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Menschenlos: Zehn Geschichten über Mord und andere lebensrettende Maßnahmen
Menschenlos: Zehn Geschichten über Mord und andere lebensrettende Maßnahmen
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eBook345 Seiten4 Stunden

Menschenlos: Zehn Geschichten über Mord und andere lebensrettende Maßnahmen

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Über dieses E-Book

Zehn Kurzgeschichten, die Profile von Tätern und Opfern versammeln, deren Eigensinn bizarre Todesfolgen hat - oder in denen Menschen teils absonderlich auf absonderliche gesellschaftliche Zustände reagieren. 1. Ein nicht nur um Flora und Fauna sondern überhaupt um das Überleben der Welt besorgter Ökofreak kommuniziert mit den wahren Schöpfern des Universums und zieht drastische Konsequenzen bezüglich der Verursacher eines drohenden Unheils... 2. Eine missbrauchte Frau entledigt sich nicht nur ihres Vaters sowie ihrer Mutter, die sie nicht geschützt hat, sondern später noch weiterer Missbraucher...3.Ein ehemaliger Student der Geisteswissenschaften, den merkwürdig auffällig das Pech verfolgt, rächt sich an jenen, die ihn verraten haben... 4.Ein Mädchen, das wirklich Klavier spielen kann und das sich weigert, an Casting Shows teilzunehmen, spricht nicht mehr mit ihren Altersgenossen sondern lieber mit alten Berühmtheiten - eine Arroganz, die nach Bestrafung schreit...5. Ein kleiner Zuhälter wird unheimlich reich und will ein unverkäufliches Bauwerk erwerben; seine Frau sieht eine moralischere Verwendung für den prekären Reichtum...6. Ein Hartz-IV-Empfänger kämpft mit Briefen gegen Behörden und schreibt ein an Goethe angelegtes Theaterstück, in dem er sich als womöglicher Massenmörder outet; natürlich muss man ihn aufhalten... 7. Ein pubertierender Junge entledigt sich eines Mitkonkurrenten um eine Angebetete und bringt danach noch eine weitere Sache in Ordnung. 8. In einem in fröhlich sozialdemokratischem Schweinchenrosa getünchten Jazzclub weht ein merkwürdig autoritärer Wind, der eher an braune Zeiten gemahnt; als ein junger Musikschüler Hintergründe aufdeckt, wird es brenzlig... 9. Eine zeitgenössische Günderode sowie ein sozial isoliertes Pärchen leiden an der Not der Zeit; das Paar hat wenig Hoffnung, er findet eine Lösung, die Romantikerin auch... 10. Er sucht sie, sie findet ihn, zuerst vor allem großartig.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. Juli 2014
ISBN9783847687252
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    Buchvorschau

    Menschenlos - Wolfgang Dahlke

    1 Der Indianer oder: nichts als ein Modellversuch

    Taternbruch

    Er hatte anlässlich seines Fünfzigsten eine Feier geplant. Es gab am Hang eines der Hügel der bis an die Stadt grenzenden Mittelgebirgskette einen Steinbruch. Manche fanden diesen idyllisch, andere bezeichneten ihn gar als anheimelnd... einigen jedoch schien er unheimlich. Wenn es stimmte, dass es Energiepunkte gab, die Menschen anzogen, dann, fand er, wäre der Taternbruch einer.

    Ein Geschichtsort war er allemal. Hatte man einen zu Beginn des Sechzehnten Jahrhunderts offenbar schon stillgelegten Steinbruch mit einem mittelalterlich anmutenden Namen belegt, der zudem auf eine längere Geschichte verwies, musste der Ort unheimlich alt sein.

    Unheimlich, wie gesagt, war er manchem sowieso. Allerdings vorrangig, war man hier allein - nachts insbesondere. Saß man aber vorm knisternden Lagerfeuer eng zusammen, redete, sang, trank und aß von Stockspitzen Kartoffeln aus der Glut, hörte den Wind in den Bäumen rauschen, Tiere im Gebüsch, die letzten Vögel im Laub der Bäume rascheln, wurde er all das, was Cameo Abyme als Kind in den Häusern seiner Großeltern als Inbegriffe der Gemütlichkeit und Geborgenheit kennengelernt hatte: Küche mit warmem Kachelofen. Stube mit weichen Sitzpolstern auf dem Boden und einem Sofa mit ausgeleierten Spiralfedern, in dem man versank. Klöndeele, wo Opas, Omas, Tanten, Onkel, sonstige Verwandte und Nachbarn bei Kaffees und Likören, in blaue Rauchschwaden gehüllt über Geschäftliches durcheinander palaverten, während im Musikschrank Beethovens Eroica holprig schraulte.

