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Das Leben im Grabe: Edition Romiosini/Belletristik
Das Leben im Grabe: Edition Romiosini/Belletristik
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eBook480 Seiten6 Stunden

Das Leben im Grabe: Edition Romiosini/Belletristik

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Über dieses E-Book

Das Leben im Grabe erschien zum ersten Mal 1924 auf Lesbos und gehört zum Kanon der neugriechischen Literatur. Bereits im Titel, der sich auf einen populären Psalm aus der Orthodoxen Karfreitagsmesse bezieht, deutet sich die Programmatik des Romans an: Die 57 Kapitel – ›Manuskripte‹ bzw. ›Briefe‹ des Feldwebels Antonis Kostoulas an seine Frau auf Lesbos, die von einem fiktiven ›Herausgeber‹ präsentiert werden, beschreiben das monotone Leben und die Brutalität der Kämpfe in den Schützengraben des Ersten Weltkrieges und Patriotismus und stellen zugleich die nationalen Mythen sarkastisch infrage; lyrische Erinnerungen an das Leben auf der nordägäischen Insel fungieren als Intermezzi, aber auch als Kontrast, um die Grausamkeit der Schlacht noch plastischer zu schildern. Dass man von Anfang an weiß, die Tagebuchseiten werden die geliebte Frau, für die sie aufgezeichnet wurden, nie erreichen, stärkt die dramatische Ironie.
Der Roman, der in einer Reihe mit den antimilitaristischen Werken von Barbusse und Remarque steht, wurde durch die faschistische Diktatur 1936 sowie während der deutschen Besatzung Griechenlands auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Mittlerweile ist er zum Klassiker geworden und wurde in zahlreichen Sprachen übersetzt.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum25. Feb. 2016
ISBN9783946142126
Das Leben im Grabe: Edition Romiosini/Belletristik

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    Buchvorschau

    Das Leben im Grabe - Stratis Myrivilis

    Inhaltsverzeichnis

    EINLEITUNG von Niki Lykourgou: Zur Entstehungsgeschichte des Romans

    DAS LEBEN IM GRABE

    Anstelle eines Prologs

    Ein Ende, das ein Anfang ist

    Wenn die purpurgeborenen Toten sterben

    Balafaras

    Die Schiffe

    Thessaloniki

    Marschieren

    Die Blinden

    Konstantinos Palaiologos

    Der Mohnblumenhügel

    M’chajilus

    Die Gespensterstadt

    Polyphems Auge

    Kadaver

    Beim Graben

    Die Tiere

    Im Wald

    Das Stundenglas

    Die Asketen der Lust

    Die Schlingpflanze des Krieges

    Todesmüdigkeit

    Zwölftausend Seelen

    Artilleriegefecht

    Aus der Tiefe

    Barba-Stylianos, der Jäger

    Mondschein im Graben

    Die geheime Mohnblume

    Jakop

    Balafaras in der Kampflinie

    Drei Nächte

    Das Lied des Lebens

    im Haus der Güte

    Das Urteil des Herrn

    Zavali majko

    Ein Brief von der Insel

    Sehnsucht nach der Ägäis

    Von Angesicht zu Angesicht

    Kriegsgericht

    Die drei Verurteilten

    Der »Hellene«

    Herbstregen

    Assimakis Garoufalis, der »hübsche Bursche«

    Wie Zafiriou starb

    Die Parade

    Die Mütter des Krieges

    Im Schlamm

    Eine Stimme ist verstummt

    Zwei Helden

    Opfer an die Sonne

    »Coup de main«

    Die Deserteure

    Aliberis verlernt die Furcht vor Granaten

    Der Meister

    Gas

    Bis Viertel nach zwei – I

    Bis Viertel nach zwei – II

    Bis Viertel nach zwei – III

    NACHWORT des Übersetzers

    ANMERKUNGEN

    Stratis Myrivilis

    Das Leben im Grabe

    Das Buch vom Krieg

    Roman

    Übersetzung aus dem Griechischen von Ulf-Dieter Klemm

    Mit einer Einleitung von Niki Lykourgou

    und einem Nachwort des Übersetzers

    Edition Romiosini/CeMOG

    Originaltitel: Η ζωή εν τάφω (1955) Hestia-Verlag, Athen

    Aus dem Griechischen übersetzt von Ulf-Dieter Klemm

    Überarbeitete Übersetzung des 1986 im Romiosini-Verlag, Köln, erschienenen Textes

    Übersetzung der Einleitung: Lulu Bail

    Anmerkungen: Kostas Kosmas

    © 2016 Edition Romiosini/CeMoG, Freie Universität Berlin.

    Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

    Vertrieb und Gesamtherstellung: Epubli (www.epubli.de)

    Satz und E-Book-Umsetzung: Nikos Kaissas, Kostas Kosmas, Bart Soethaert

    Gesetzt aus Minion Pro

    Umschlaggestaltung: Freie Universität Berlin, Center für Digitale Systeme

    E-Book ISBN 978-3-946142-12-6

    Auch in gedruckter Form erhältlich: ISBN 978-3-946142-07-2

    Made in Germany

    Online-Bibliothek der Edition Romiosini:

    www.edition-romiosini.de

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    Stratis Myrivilis

    (eigentlicher Name: Efstratios Stamatopoulos) wurde 1892 auf Lesbos geboren. Schon ab 1909 veröffentlichte er kleinere literarische Texte; 1912 wurde er an der Universität Athen immatrikuliert, doch durch den andauernden Kriegszustand konnte er sein Philologie- und Jurastudium nicht abschließen. Als er 1923 auf die Insel zurückkehrte, gründete er die Wochenzeitung »Kampana«, wo er in mehreren Folgen seinen Roman Das Leben im Grabe veröffentlichte; der Text wurde weiterhin von ihm überarbeitet bis zur siebten, endgültigen Fassung von 1955 und wurde in dreizehn Sprachen übersetzt. Myrivilis starb 1969 in Athen.

    INHALT

    Einleitung von Niki Lykourgou

    Das Leben im Grabe

    Nachwort des Übersetzers

    Anmerkungen

    DAS LEBEN IM GRABE:

    Zur Entstehungsgeschichte

    des Romans

    Der Große Krieg war ein ungeheures Blutbad, aus der die Erde blutrünstig und beschmutzt hervorging. Niemals zuvor fand auf ihrer Oberfläche ein Verbrechen solchen Ausmaßes statt. Ein Verbrechen ohne jedwede Art moralischer Berechtigung.

