Zwischen Menschlichem
Von Dagmar Herrmann
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Über dieses E-Book
Es sind zufällige Begegnungen, nachbarschaftliche Techtelmechtel, Missverständnisse, Unverständnis zwischen den Generationen und Ressentiments, die überzeugend dargestellt werden. Kindheitswelten zeigen auf, dass diese von entscheidender Wichtigkeit auch für Erwachsene bleiben. Märchenhaftes steht neben Hinweisen auf die literarische Tradition.
Einmal reflektiert Dagmar Herrmann, sie habe diesen Text "aus den Fingern gesogen und kein Wort ist wahr oder erlogen." Sagen und Märchen erhalten eine Auffrischung und einen Bezug zur Erzählerin, der Undine und die Meermaid musenhaft einflüstern. Dagmar Herrmann schreibt frisch und manchmal mit jugendlichem Elan, der literarischen Tradition eingedenk, die Moderne locker damit verbindend. (Aus dem Vorwort von Rudolf Weiler, Zürich)
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Buchvorschau
Zwischen Menschlichem - Dagmar Herrmann
Zwischen Himmel und Erde
Des Schicksals Fügung
Die seltsame Frau Tück
Abseits einer Kindheit
Hanussen und der freie Geist
plötzlich steht die welt auf dem kopf
Mutter und Kind
Der geheimnisvolle Schulweg
Märchenzeiten
Schneewittchen − Warten auf das Ende
Das Experiment
Durch dick und dünn
Das Märchen vom Anderen
es geht im kreis herum – draußen vor der tür
Manchmal geschehen auch Dinge,
die man kaum glauben kann
Schneewittchen – od. das Warten hat ein ENDE
Wenn ich ein Vöglein wär …
Etwas Farbe!
Fidelbumm Pankok
oder Eine gescheiterte Ballonfahrt
Der Mann, der eigentlich
nicht mehr leben wollte
Schönheit schützt vor Mord nicht
Als Letzte in einem Viehtreck gen Goldenen Westen
Der sturm hatte mich gepackt
Undines Rückkehr
Das Geheimnis um den Spökenkieker
Blues – grenzüberschreitende Begegnung
Nach langer Zeit …
Das Leben ein Traum
Das Erwachen der Steine
traum ohne deutung
Am Schuppen 111
In drei Kapitel schauriger Moritat
Brückenschlag
Gelber Ginster
Die Rote Hex
Ein Gebet
Danksagung
Mehr über uns:
Dagmar Herrmann
Miriam C. Esdohr
Zwischen Himmel und Erde
Es ereignen sich mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Eine solche jeder Schulweisheit widersprechende Begebenheit ist mir vor kurzem in der Straßenbahn widerfahren.
Ich sitze in der Linie 10 Richtung Bahnhof auf meinem Weg zur zweimal in der Woche stattfindenden Psychotherapie, und schon vermeine ich, die unausgesprochenen Ahas zu vernehmen, und kritzele, wie so oft unterwegs, in meine Kladde, meine nähere Umgebung nur vage wahrnehmend.
Nach einer Weile beginne ich unruhig zu werden und bin nicht mehr imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich fühle mich beobachtet und blicke auf. Mir gegenüber sitzt bewegungslos ein Kind, etwa acht bis zehn Jahre alt. Aus einem hellen schmalen Gesicht, die fast durchsichtige Haut durchziehen feine blaue Äderchen, starren mich kohleschwarze Augen an, dunkel und unergründlich wie ein tiefer Brunnen. Schulterlange braune Locken fallen auf die zarten Schultern, die ganze Gestalt wirkt blässlich und zerbrechlich, und trotzdem geht eine ungeheuer anziehende Wirkung von ihr aus.
Ich lasse meine Kladde Kladde sein, setze mein freundlichstes, vertrauenerweckendstes Lächeln auf und frage, da ich viel mit Kindern zu tun hatte: „Kennen wir uns?"
Das Kind antwortet mit tonloser Stimme, doch klar und deutlich: „In gewisser Weise schon."
Mir wird ein wenig beklommen und bin erstaunt über die unkindliche Ausdrucksweise.
Da nestelt es aus einer unmodischen Windjacke in verschlissenem Weiß eine Pappschachtel hervor und überreicht sie mir mit den Worten: „Ich habe etwas für dich. Bitte gib gut acht darauf."