    Tagsüber fielen verhalten vereinzelt Sonnenstrahlen in das Rund aus schroffen, scharfen Schieferklippen, weichen Mooshängen, elend einsamen knorrigen Birken und satten Matten von Raugras. Dessen Blätter konnten die Haut blutig ritzen. Die Leute der Gegend hatten es darum Schneidegras getauft. Blies man die scharfen Kanten kräftig an, konnte man auf den Blättern, zwischen die Daumen gepresst, machmal Sopransax- meist jedoch nur Frosch-ähnlich quänglich quäkende Kazoogeräusche hervorbringen.

    Stand man in der Mitte des Steinbruchs, war man rundherum, wie in einem Amphitheater, überall erstaunlich gut zu hören. Wie er (früher Leo, heute Cameo Abyme) jetzt gerade, in diesem Moment. Taucher alias Walther hatte ihm aus dem Holz eines zerfallenen Jägerstands ein erstaunlich robustes Lesepult mit schrägem Manuskripttisch, Sitzbank und sockelähnlicher Erhöhung gezimmert. Man hörte ihn überall gut, vorausgesetzt, es röhrte keine enervierende muzak aus mitgebrachten Transistorradios.

    Selbst die wenigen, die auch hier dauer-erreichbar sein zu müssen glaubten, hatten wenigstens ihre doofen Handyjingles durch tonloses Buzzen ersetzt. Und dämpften jetzt zumeist wenigstens (nahmen sie doch eines dieser entsetzlich dämlichen reach me any time any place- Nonsensegespräche an) ihre rostig krächzenden Analog-Kommunikationsorgane. Nachdem Cameo ein paarmal einfach Klappe jetzt! gebrüllt hatte.

    Cameo hatte das bisweilen kopfschüttelnd beobachtet, in der Welt der Alltagsexistenzen, die sich auf den Kunden im Menschen hatten reduzieren lassen: Leute kamen zusammen in ein Café, setzten sich an einen Tisch, um dann jeder für sich mit einem Nicht-Anwesenden in einer Art und Weise dreistlaut dummzutexten, dass er den Eindruck gewann, sie wussten nicht, was sie redeten. Oder es war ihnen schnurzpiepe. Er hatte für die laute sinn-imitierende Hohlrede den (vom lateinischen Begriff für Papagei abgeleiteten) Terminus Psittakismus geprägt. Interessant immerhin, dachte Cameo, dass andere Kultursprachen wie das Französische und das Englische für ebendieses Phänomen der Rede ohne Gehalt ganz ähnliche Begriffe bereits besaßen - nur eben wir nicht. Na jedenfalls, wer hier in sein Handy blökt und ihm damit auf den Sender geht, hatte Cameo verlauten lassen, der kann sich gleich wieder verpissen!

    Keiner kam außerdem mit einem Auto, Motorrad oder Moped. Auch kein Düsenjäger schnitt dröhnend weiße Streifen in die blaue Firmamentdecke. Aber das war eine andere Geschichte ? darauf hätten sie ja ohnehin keinen Einfluss gehabt.

    Insofern, nach kurzer freundschaftlicher Begrüßung aller Gäste durch Leo, alias Cameo Abyme, und einer kleinen Festansprache auf das Geburtstagskind, die Freund Ulle, alias Ulrich, hielt, die erste Erzählung bereits zu bester Wanderzeit ab circa 16 Uhr am Nachmittag des Geburtstages, am Donnerstag dem 17. Juni, stattfand, kam es während seines freien Vortrags der ersten Geschichte zu diversen Störungen.

    Einmal wunderte sich eine laut krakeelend hereinströmende, blau uniformierte Motor-Fahrradgruppe ebenso laut, dass eine sehr ärmlich gekleidete Gruppe von augenscheinlich beschäftigungslosen Altfreaks eine vermutlich politisch motivierte Geheimveranstaltung an just jenem Ort abhielt, an dem sie in vierzehn Tagen ihr Firmenjubiläum zu zelebrieren gedachten. Und sie befürchteten, dass durch ebendiese Veranstaltung ihr Partyrefugium gewissermaßen entweiht werde. Allein schon durch den Umstand, dass es denen (offenbar ohne finanzielle Auflagen) einfach so verfügbar war. Was eine mittelgroße kommunalpolitische Schweinerei darstellte!