    Stratis Myrivilis, 1935

    Die makedonische Front des Ersten Weltkrieges war die Zwischen- station der zehnjährigen Militärdienstzeit von Stratis Myrivilis (Lesbos 1890 – Athen 1969). Zuvor hatte er freiwillig an den Balkankriegen teilgenommen, wofür er allerdings sein Studium der Philologie aufgeben musste. Danach folgten der Wehrdienst und sein Aufenthalt an der kleinasiatischen Front während der gesamten Dauer des Feldzugs bis zur »Kleinasiatischen Katastrophe«. Genauer gesagt trat er im September 1912 in die Armee ein und wurde im Oktober 1922 entlassen.¹ Myrivilis wird heute dank seiner Erlebnisse und Erfahrungen im Krieg – Erlebnissen und Erfahrungen, die seine literarische Identität formten – zu den wichtigeren Vertretern der europäischen und weltweiten Antikriegsliteratur gezählt. In seinem Prosawerk vermengte er Erinnerungen und Tatsachen aus den Balkankriegen, aber mehr noch konzentrierte sich sein Interesse auf den Ersten Weltkrieg, wie zumindest sein Roman Das Leben im Grabe beweist, der nach der Meinung der griechischen Kritiker zu Recht die »Chronik« jenes Krieges darstellt.²

    Viele Texte Myrivilis’ aus der Zeit von 1915 bis 1917, journalistische Texte (Berichterstattungen, Eindrücke, Tagebücher, Feuilletonistisches) und solche in Briefform, stellen gleichermaßen seine offizielle wie auch seine private Sprache dar. Sie skizzieren das Soldatenleben des Autors bei den Mobilmachungen 1915 und 1917 im Rahmen des griechischen Expeditionskorps.³ Während der Mobilmachung 1915 blieb Myrivilis, Soldat des aus Lesbos stammenden 43. Infanterieregiments, von Oktober 1915 bis Juni 1916 an der makedonischen Front, unter außerordentlich widrigen Lebensumständen, wie die zwei folgenden Abschnitte aus einer seiner Veröffentlichungen zeigen. Der erste:

    Wir sind Vorposten. Meine Kompanie in Ligovani [= Xilopoli]; wir sind vollkommen in Kontakt mit den französisch-englischen Streitkräften […]. Es war die Zeit, wo sich das Regiment im schlimmstmöglichen Zustand befand. Die Schuhe der Infanteristen hatten sich aufgelöst. Meine Kompanie z.B., mit einer Stärke von 150 Mann, hatte 75-80 vollkommen Barfüßige. Wir versahen den Dienst mit den Beschuhten und den Halbbeschuhten, sodass, wenn […] sich die Müden unter ihnen ausruhten, wir ihre Schuhe nahmen und sie anderen gaben. Wir hatten also wenige Stiefelpaare für den Dienst der ganzen Kompanie. […] Ebenso wie mit dem Schuhwerk ging es mit der Nahrung. Der Speiseplan war komplett festgelegt und komplett eintönig. Stockfisch und Reis. Die ersten Tage aßen es die Männer. Später aßen sie angeekelt nur noch wenig davon, und zum Schluss nahmen sie gar nichts mehr. […] Trotzdem wurde der Dienst äußerst planmäßig versehen, die Soldaten ließen keine Klagen gegenüber den einheimischen Bulgaren verlauten, und wenn sie sich mit französischen oder englischen Soldaten unterhielten, erzählten sie ihnen, dass sie fünfmal die Woche Fleisch äßen […] und dazu eine Vielzahl an Vorspeisen, die die gefräßigen Engländer geifern machte und die intelligenteren Franzosen, die uns bereits in der ihrem Geschlecht eigenen Prägnanz »Die Armee ohne Schuhe« nannten, fragen ließe, warum, da es einen so reichen Speiseplan gab, keine entsprechende Sorge für Schuhe getragen wurde.

    Und der zweite:

    Wir hatten unsere Zelte nahe Xylotros aufgeschlagen [= Agia Paraskevi von Serres], in einem Dorf bei Nigrita. Ein sandiges Land, mehrere Maulbeerbäume rund um das Zeltlager, und dahinter überall Getreide und Mohn. Ich weiß nicht, wie sehr die Hitze angestiegen war, weil wir kein Thermometer hatten. Ich weiß nur, dass, wenn man das Wasser aus der zwei,drei Minuten der Hitze ausgesetzten Feldflasche in die Hände goss, man es heiß an den Fingern fühlte. Aber das Schrecklichste von allem, noch schrecklicher als das erbärmliche Essen, das Exerzieren und die Hitze, waren […] die Mücken. Große, dicke Mücken, die […] uns mit einem schmerzhaften Stich das Sumpffieber einimpften […].

    Allmählich fielen wir, einer nach dem anderen, in den Sand. […] Alle wurden dünn und bleich, und man sah ringsherum nichts als eingefallene Wangen und schwarze Ringe unter den Augen. […] Die Fahnenfluchten hatten begonnen, und die Gruppen von Soldaten, die sich leise im Mondschein unterhielten […], redeten von nichts anderem als von Details der Gruppenflucht, wenn die Mobilmachung noch einen Monat länger dauern würde.