Verdattert nehme ich die Schachtel an mich. Wir befinden uns kurz vor der Haltestelle Utbremer Post. Das seltsame Kind erhebt sich abrupt, ich frage noch hastig in den bereits abgewandten Rücken hinein:
„Wohin gehst du?", da dreht es sich noch einmal um.
Es scheint eine Art Leuchten von ihm auszugehen, als es jetzt mit klangvoller Stimme antwortet:
„Dorthin, wo ich Gott näher bin",
steigt aus und verschwindet aus meinem Blickfeld.
Ich wundere mich, dass seine Worte bei den anderen Fahrgästen keinerlei Aufmerksamkeit erregen, aber sie blicken wie immer unbeteiligt vor sich hin oder hinaus.
Als die Bahn wieder anfährt, höre ich plötzlich Reifen aufheulen und Bremsen kreischen. Mir fährt der Schreck in die Glieder und ich denke, dem Kind könne etwas zugestoßen sein. Ich mache einen langen Hals und spähe aus dem gegenüberliegenden Fenster, doch sehe nur einen wild gestikulierenden Autofahrer, der schimpfend und kopfschüttelnd hinter seinem Lenkrad sitzt; doch von dem kleinen Fahrgast weit und breit nichts, und ich lehne mich erleichtert zurück in meinen Sitz.
Da liegt nun auf meinen Knien die unscheinbare Schatulle, himmelblau und schon etwas abgestoßen an Ecken und Kanten. Sie ist so federleicht, dass es sich anfühlt, als sei sie leer. Meine Neugier ist geweckt und ich öffne sie etwas zaghaft. Drinnen liegt nichts als ein einziges, eng beschriebenes Blatt Papier. Ich krame umständlich aus meinem Allzweckbeutel meine Lesebrille hervor und lese:
„An dich und alle, die ich erreiche.
Ich bin ein Engel. Mein Name ist Jeremiah. Als Mensch wurde ich im Alter von acht Jahren von einem Auto überfahren und war sofort tot. Kinder in meinem Alter kommen mit unbeschadeter Seele geradewegs in den Himmel. Im Himmel ist es wunderschön und überhaupt nicht langweilig. Es gibt dort noch eine Menge anderer Kinder, und keines sehnt sich zur Erde zurück. Die meisten haben so gut wie keine Erinnerung, wie es dort gewesen ist.
Wir spielen und machen Sachen, die uns Freude bereiten. Ich saß oft stundenlang auf einer blumenübersäten Wiese im Sonnenschein und spielte Geige, um mich herum schwirrten Vögel und flügelten Schmetterlinge. Nun, das nur nebenbei.
Doch trotz allem plagte mich die Neugier, wie es dort unten bei den Menschenkindern wohl sein möge.
Darüber wurde ich ganz schwermütig, und der Oberengel Ursula begann, sich Sorgen zu machen. Eines Tages sagte sie zu mir:
„Jeremiah, ich habe mit dem Großen Geist gesprochen, der die Erlaubnis erteilt, deine Sehnsucht und Neugier zu stillen. Du darfst für eine befristete Zeit, deren Dauer du selbst bestimmst, zur Erde zurückkehren."
Voller Erwartung und Freude trat ich die große Reise an, ausgestattet mit den nötigen Gaben, über die nur Geistwesen verfügen, die mich vor Gefahren schützen und mich zu gegebener Zeit wieder zurückbringen sollten.
Ich verlor jedoch wegen der vielen Raumflugkörper und den Unmengen von Müll, die den Weltenraum unsicher machen, die Orientierung. Deswegen weigern sich mittlerweile die meisten Engel, die Erde zu besuchen, wie sie es eh und je getan hatten, um braven frommen Menschen Trost zu spenden und Erleuchtung und Wegweisung zu erteilen.
So schlug ich anstatt wie vorgesehen an einem friedlichen Ort, einer Kirche, einem Park oder einem Friedhof, etwas unsanft auf dem Pflaster einer belebten Straße auf, durch die Autos dröhnten und rasten, Bahnen bimmelten und Massen von Menschen wimmelten.
Dort befand sich ein großes, recht hässliches rechteckiges Gebäude, in welches all diese Leute strömten, und ich folgte ihnen in der Annahme, dort müsse etwas recht Schönes und Erbauliches geschehen.