    So war es denn auch nicht überaus verwunderlich, dass gegen vielleicht 18 Uhr eine Kleindelegation städtischer Ordnungshüter den Veranstalter zu sprechen begehrte. Oder einen sonstwie Verantwortlichen!

    Man war auf Toto, die stattlichste Figur unter den Umstehenden, zugeschritten. Der schüttelte den Kopf und wies Richtung Bühne (legte dabei den Zeigefinger über die Lippen: schließlich sprach er gerade, der Verantwortliche!) Das kümmerte niemand, man unterbrach schroff.

    Wie heißen Sie?

    Cameo!

    Nur Cameo?

    Cameo Abyme!

    Das ist kein Name, wie er richtig heißt!

    Leo!

    Nur Leo? Wie noch?

    Bothe! Wieso?

    Wer die Veranstaltung genehmigt habe.

    Der Förster!

    Der ist nicht befugt! Gibt es ein amtliches Formular?

    Nein!

    Dann dürfen wir Sie bitten, den Platz noch heute Abend zu räumen!

    Wird er denn gebraucht?

    Das steht hier nicht zur Debatte! Wenn Sie keine Genehmigung haben, sowieso schon mal nicht. Also, gehen Sie bitte!

    Warum denn?!

    Weil, erläutert einer der Abgesandten einfühlsam kulant (er müsse diese Auskunft zwar nicht geben, nur): es finde hier ab morgen über's Wochenende (ob sie das denn nicht in den Ankündigungen gelesen hätten?) das von DeadHead Concerts alljährlich veranstaltete Ein bunter Topf überlebter... äh...

    Nein, Quatsch, mischt ein weiterer Offizieller sich ein: "Ein bunter Strauß beliebter Heimatmelodien...!"

    Genau. Das findet hier ab morgen statt. Gäste sind Inge und Heinz ... oder so, wie heißen die nochmal, Kurt?

    Gabi und Alexander, oder?

    Marianne und Michael! sagt ein Dritter.

    Um es kurz zu machen: Trotz der bereits eintretenden Abenddämmerung müsse der Umzug stattfinden. Und, weil sie bald die Hand nicht mehr vor Augen sehen würden, möglichst hopp hopp!

    Welcher Umzug, wohin denn? hatte Cameo verzweifelt gebrüllt. Mit Mühe hatte er seinen ersten Text zuende erzählen dürfen.

    Na, in den kleinen Bruch nebenan!

    Cameo kannte den nicht, war nie so weit gekommen. Der zweite, kleinere Bruch lag vielleicht zwei- bis dreihundert Meter weiter den immer enger werdenden Waldpfad bergan.

    Sie bahnten sich den Weg durch Dornengestrüpp und dichtes Unterholz, das einen von den Seiten her einschnürte. Duckten sich unter ein tiefhängendes Laubdach, das sich wie ein klösterlicher Säulengang über einem wölbte. Vorbei an vereinzelten knorrigen Fichten, über eine am Eingang zum Bruch wie eine Barriere quer über dem Pfad liegende modernde Buche hinweg.

    Sie hatten sein Lesepodest mitgeschleift, vier Mann, vier Ecken, eine ähnlich zünftig gezimmerte Theke, jeder sein Zelt, Proviant. Wenn gute Reden sie begleiten, dann fließt die Arbeit munter fort. Freilich auch das eine oder andere Büchsenbier.

    Aber, wir wollen dem Lauf der Ereignisse nicht weiter vorgreifen und Cameos erste Geschichte anhören...

    Der Indianer

    Nichts als ein Modellversuch

    Die meisten nannten Bernd, alias Berni, nur noch den Indianer. Das mittlerweile vollgraue Haar hing ihm dürr und fettig bis an die Hüften. Früher, als er noch Bass spielte, war er der erste in der kleinen Stadt gewesen: das pechschwarze Haar hatte ihm schon strähnig bis an die Nieren gereicht, als die anderen sich vielleicht hier und da schonmal vorsichtige Pilzköpfe zutrauten. Die meisten jedoch weiterhin durch übliche Façonschnitte, manche gar von Kaiser Wilhelm-Gedächtnis-Frisuren verunziert wurden. Damals hatte er noch einen einzigen Lederanzug besessen.

    Später, als es ihm selbst noch um die Tiere Leid tat, die bereits dafür gestorben waren (die jetzt, im Nach hinein, zwar nicht mehr gerettet werden konnten, allenfalls in Zukunft alle weiteren), nähte er sich per Hand ein Hemd und eine Hose aus Leinenstoff.