    Bei der Mobilmachung 1917 diente Myrivilis im 4. Infanterieregiment der Ägäisdivision in der Nationalen Verteidigung (April 1917 – April 1918). Bei ihm war sein Bruder Kimon Stamatopoulos, zwei Jahre jünger als er, aber »Feldwebel seiner Einheit«.⁶ Aus dem Briefwechsel mit der Familie und vor allem aus einer Reihe kleiner Fotografien mit eigenhändigen Bildbeschriftungen, die sich im Nachlass des Dichters befinden, geht hervor, dass die beiden Brüder, Stratis und Kimon, am 20. Mai 1917 in Florina waren und im Sommer bei Bitola, im Dezember 1917 und Januar 1918 hingegen in den Schützengräben von Gevgelija, an vorderster Front. Tatsächlich bewegte sich die Ägäisdivision in der Zeit von Mai bis Juli 1917 vor an die Front, im weiteren Umkreis von Bitola, und stand zwei französischen Divisionen zur Verfügung, um deren Streitkräfte zu ersetzen, die sich zurückzogen, um sich zu erholen.⁷ Dem Nachwort des Autors zufolge, das er der fünften Ausgabe von Das Leben im Grabe beigab (1949), »begann sich das Werk in den Schützengräben des europäischen Krieges herauszukristallisieren, während der Verteidigung des [damals serbischen] Bitola. Ein Kapitel wurde damals bereits in der Nea Ellas veröffentlicht, die in Thessaloniki herausgegeben wurde.« Das ist das einzige Zeugnis zur Vorgeschichte des Werkes, ein Zeugnis, das bisher zumindest nicht bibliographisch und philologisch verwertet wurde; daher reiht sich die »Thessaloniki-Ausgabe« der venizelistischen Athener Tageszeitung Nea Ellas, die im Mai 1917 gegründet und höchstwahrscheinlich Ende Juni desselben Jahres wieder eingestellt wurde, mit ein in die Fälle der unauffindbaren Druckwerke unseres Landes.⁸ Auf der Grundlage dieser Fakten ist das einzige, was wir bisher über das zuerst entstandene, nicht identifizierte »Kapitel« des Werkes sagen können, dass es während der ersten zwei Monate von Myrivilis’ Aufenthalt an der Front verfasst und veröffentlicht wurde.

    Das Leben im Grabe wurde vom 10. April 1923 bis 29. Januar 1924 in zweiundvierzig Folgen in der wöchentlich auf Lesbos erscheinenden Zeitung Kampana veröffentlicht, die Myrivilis im Namen seiner Reservistenkollegen von Lesbos herausgab. Es scheint, dass unmittelbar in den fünf Monaten nach Myrivilis’ Entlassung und seiner Rückkehr nach Mytilini geschrieben wurde, also von November 1922 an. Natürlich wird die Fertigstellung des Werkes in Verbindung mit seiner zeitgleichen Veröffentlichung gebracht. So kann man auch Myrivilis selbst verstehen, wenn er in seinem ersten Interview, 1930, auf die Frage antwortet: »Wie kam es dazu, dass Sie Das Leben im Grabe schrieben?«:

    Das war, als ich gerade von der Kleinasiatischen Katastrophe zurückgekehrt war. Ich gab damals eine wöchentliche Zeitschrift heraus […]. Es [Das Leben im Grabe] wurde also für die Kriegskameraden als Feuilleton der Zeitschrift geschrieben.

    Ab 1. April 1924 war der Text eigenständig auf Lesbos im Umlauf, unter dem Gesamttitel Das Leben im Grabe. Manuskripte, die sich im Kleidersack des Feldwebels Antonis Kostoulas fanden, mit der Charakterisierung »Roman« und der Anmerkung »Nachdruck aus der Kampana«. So erklärt sich auch das druckgrafische Erscheinungsbild des Buches: die kleine Größe, die vielen Flüchtigkeitsfehler und die mindere Qualität des Papiers. Quantitative Angaben zur Verbreitung der ersten Ausgabe gibt es nicht. Weder die Anzahl der Exemplare, die gedruckt wurden, noch die Gesamtzahl der Abonnenten der Kampana, die sie gleich erhielten, ist feststellbar. Die übriggebliebenen Exemplare jedoch landeten dem Autor zufolge in Buchläden und Druckvertrieben von Lesbos, Limnos und Chios und waren schnell ausverkauft.¹⁰

    Die Aufnahme, die Das Leben im Grabe bei der Kritik fand, war einmütig und vorbehaltlos positiv. Das Werk wurde mit Gefühlen der Begeisterung und Bewunderung aufgenommen und mit Charakterisierungen und Hochschätzungen wie den folgenden versehen: »ehrliche Abbildung des Krieges« (M. Rodas), »wahrhaftes Kunstwerk« (Louis Roussel), »echte Entdeckung« (I. Griparis), ein Werk, das »an die unvergleichlichen Bilder der Apokalypse« erinnert, »mit mehreren übernatürlichen Ideen, die einem in der alten asiatischen Kunst begegnen« (I. Venezis), »wert und mehr als wert, überall verbreitet und von allen gelesen zu werden« (Ang. Simiriotis). Es wurde auch für gleichwertig mit den antimilitaristischen Werken von A. Latsko, H. Barbusse und anderer europäischer Autoren gehalten.¹¹ Die dürftigen Bedingungen des Verlages vor Ort jedoch boten dem Werk damals nicht die Möglichkeiten zu einer größeren Verbreitung. Es brauchte weitere sechs Jahre, um die Voraussetzungen zu schaffen, die in Athen 1930 zu den spektakulären Ergebnissen seiner zweiten Ausgabe und in der Folge dazu führten, dass Myrivilis’ schriftstellerische Tätigkeit über die Grenzen von Lesbos hinausbekannt wurde. In der Zwischenzeit wurde das Werk nochmals überarbeitet und gedruckt, unter Umständen und Bedingungen, die von besonderem Interesse sind; aus diesem Grund ist es sinnvoll, sie kurz zu beschreiben.

    Myrivilis begründet im Interview von 1930 (vgl. Anm. 9) die Verzögerung der zweiten Auflage wie folgt:

    Nach Beendigung des Werkes […] bearbeitete ich es in großen Abständen. So gebar der Kreis der Erinnerungen, die die Nährhefe des Buches sind, weitere Teile.

