Ein Privileg, für dass sie gerne früher als gewöhnlich aufstand. Während die meisten anderen Teilnehmer es vorzogen, bis in die Nacht hinein im Foyer oder an der Bar herumzuhängen, um dann morgens knapp vor dem Frühstück, mehr oder weniger verkatert, aus den Federn zu steigen. Sie hatte kein Interesse daran, sich mit anderen Teilnehmern im Foyer herumzudrücken, einen Drink zu nehmen und Smalltalk zu machen. Sie bevorzugte eine einfache und spartanische Lebensweise und für das Bedürfnis mancher Menschen, in Prunk und Luxus zu baden, fühlte sie nur Verachtung. Das Hotel war kein Ort, an dem sie sich wohlfühlen konnte. Und die Umstände trugen erst recht nicht dazu bei. In den vier Tagen, die der Gipfel jetzt dauerte, war ihr Unbehagen eher gewachsen. Dazu trugen die Geheimniskrämerei und die Gerüchte bei, die in den Pausen von Mund zu Ohr gingen.

    Als sie wiederholt Geräusche hinter sich hörte, drehte sie sich unwillig um. Eine entfernte Gestalt hastete vom Ende des Weges auf sie zu.

    „Dr. Malloy! Hallo,hallo, warten sie."

    Sie gehorchte und wartete. Es war Collins, der hechelnd auf sie zu kam. Sein Gesicht war rot angelaufen, als hätten ihn die wenigen Meter schon angestrengt. „Ich kenne ihre morgendlichen Gewohnheiten und bin ihnen gefolgt." erklärte er.

    „Dafür haben sie hoffentlich einen plausiblen Grund. Ich habe nicht mal einen Kaffee getrunken, geschweige die erste Zigarette geraucht."

    Er trottete hartnäckig neben ihr her. „Ich schlafe nicht gut. Manchmal habe ich sie morgens gehört, wie sie ihr Zimmer verließen. Sie sind wie ich ein Morgenmensch."

    „Spionieren sie mir nach?"

    „Nein, nein. So ist das nicht. Ich muss mit jemanden reden und sie scheinen mir vertrauenswürdig."

    Der Weg stieß wieder auf den Hauptweg. Einige Meter entfernt stand eine Bank. „Setzen wir uns." sagte sie, jetzt neugierig geworden und weil er immer noch laut schnaufte. Womöglich bekam er noch einen Herzanfall und sackte ihr in die Arme.

    „Ich werde den Gipfel noch heute verlassen. Und nichts wird mich hindern. Und wenn das Flucht bedeutet. Ich bin entschlossen." Er schwieg, rang wohl um Worte oder Erklärungen. Seine Augen hetzten hin und her, als suchten sie nach Lauschern oder nach einem Fluchtweg.

    Sie kannten sich nur flüchtig. Ihre Zimmer lagen sich gegenüber und ein paar mal waren sie sich auf dem Flur oder im Fahrstuhl begegnet. Aber sie hatten kaum mehr als höfliche Grüße gewechselt. Sie wusste, dass er Dolmetscher war. Sie hatte ihn mehrmals im Restaurant oder an der Bar mit anderen Übersetzern gesehen.

    Collins sah wie das Klischee eines Iren aus. Er hatte die Statur und das Gesicht eines Bauern, wirkte kräftig und zuverlässig. Die Augen blickten freundlich und sein Lächeln lag breit zwischen rosigen Kinderwangen. Er trug schlecht sitzende Anzüge, die seine runde Mitte betonten.

    Als sie einmal zufällig gemeinsam den Aufzug benutzten, hatte er sich vorgestellt. „ Collins, Ire, und sie?" sagte er. Als sie sich ebenfalls zu Irland bekannte, war ihm die Irritation anzumerken. Als hätte er wegen ihrer Hautfarbe angenommen, dass sie direkt aus dem tiefsten Dschungel kam.

    „Sehr viele Iren hier." sagte er.

    Sie musste ihm Recht geben, hatte sich auch schon gewundert, dass unter den Fachleuten wesentlich mehr Landsleute als andere Nationalitäten vertreten waren. Logischer wäre, dass man die Besten ihres Faches, welcher Herkunft auch immer, bevorzugt hätte.