Ich war ziemlich verwirrt, denn drinnen gab es nur allerlei Läden, aus denen sie sich Kleider und Schuhe und Schmuck holten und dann in großen Tüten herumtrugen. Als ich vor einem Fenster mit Spielwaren stand, kam eine Gruppe von Mädchen und Jungen heran.
Sie schubsten mich und sagten:
„Was bist du denn für ein Spasti? Woher hast du die Klamotten, vom Müll? Rück mal dein Händie raus", sagten sie, und ich wusste nicht, was gemeint war. Da haben sie mich geschüttelt und zu Boden geworfen und meine Taschen durchsucht.
„Voll das Opfer!", riefen sie und ließen von mir ab. Es hat aber niemanden von den Leuten gekümmert.
In einem Laden stand eine lange Schlange von Menschen. Ich ging hinein und stellte mich hinten an. Ich wusste nicht, was passieren würde. Alle warteten, bis sie an einen Tisch mit einer Frau kamen. Dort stellten sie Sachen, die sie in einem Wagen spazieren gefahren hatten, ab, und die Frau nannte Zahlen. Da begriff ich, dass sie Waren kauften und bezahlten.
Da stieß mich ein großer Mann mit einem gewaltigen Bauch von hinten an und sagte:
„Zwerg, was hast du hier verloren. Du hast ja nichts dabei, nimm den Leuten nicht den Platz weg."
Er hatte ja recht, und ich wusste auch wirklich schon gar nicht mehr, was ich hier wollte.
Ich wollte schon gehen, als ich hörte, wie die Frau am Tisch ein sehr altes Weiblein in grobem Ton anfuhr:
„Nun machen Sie schon, wir können ja nicht ewig warten."
Mit zitternder Hand versuchte die Alte aus ihrem Täschchen die Münzen zusammenzuklauben, da fielen sie ihr aus der Hand und die Frau hinter dem Tisch wurde fuchsteufelswild.
„Wir sind doch hier kein Altersheim. Mit was für ein Gesocks ich mich rumschlagen muss, das glaubt kein Mensch!"
Da bin ich hingegangen und habe sie ganz ernst angesehen und ihre Hand genommen und gesagt:
„So spricht man nicht mit einer alten Frau, Sie sehen doch, dass sie hilflos ist."
Da ist sie ganz aus der Haut gefahren und hat geschrien:
„Was willst du denn, du Windei? Scher dich weg, bevor ich dich fortblase."
Da lachten die Umstehenden und murmelten:
„Ach Gott ja, die Kinder wollen heute auch immer mitreden."
Schnell bin ich weitergegangen und kam an einen Stand mit bunten Heften.
Da dachte ich mir, da wären vielleicht schöne Bilder von den Menschen mit Häusern und Gärten, und wie sie so lebten, denn ich glaubte nicht, dass alles so wäre auf Erden wie hier in diesem Gebäude.
Aber ich wurde so traurig und habe heftig geweint, als ich ein Bild von unserem lieben Herrn Jesus sah, eine brennende Zigarre im Mund und ein Glas Wein in der Hand und an seiner Seite eine Frau mit entblößtem Oberkörper, und es stand darunter auch etwas geschrieben, aber meine Augen waren voller Tränen.
Ich wandte mich ab und rannte so schnell ich konnte fort. Als erstes stieg ich in diese Bahn, die gerade vorbeikam. Da traf ich dich und dir vertraue ich alles an.
Ich weiß nicht, was du damit anfangen wirst, wahrscheinlich wirst du auch genauso traurig werden wie ich. Aber vielleicht kannst du versuchen, etwas zu ändern.
Jeremiah, der für dich ein gutes Wort im Himmel einlegen wird." –
Ich war zutiefst erschüttert und konnte gar nicht schnell genug meine rollenden Tränen aus dem Gesicht wischen. Mich wunderte nur, dass alles auf eine Seite des Papiers gepasst hatte.
Des Schicksals Fügung
Inspiriert von einer Geschichte aus dem
Buch „Madita" von Astrid Lindgren.
Margot bettet Jockel in eine der großen Zigarrenkisten, die sie von Onkel Friedrich abgestaubt hat. Die Unterlage aus weicher blauer Watte aus Mutters Kosmetikbeutel dient als Matratze. Liebevoll deckt sie ihn mit einem hellbraunen Stückchen Samt zu, das sie aus einem abgelegten Sofakissen geschnitten und gesäumt hat. Margot liebt ihren Jockel