    Einige dieser »Teile«, das heißt die neuen Kapitel der zweiten Fassung des Werkes, entstanden stückchenweise, vor der Herausgabe ihres Gesamttextes. Im Einzelnen sind das die Texte »Opfer an die Sonne«, »Die Parade«, »M’chajilus«, »Im Wald« und »Jakop«, die vorher entstanden und dann mit ziemlich vielen Änderungen in den Hauptteil des Buches eingefügt wurden, wo sie unter gleichem Titel Kapitel der zweiten Reinschrift wurden.¹² Man sollte ebenfalls erwähnen, dass der Ausdruck »der Kreis der Erinnerungen« auf die Mobilmachungen von 1915 und 1917 verweist und auf die wichtigen journalistischen Texte, die daraus hervorgingen. Mit anderen Worten wurde der Inhalt der Kriegsberichterstattung, der Armeetagebücher und der übrigen Publikationen der Zeit 1915-1917 in Teilen als erzählerisches Material für Das Leben im Grabe benutzt. Auf den Seiten des Werkes lassen sich, manchmal vage, manchmal klar erkennbar, und immer in eine literarische Form gebracht, Geschehnisse, Landschaften, Orte und Menschen aus der konkreten Realität wiedererkennen. Z.B. ruft die Beschreibung der Natur im Kapitel »Im Wald« (Das Leben im Grabe, S. 135) den »vergoldeten Wald«, »ein Traumbild«, »ein tausendstimmiges und tausendfältiges Lied der Schönheit und der Freude des fließenden Wassers und der vielgestaltigen Darstellungen des Grüns« ins Gedächtnis zurück, denen die Rekruten aus Lesbos »erschrocken vor Bewunderung« begegneten, als sie in Stena tis Rentinas [Gegend in Makedonien] vorbeikamen.¹³ Selbst der persönlichen Geschichte eines Mannes mittleren Alters, Assimakis Garoufalis im Kapitel »Assimakis Garoufalis, der ›hübsche Bursche‹« (ebd., S. 315), liegt eine entsprechende Geschichte eines jungen verheirateten Rekruten aus der Kompanie von Myrivilis zugrunde.¹⁴ »Im Wald« und »Assimakis Garoufalis, der ›hübsche Bursche‹« sind zwei von den sechzehn neuen Kapiteln, die der zweiten Ausgabe des Werkes hinzugefügt wurden.

    Für die Entstehung der zweiten Ausgabe von Das Leben im Grabe war die Hilfe von Myrivilis’ Freund, dem ebenfalls aus Lesbos stammenden Schriftsteller und Intellektuellen Antonis Protopatsis, von höchstem Wert. Protopatsis spornte Myrivilis an, sei es aus Frankreich, aus Athen oder sogar bei seinen Besuchen auf Lesbos, den Text der ersten Ausgabe zu überarbeiten und noch einmal herauszugeben, denn er glaubte an den künstlerischen Wert und die Vollkommenheit des Werkes. Er war auch der Meinung, dass eine Übersetzung in Frankreich auf den Markt gebracht werden sollte; rechtzeitig natürlich, solange zumindest in Europa die Welle der antimilitaristischen Bücher, die durch den Weltkrieg inspiriert waren, anhielt. So übernahm er im Sommer 1929 mit Myrivilis’ Einverständnis die Übersetzung der zweiten Reinschrift des Werkes, die noch nicht fertiggestellt war. Der konkrete Versuch des Übersetzers, ohne den vollständigen Vorlagentext zu arbeiten, und sein intensives Arbeitstempo waren für den Schriftsteller von entscheidender Hilfe, das Werk zu vollenden. Das Buch kam in Athen im April 1930 mit einem neuen Untertitel in Umlauf: Das Leben im Grabe. Geschichten vom Krieg.¹⁵

    Diese zweite Ausgabe stieß von Anfang an auf große Begeisterung und Lob und hielt sich etwa zwei Jahre in den Bestsellerlisten der neugriechischen Literatur. Fast in allen damaligen Buchkritiken wurde die Einschätzung formuliert, dass Das Leben im Grabe ein Meilenstein der griechischen Prosa sei, sowohl was den Inhalt als auch was die Ausdrucksmittel betraf, und dass Myrivilis mit diesem Werk eine beherrschende Stellung in der griechischen Literatur eingenommen habe. Eine der größten Tugenden des Werkes, auf die die Kritik hinwies, war die Kombination (oder die Gegenüberstellung) eines objektiv-realistischen, teilweise gar naturalistischen Schreibstils als Mittel, die unangenehme Wirklichkeit wiederzugeben, mit einer subjektiven lyrischen Ausdrucksweise, welche die Möglichkeit eröffnete, in persönliche Gedanken oder in die vertraute natürliche Umgebung zu entfliehen. Diese Kombination zeigte sich in Ausdrücken wie »roher Realismus und reine Romantik« (A. Kyrou), »Dichtung und Wahrheit« (P. Delta), »Mischung von Härte und feiner Sensibilität« (G. Pratsikas), »Wirklichkeit und Dichtung« (H. Pernot) usw.¹⁶ Darüber hinaus stellten einige Kritiker die Beherrschung der Stile heraus und kommentierten lobend die Funktion der Satire, der Ironie oder auch des Sarkasmus. Was die schriftstellerische Perspektive angeht, wurde allgemein festgestellt, dass der antimilitaristische Inhalt des Werkes nicht lediglich einen pazifistischen Geist widerspiegelt sondern auch eine international humanistische Denkweise ohne jegliche rassistische Vorurteile. So gesehen wurde Das Leben im Grabe (genau wie seine erste Ausgabe 1924) mit den ausländischen antimilitaristischen Prosawerken von H. Barbusse, P. Dorgelès, A. Latsko und anderen Schriftstellern in Beziehung gebracht, vor allem aber mit dem bereits weltbekannten Im Westen nichts Neues (1928) von E. M. Remarque, und es wurde ihnen ebenbürtig oder sogar als überlegen befunden.¹⁷

    Was den Erfolg und die Verbreitung des Werkes im Ausland angeht, wurde von Anfang an nahezu einstimmig gefordert, es zu übersetzen, damit es eine seiner Qualität entsprechende internationale Verbreitung erfahre. Ein charakteristisches Beispiel für die allgemeine Akzeptanz zeigen die folgenden Äußerungen von Marietta Minotou, der Herausgeberin der Zeitschrift Ionios Anthologia, aus einem unveröffentlichten Brief an Myrivilis vom 29. Juni 1930:

    Nur eines würde ich den im Ausland wohnenden Hellenisten empfehlen, die unsere Philologie und Sprache gut beherrschen, Mirambel beispielsweise, oder den Griechen im Ausland, z.B. Sophia Antoniadi, dass sie dort über Ihr Buch sprechen, wie es ihm gebührt, und es entsprechend verbreitet und in fremde Sprachen übersetzt wird.