    „Ich bin ein neugieriger Mensch, erklärte Collins jetzt. Das klang nicht prahlend, sondern eher bedauernd, als hätte ihn seine Neugier in diese anscheinend missliche Lage gebracht. „Ich habe mich umgehört, mit allen möglichen Leuten gesprochen. Hier eine Information, da ein unüberlegter Satz und als Übersetzer bekommt man so einiges mit.

    „Collins. Was genau wollen sie mir sagen?" Sie konnte Leute nicht ausstehen, die endlos redeten, bevor sie zur Sache kamen. Wenn man denn überhaupt heraus bekam, was ihr Anliegen war.

    Er hatte die Ellenbogen auf die Knie gestützt und den Kopf in den Händen vergraben. Das Haar hing ihm wirr und schweißnass ins Gesicht. Er ruckte mit dem Oberkörper hin und her und wippte mit den Knien auf und ab, als hätte er einen Anfall. Sie legte eine Hand auf seine Schulter, da richtete er sich wieder auf. Er stöhnte und wischte sich mit den Händen über das Gesicht. Seine Haut sah ungesund gerötet aus, als hätte er Fieber.

    Dann quollen die Worte aus ihm heraus, als müsse er sich übergeben, mit Worten übergeben. „Das ist eine Verschwörung, wie sie nie vorher gewesen ist. Das wird die Welt verändern. Natürlich habe ich mich mit anderen Übersetzern unterhalten, was nicht erlaubt war. Nicht über das Gehörte reden. Nicht darüber nachdenken oder eigene Schlüsse ziehen. Aber ich habe Ohren, kann einige Sprachen verstehen. Bin nicht blöd. Die Pläne..."

    Er unterbrach sich mitten im Satz, sein Kopf fuhr herum, reagierte auf die Stimmen. Zwei Männer des Sicherheitspersonals schlenderten durch den Park, kamen näher, taten harmlos und grüßten herüber. Collins beugte sich vor, sie verstand ihn kaum. „Wenn Menschen Angst haben, aus gutem Grund, oder wenn man ihnen die Gefahr nur suggeriert, akzeptieren sie sonst unmögliches." sagte er.

    Die Männer setzten sich auf eine Bank einige Meter weiter. In Hörnähe. Collins stand auf, sagte leise „Später." und verschwand in Richtung Hotel. Nach wenigen Minuten standen die Männer auf und gingen ihm nach. Oder sie wollten zufällig auch ins Hotel zurück. Es war Frühstückszeit.

    Sie hatte keinen Hunger, nestelte die Zigarettenpackung aus der Hosentasche und zündete sich eine an. Zog den Rauch tief ein. Ihr leerer Magen krümmte sich unter der Attacke.

    Collins Erregung hatte sie angesteckt. Oder den Misstrauensvirus wieder aktiviert. Es kam nicht oft vor, dass sie so spontan auf die überschwappenden Gefühle anderer Menschen reagierte. Sie verfügte über einen natürlichen, starken Filter, der alle Banalitäten, Gefühlsgeschosse und kindische Aufregungen fern hielt. Auch jetzt machte sie den Versuch, die Szene nüchtern zu analysieren. Collins Auftritt und seine Andeutungen schienen paranoid, auf jeden Fall rätselhaft. Sie liebte Rätsel. Wo andere aus Langeweile Kreuzworträtsel lösten, bevorzugte sie knifflige mathematische Gleichungen.

    Wollte man Dr. Malloy einem Intelligenztest unterziehen, müsste man ihn neu erfinden. Mit knapp siebenunddreißig hatte sie eine so rasante Entwicklung hingelegt, als sei sie nur auf der Durchreise zu weit höheren Zielen. Sie hatte ihren Doktor in Chemie gemacht, parallel einige Semester Physik studiert und ein Studium der Betriebswirtschaft abgeschlossen. Sie lebte nicht in der Welt wie gewöhnliche Menschen, sondern bewegte sich in Gedankenräumen, in denen wundersame klare Gebilde geboren wurden, deren Geburtshelfer Logik, Analyse und eine Begabung zur Organisation waren. Sie hatte wenig Privatleben, war äußerst diszipliniert und gestattete sich kaum Schwächen. Außer einer, sie war eine Kettenraucherin. Diese Sucht sollte ihr wenige Tage später das Leben retten.

    Dr. Malloys Vater war mit zwanzig Jahren über ein

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