    Wie auch die Beurteilung des Dichters Napoleon Lapathiotis:

    Ich weiß tatsächlich nicht, was passieren würde, wenn Myrivilis Ausländer wäre, in einer internationalen Sprache schreiben würde – Französisch, Englisch, Deutsch […] Das Leben im Grabe, dieser unglaublich erfolgreiche Kriegsroman […], würde genügen, dass er nicht nur zu den angesagtesten Schriftstellern aufsteigen würde (wie es bei zwei, drei ausländischen Werken geschehen ist), sondern zu etwas unvergleichlich Beständigerem: zur tiefsten Wertschätzung von wenigen, von denen […] jeder künstlerische Erfolg abhängt. Es geht um eine Persönlichkeit, die in den gebildeten Kreisen aufleuchtet und die, wegen der Sprache, in der sie sich ausdrückt, von den anderen noch nicht bemerkt wurde.¹⁸

    Der Text der zweiten Ausgabe von Das Leben im Grabe wurde, außer ins Französische, worauf schon Bezug genommen wurde, auch ins Albanische übersetzt. Die Übersetzung ins Albanische war 1932 mit einem Prolog von Myrivilis in Koritsa auf dem Markt. Die zwei ausländischen Ausgaben, die albanische und die französische, die der zweiten Fassung von Das Leben im Grabe zuvorkamen, haben, obwohl kürzer und daher zumindest unvollständig im Vergleich mit ihrem Original, dennoch ihre historische Bedeutung als die ersten Übersetzungen des Werkes. Alle anderen Übersetzungen basieren auf den Texten seiner folgenden Ausgaben und wurden viel später erstellt, 1960 und danach, in elf Sprachen: Englisch, Deutsch, Italienisch, Russisch, Rumänisch, Serbisch, Bulgarisch, Polnisch, Tschechisch, Ungarisch, Türkisch.¹⁹

    Die dritte Fassung des Werkes wurde im Dezember 1932 herausgegeben: Das Leben im Grabe (Das Buch vom Krieg), Dritte Ausgabe – Endgültige Version. Seitdem wurde das Werk weitere vier Male überarbeitet und herausgegeben: 1946, 1949, 1954, 1955. Die Ausgaben, die jetzt im Umlauf sind, sind Nachdrucke der siebten Ausgabe.²⁰ Es muss hier jedoch betont werden, dass sich die meisten und wichtigsten Unterschiede bei der vergleichenden Lektüre der Texte seiner zwei ersten Ausgaben zeigen, zumal das Werk in der zweiten Ausgabe sichtlich erweitert ist und das erzählerische Ganze umgeändert und neu strukturiert wurde. Schon ein vollkommen oberflächlicher Vergleich enthüllt, dass der Text der ersten Ausgabe aus neunundzwanzig Kapiteln besteht, während sich der der zweiten, doppelt im Umfang, über vierundfünfzig erstreckt. Aber mehr noch zeigt der Vergleich der Texte (hauptsächlich der beiden ersten, aber auch der übrigen Editionen) in den komplizierten Fragen der Struktur und der Erzähltechnik die allmähliche Entwicklung des Werkes von einer üppigeren zu einer komprimierteren Ausdrucksweise.

    Die wichtigste Frage der Forschung hat also mit der Bestimmung seines Genres zu tun. Die Frage ist also, ob der Roman eine einheitliche, umfangreiche Komposition von Erzählungen ist mit dem weiteren Ziel, einen Roman zu formen, oder einfach eine Aneinanderreihung von Erzählungen mit einem gemeinsamen Thema, wie seit 1930 manchmal betont wurde.²¹ Ich glaube (und ich werde das begründen), dass das Werk legitimerweise seine Ansprüche als schöpferische Arbeit im Rahmen der Romansprache erhebt, trotz der Entscheidung des Autors, in der zweiten Ausgabe die Genrebezeichnung »Roman« zu löschen und es mit dem neuen Untertitel »Geschichten vom Krieg« zu versehen.

    Es ist unbestritten, dass es sich um die erste ausführliche, narrative Komposition Myrivilis’ handelt, in Form des Tagebuchs eines Freiwilligen des Ersten Weltkrieges, des Studenten Antonis Kostoulas aus Lesbos, der die letzten acht, neun Monate seines Lebens in den Schützengräben der makedonischen Front erlebte. Die Entscheidung von Kostoulas, sich mit dem Schreiben eines Tagebuchs zu befassen – folglich auch der Anfang seiner Erzählung – fällt mit seiner Ankunft und seinem Sich-Einrichten im Schützengraben zusammen (»Ein Ende, das ein Anfang ist«). Wegen der Absicht jedoch, eine vollständige Darstellung seiner Kriegserlebnisse zu geben, unterbricht er fast von Anfang an seine geradlinige Tagebucherzählung und wechselt zur Gegenwart, von der aus er zurückblickt auf die Zeitspanne vom Beginn und der Entwicklung dieser Geschichte bis zum Zeitpunkt hin, an dem er beschließt zu schreiben. Indem er sich an seine »Liebste« wendet, denkt Kostoulas also erst einmal über »die Ereignisse« nach, die ihn von seiner Heimaterde bis hierher »verschlugen«, und danach beginnt er seine Erfahrungen, Gedanken und Eindrücke »vom Leben im Felde« zu beschreiben und gleichzeitig prägt er ein Bild der Überlebensumstände der gesamten Gemeinschaft seiner Mitmenschen im verheerenden Universum des Krieges. Seine Erzählung arbeitet den allmählichen, aber unaufhaltsamen Übergang dieser gesamten Menschenmasse zum Tode heraus, von dem, wie uns der Prolog des Werkes unterrichtet (»Ich durchstöberte heute die graue, kleine Feldkiste«), letzten Endes auch er selbst nicht ausgenommen wird.

    Verdichtet in der ersten Ausgabe, detailliert in der zweiten sowie auch in den übrigen Ausgaben, artikuliert sich das persönliche Erlebnis Kostoulas’ über eine Achse der folgenden kollektiven Ereignisse: die friedliche Revolution auf Lesbos zur Vertreibung des Königs und die Teilnahme Griechenlands am Krieg; die Mobilmachung, die Ausbildung und die Abreise der Streitkräfte von der Insel; ihre Ankunft und vorläufiger Aufenthalt in Thessaloniki; ihre ununterbrochenen Märsche »unter brennender Sonne und im Regen« mit der Front als Ziel; ihr Sich-Einrichten im Schützengraben erst in dritter, später in zweiter Linie; ihre vorzeitige Versetzung ins Feldlager »hinter der Kampflinie«; ihr Transport in ein neues Gebiet, in die Schützengräben in vorderster Linie; ihre Gerangel mit deutsch-bulgarischen Streitkräften; und zuletzt die Vorbereitung und das Erwarten ihres großen Angriffs (zusammen mit zwei mitstreitenden Regimenten), um eine wichtige »Befestigungsanlage« des Feindes einzunehmen. Im Rahmen dieses grundlegenden Erzählstranges finden zahlreiche Ereignisse statt, hauptsächlich nebensächliche, für gewöhnlich sich wiederholende, aber auch einmalige, die mit klarem zeitlichen Beginn durch die Abreise der Streitkräfte von Lesbos und ihrer Ankunft in Makedonien im Frühling eine Zeitspanne von acht oder höchstens neun Monaten bis zum Herbstende abdecken. Natürlich weitet sich die Gesamtheit der Erzählung aus, ohne dass sich die konkrete Zeit der Fiktion verändert. Das Tagebuch des Helden wird lediglich bereichert durch die Schilderung mehrerer Ereignisse, sowie mit der Erzählung persönlicher Erwägungen und Gedanken, wodurch natürlich beim Leser das (falsche) Gefühl längerer Dauer verursacht wird. Ein typisches Beispiel dieser Erweiterung stellen die Bilder und Eindrücke vom »Marschieren« an heißen und »ermüdenden Tagen« am Frühlingsende dar, sowie in der ersten Ausgabe, wo sie in zwei Kapitel (5., 6.) zusammengefasst sind, während sie sich in den übrigen Ausgaben auf sechs erstrecken (»Marschieren«, »Die Blinden«, »Konstantinos Paläologos«, »Der Mohnblumenhügel«, »M’chajilus«, »Die Gespensterstadt«).²²

    Die Erzählung enthält außer der persönlichen Geschichte ihres Trägers im Ganzen oder in Teilen auch die Geschichten vieler Personen, die um ihn herum leben und agieren, sei es im näheren oder weiteren Umfeld; aber ihr Handeln gehört zur Ebene seiner Beobachtung oder Erinnerung. Es sind einerseits seine Reservistenkameraden an den Waffen, und andererseits Berufsoffiziere niedrigeren und höheren Ranges, die Menschen der Armee, sowie ihre verschiedenen schmeichelnden Emporkömmlinge – zwei praktisch entgegengesetzte Welten. Es ist auch die Zivilbevölkerung, die Menschen »des friedlichen Lebens«, die entweder Einheimische von Veloushina sind, einem der nächsten Dörfer an der Front, oder von der »lieben Heimat«, Lesbos. Die »Liebste«, dauernd anwesend auch als Adressatin der Erzählung, ist die Hauptperson, die Kostoulas geistig mit seiner Heimat verbindet, indem sie ihm während seiner ganzen Leidenszeit gefühlsmäßig Kraft gibt. Sein »Bruder«, »Hauptmann der Einheit« und Mitbewohner im Bunker, Jigantis, Dimitratos und Aliberis, gehören zur Gruppe der Kriegskameraden; General Balafaras, der Feldwebel der sechsten Kompanie, Konstantinos Paläologos, der Vorsitzende des Militärgerichts und der Pope der Division stellen die harte und abscheuliche »Soldatenwirklichkeit« und ihre Pfeiler dar. Als typischer Ausdruck dieser Wirklichkeit erweist sich letztlich sogar der »Hauptmann« von Kostoulas, der einzige »Berufssoldat«, der vorbehaltlos seine Liebe und Hochschätzung erworben hatte. Der geistige Tod des unglücklichen Vassilios Aliberis am Vorabend des großen Angriffs ist der satanischen und heimtückischen Idee des »Feldwebels« zu verdanken, den Soldaten die ganze Nacht an den Stacheldrahtzaun gefesselt dem feindlichen Feuergefecht auszusetzen, um ihm die Angst auszutreiben (»Aliberis verlernt die Furcht vor Granaten«). Das eingeschobene Erscheinen der gastfreundlichen Bauernfamilie im Vordergrund der Handlung, vor allem der liebevollen Antscho und ihrer jungen Tochter Giweso, bildet zwischenzeitlich einen Ausgleich durch die andere Ansicht der Dinge – und betont sie gleichzeitig stark (»Im Haus der Güte«, »Das Urteil des Herrn«, »Zavali majko«).

    All diese Charaktere, sowie eine Vielzahl anderer weniger wichtiger, erscheinen in der ersten genauso wie in den übrigen Ausgaben, jedoch mit vielen interessanten Unterschieden, die das positive Ergebnis einer kompletten und vielschichtigen Überarbeitung bezeugen; es reicht zu erwähnen, dass bestimmte Charaktere, über die in der ersten Ausgabe nur geredet wird, in der zweiten sowie in den übrigen Ausgaben zu Persönlichkeiten werden. Mehr noch, die von Anfang an gut gezeichneten Skizzen entwickeln sich zu meisterhaften Portraits.²³ Ab der zweiten Ausgabe erscheinen auch viele mehr oder weniger wichtige neue Figuren. Das sind Jakop, »M’chajilus«, Zafiriou der Hellene, Assimakis Garufalis, Dimitrios der Gedrungene und eine Vielzahl anderer, ein jeder mit seiner Geschichte oder Biographie.²⁴

    Die Geschichten der anderen, der Kameraden und der, die es nicht sind – sie sind meistens Nebenprodukte der »Neugierde« des Erzählers, die er selbst »Sucht nach Lektüre« nennt (S. 153). Natürlich entwickeln sich alle im Spielraum seiner eigenen Geschichte: der letzten und wichtigsten »Tat« seines Lebens, die ausgedrückt wird, als sie »passiert«. Ein Stück Autobiographie also in einem persönlichen Tagebuch. Im vorliegenden Fall erstaunt die Präsenz der »Liebsten« als Adressatin des Textes gar nicht.²⁵ Außerdem wird sie als die ausschließliche Leserin des Tagebuchs bestimmt. Sie ist die dem Beichtenden am nächsten stehende Person, die einzig angemessene, »im Schatten des Todes« von den erschütternden Erfahrungen unterrichtet zu werden (S. 172, 186):

    Von Einsamkeit erschöpft, habe ich mir überlegt, Dir ab und zu meine Eindrücke aus diesem neuen Leben zu schildern. Ich werde Dir — sofern mir Zeit und Mut bleiben — schreiben, einfach um mich mit Dir zu unterhalten. Es ist tröstlich zu wissen, dass ein vertrauter Mensch bei einem ist, wenn man die kritischsten Momente im Leben durchlebt. Jemand, der einen versteht, der mit einem kommuniziert. […] Erwarte nicht, aus den Feldpostkarten irgendetwas über meine tatsächliche Existenz zu erfahren. Briefe aus dem Graben zu schicken, ist nicht erlaubt. Nur diese blauen gedruckten Karten mit dem Evzonen drauf: »Postbezirk 906: Mir geht es gut. Ich grüße Dich.« (S. 41).

    Es ist offensichtlich, wie dieser aufrichtige, einseitige Dialog die grundlegende Konversation sicherstellt oder wieder aufnimmt, das heißt, all das, was der wirkliche, aber herkömmliche Briefwechsel nicht schafft. Zusätzliches Zeugnis ist diese Antwort hier, in »Ein Brief von der Insel«:

    Heute hat mir mein Bruder einen riesigen Brief von Dir gebracht, ein ganzes Paket. Er hat ihn von einem Soldaten, der […] von der Insel kam. […] Ich lese ihn wieder und immer wieder und kann nicht genug kriegen. […] Mit der Feldpost kommen solche Seligkeiten nicht. In Deinen ersten Briefen, die ich erhielt, waren eine Menge Streichungen, Schnitte und Bemerkungen der Zensur. Und jedes Mal haben diese Esel für mich den Vermerk hinzugesetzt: Schreiben Sie dem Absender – damit bist Du gemeint, Liebling – er möge sich auf das Kürzeste beschränken, da die Briefe anderenfalls von der Zensur nicht angenommen werden können. (S. 273)

    Die Flucht ins Schreiben als Kompensierung der vollkommenen Isolierung im Schützengraben stellt nicht nur für den Erzähler ein Ausdrucksmittel dar, sondern ist ein generelleres Phänomen:

    Einige schreiben auch Tagebücher. Andere verfertigen seltsame, illustrierte Liebesbriefe, wie sie die Sträflinge verfassen. […] Diese Briefe werden ständig in den Briefkasten der Kompanie geworfen und ständig von der Zensur zerrissen. (S. 122)

    Folglich könnte man behaupten, dass sich das Tagebuch- und Briefeschreiben mit gegenseitigem Einfluss und auf vielfältige Weise überschneiden und dass sie kombiniert werden, wodurch es zu einem unbestimmt gemischten, zulässigen Genre wird. Das heißt, der Ich-Erzähler mit Adressat zielt hier nicht nur auf den »Ausdruck«, sondern auch auf die »Kommunikation«.²⁶ Der Autor selber charakterisiert den Text im Prolog der ersten Ausgabe als »eine Art Tagebuch, aber ohne Datumsangaben und ohne Ort, an dem es geschrieben wurde«, in den anderen Ausgaben hingegen »als eine Art Briefe an eine junge Frau« (S. 38); der Unterschied in Zusammenhang mit den Umschreibungen bezeugt seine anfängliche Verlegenheit, exakt diese Kopplung festzulegen. Die Umschreibungen legalisieren sogar von selbst die Abweichungen von den Prinzipien, die die Tagebuch- oder auch die Briefsprache steuern. Die Übertretung des Prinzips, täglich einzuschreiben, sowie die Ortsabfolge einzutragen, lässt sich einleuchtend den außergewöhnlichen Umständen zuschreiben:

    Daten und Ortsbezeichnungen schreibe ich nicht auf. Für uns gibt es so etwas nicht mehr. Hier sind alle Tage gleich in ihrer Hässlichkeit. Kein Merkmal hebt das Aussehen oder die Bedeutung eines Tages vom anderen ab. […] Das gleiche gilt für die Ortsbezeichnungen; fremd klingende Worte, Symbole, Buchstaben und Zahlen; Zeichen, die nur auf den Generalstabskarten eine Bedeutung haben. […] Die Zeit ist stehengeblieben, die Erde dreht sich nicht mehr. Die Monate sind durcheinander geraten. Die Tage haben keine Namen mehr. Es gibt keine Feiertage mehr. Als gäbe es weder Tag noch Nacht. (S. 43)

    In Kostoulas’ ›Manuskripten‹ spielen sich die »eindrücklichen Momente« der Gegenwart nacheinander ab, aus der begrenzten Perspektive der Zeit, die zwischen jedem Eintrag liegt. Wegen der Zeitabstände, die dem unregelmäßigen Eintragen geschuldet sind, fassen die Notizen gewöhnlich nicht nur die Ereignisse des Tages zusammen, an dem sie verfasst werden. Manchmal gibt es größere Sprünge in Ort und Zeit; ein typisches Beispiel ist die »Szene« mit Assimakis Garufalis auf dem Marsch. Bestimmte Notizen, soweit es den Inhalt betrifft (einmalige Erlebnisse in Zusammenhang mit Charakteren, die nicht wieder auftauchen), ihre Komposition und ihr Umfang bilden praktisch Erzähleinheiten, die relativ eigenständig sind (»Im Wald«, »Opfer an die Sonne« u.a.). Dennoch wird die Erzählform der linearen Reihenfolge der Ereignisse angepasst, gemäß den Regeln und Vorgaben des Romantagebuchs oder auch des Briefromans.²⁷

    Das Unternehmen Kostoulas’, die Kriegseindrücke aufzuschreiben, geht über die Grenzen eines persönlichen Tagebuchs hinaus. Aber auch hier, wie in den meisten Texten dieses Genres, wechseln sich Wirklichkeit und persönliche Gedanken ab (sehr häufig sind die Ausdrücke »Ich denke an«, »Ich überlege«), und es überwiegt klar die äußere Welt mit den vielzähligen Personen und den unzähligen Ereignissen. Die Selbstbeobachtung wird auf Eis gelegt. Noch etwas: Im vorliegenden Fall ist die persönliche Erfahrung gleichermaßen eine Gruppenerfahrung oder umgekehrt (»Kadaver«, »Beim Graben«, »Im Schlamm« etc.). Mit anderen Worten, parallel zum bekennenden »Ich« existiert und wird betont das »Wir«, die »Grabengemeinschaft« (S. 179). Folglich stellt das Tagebuch Kostoulas’ ein authentisches Zeugnis mit objektivem Wert dar: Es ist »Die wahre Geschichte eines Soldaten« (S. 361).

    Den Wert und das besondere Interesse des Tagebuchs als Zeugnis bringt der Autor, im Gewand des Herausgebers, selber als Vorwand für seine Veröffentlichung vor. Laut dem Prolog entdeckt Myrivilis die Manuskripte zufällig und beschließt, sie zu verlegen. Es handelt sich um das für den Tagebuchroman übliche »Wort des Herausgebers«.²⁸ Somit wird die Identifizierung des dramatisierten Erzähler-Protagonisten mit dem Schriftsteller durch den Leser umgangen, aber hauptsächlich wird die Echtheit der außergeschichtlichen »Wirklichkeit« im Rahmen des realistischen Schreibens unterstrichen.²⁹ Ein Trick also, das »Wort des Herausgebers« – mutmaßlich viel später als das Tagebuch oder die Briefe geschrieben, enthält es Informationen über den Zustand und das Aussehen der Manuskripte sowie über ihren Verfasser und Herausgeber. Es schafft eine Fortdauer oder Erweiterung der Fiktion, weil es die unvollendete Geschichte des Erzählers ergänzt und abschließt und gleichzeitig ihre Glaubhaftigkeit stärkt: Stratis Myrivilis, früher Kriegskamerad von Antonis Kostoulas, enthüllt hier detailliert als Augenzeuge das bedauernswerte Ende seines Kameraden während des Wartens auf die große Schlacht. Es ist hervorzuheben, dass Myrivilis sich mit seiner Eigenschaft als Kriegskamerad mitten im fiktiven Universum befindet, obwohl er nicht einmal dem Namen nach in der Erzählung von Kostoulas vorkommt.

    Die hier erwähnten Dinge führen, wie ich denke, zu dem Schluss, dass die persönliche Kriegserfahrung bereits in der ersten Ausgabe des Werkes (1924) auf meisterhafte Weise zu einem Roman verarbeitet wurde, einer Ausgabe, die die standesamtliche Geburtsurkunde einer Schriftstellerkoryphäe darstellt. Die vergleichende Lektüre bestimmter Fragen der Technik, die hier kurz unternommen wurde, zeigt den Prozess des Werkes von einer relativ einfachen zu einer komplexen Form auf. Das Leben im Grabe, ein vielgliedriges Werk, absolut im Einklang mit der Art der Sprache, die sein Schöpfer wählte, um sich auszudrücken, widersetzt sich de facto der komplexen erzählerischen Logik. Nur in diesem Rahmen könnten die entsprechenden Einschätzungen der Literaturforscher und -kritiker dieses Romans für stichhaltig erachtet werden.

    Niki Lykourgou (Aristoteles Universität Thessaloniki)

    Übersetzung: Lulu Bail

    1

    vgl.NikiLykourgou, Σχεδίασμα χρονογραφίας Στράτη Μυριβήλη (1890-1969)[Eine chronologische Skizze über Stratis Myrivilis (1890-1969)], Athen 1990, S. 17-28 (im Folgenden: Chronologische Skizze).

    2

    Füreinen Überblick überdieKritikenvgl. NikiLykourgousΗζωήεντάφω: Από την πρώτη στη δεύτερη έκδοση [DasLebenimGrabe: VondererstenzurzweitenAusgabe] in: ΣτράτηςΜυριβήλης, Ηζωήεντάφω. Ιστορίες του πολέμου), ανατύπωση της β΄έκδοσης (Αθήνα 1930) [DasLebenimGrabe. Geschichten vom Krieg; Nachdruck der 2. Ausgabe, Athen 1930], Athen 1993, S. 550-551 und 565-581 (im Folgenden: Das Leben im Grabe, Anhang).

    3

    vgl. Niki Lykourgou, «ΟΣτράτηςΜυριβήληςστονΠρώτοΠαγκόσμιοΠόλεμο: στρατιώτης – πολεμιστήςκαιδημοσιογράφος – ανταποκριτής» [Stratis Myrivilis im Ersten Weltkrieg: Soldat und Kämpfer, Journalist und Berichterstatter), Kondyloforos, Thessaloniki, 6 (2007) 51-78 (im Folgenden: »Myrivilis im Ersten Weltkrieg«).

    4

    vgl.Myrivilis, «Αντί χρονογραφήματος. Από την εκστρατεία. Μια μεγάλη μέρα της ζωής μου» [AnstelleeinesFeuilletons. Vom Feldzug. Ein langer Tag meines Lebens], Eleftheros Logos, Mytilini, 19.9.1916 und »Myrivilis im Ersten Weltkrieg«, S. 66-67.

    5

    vgl.Myrivilis, «Σαν χρονογράφημα. Γιατί έχασε το βήμα» (WieeinFeuilleton. Warum er den Schritt verfehlte. Eleftheros Logos, Mytilini, 28.9.1916 und »Myrivilis im Ersten Weltkrieg«, S. 68.

    6

    vgl. Myrivilis, «Τοστρατιωτικόμουημερολόγιο» (Mein Soldatentagebuch), Eleftheros Logos, Mytilini, 19.5.1917 und »Myrivilis im Ersten Weltkrieg«, S. 71.

    7

    Ebd., S. 75-76.

    8

    Mehr zur Zeitschrift Nea Ellas vgl. Das Leben im Grabe, Anhang, S. 545-546.

    9

    Ρεπ (= Reporter = Angelos Doxas), «ΜίασυνέντευξιςμετονΈλληναΡεμάρκ» (Ein Interview mit dem griechischen Remarque), Patris, 19.12.1930.

    10

    Mehr dazu vgl. Das Leben im Grabe, Anhang (ebd., Anm. 2), S. 548-550.

    11

    Ebd., S. 550-551.

    12

    Mehr dazu vgl. Das Leben im Grabe, Anhang S. 552-555.

    13

    vgl. Myrivilis, «Σκηνέςαπ’ τ’ αντίσκηνο» (Szenen aus dem Zelt), Salpix, Mytilini, 3.1.1916 und »Myrivilis im Ersten Weltkrieg«, S. 52-53.

    14

    vgl. Myrivilis, »Wie ein Feuilleton« Eleftheros Logos, Mytilini, 28.9.1916 und »Myrivilis im Ersten Weltkrieg«, S. 53.

    15

    Mehr dazu vgl. Das Leben im Grabe, Anhang S. 555-567. Die Übersetzungsarbeit von Protopatsis wurde in Paris im April 1933 herausgegeben (Strati

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