    Er hätte auch gerne Hanffasern verwendet. Aber zu der Zeit, als er sich seine beiden einzigen Kleidungsstücke (abgesehen von einem schweren Lodenmantel seines Vaters, für den Winter, und einem alten Paar Tennisschuhe) selbst herstellte, gab es gerade keinen Hanf. Und das nur, weil einige ihn neuerdings gern rauchten, was wiederum den anderen, die weiterhin lieber, um sich zu benebeln, vergorenen Saft aus Reben oder Gerste und Hopfen tranken, so zuwider war, dass sie seinen Anbau verboten.

    Man konnte den Indianer angeblich bisweilen dabei beobachten, wie er mit Tieren sprach; und die alte Dame, die im Haus nebenan wohnte, bemerkte, dass er sogar seinen Blumen gut zuredete, wenn es donnerte oder kalt war. Er kannte jeden heimischen Pilz, sammelte Kräuter für alle möglichen Malaisen und besaß eine Sammlung an Steinen, die er als Heilsteine bezeichnete und denen er unterschiedlich starke und verschieden wirkende Energien zusprach. Er wusch sich mit Wasser aus einer Regentonne vor seinem kleinen Haus, fuhr nur Fahrrad, kompostierte alle natürlichen Abfälle in einer Kuhle im Garten. Anderer Müll fiel fast überhaupt nicht an. Er hielt sich an die zwanzig Hühner, ein Schwein, ungezählte Katzen und einen Labrador.

    Er wurde belächelt aber geduldet. Bis er diese Maschine erfand. Er bezeichnete sie als seinen Universal-Naturenergetischen Sprach-Konverter. Es handelte sich um eine ulkige (befand ein Experte von der Technischen Universität Braunschweig), um eine groteske Konstruktion aus Holzbrettchen (fand das Patentamt in seiner schroffen Ablehnung), die er zu einem Kasten zusammengefügt hatte. Der erinnerte entfernt an die alten Spielkraftwerke für Kinder, in denen man ein Brikett verbrannte, woraufhin eine Lampe glühte oder ein Rad sich drehte und ein Schornstein rauchte. In ihrer Mitte befand sich ein, wie er sich ausdrückte, hoch potenter Laserkristall. An den vorderen Teil musste eine Antenne montiert werden, für die er Draht hätte nehmen können. Er verwendete aber lieber einen getrockneten Reetgrashalm, ähnlich dem ersten Glühfaden, den Edison benutzt hatte.

    Mit dieser lachhaften Konstruktion (hatte die Zeitung in einer späteren Richtigstellung zu einem Artikel, den ein junger Volontär versehentlich ungeprüft übernommen hatte, formuliert) redete er angeblich mit der Natur und mit Wesen aus fernen Galaxien. Genauer: mit den wahren Schöpfern alles irdischen Seins, wie er sich ausdrückte.

    Der Volontär hatte den Text, den der Indianer in einem Kuvert in den Nachtbriefkasten geworfen hatte, ungekürzt abgeschrieben und in die bis zuletzt aufgesparten zwei Spalten für späte Aktualitäten eingepasst (zum Beispiel die Ergebnisse der Champions-League und Uefa-Cup-Paarungen mit deutscher Beteiligung. Oder einfach Unfälle, die sich nach Redaktionsschluss, jedoch noch vor Druckbeginn zutrugen).

    Geschehen konnte dies Malheur ohnehin nur, weil der Chef vom Dienst im Urlaub, sein verantwortlicher Vertreter, der diensthabende Redakteur, krank und der Rest der Redaktion die Nacht betrunken und übermüdet war. Und weil Heinz vom Druck nur zusieht, dass er Text und Bild in die dafür vorgesehenen Aussparungen des Layouts richtig einpasst.

    Wir wissen, dass uns niemand zuhört. Wir haben ihnen wirklich oft genug die Chance gegeben. Sie könnten es hören, sie könnten es sehen, fühlen, riechen, schmecken. Sie haben es verlernt, über die Jahrhunderte ...

    hieß es da unter der Überschrift: Die wahren Schöpfer klagen an.

    Insofern sich heute in Zeitungen alles Mögliche und in einigen weit verbreiteten Blättern zudem allerlei Unmögliches anfindet, dürften die meisten Leser die Kolumne gänzlich übersehen oder vielleicht nur kopfschüttelnd übergangen haben.

    Nicht so Dr. Wolf D. Moyer, Gymnasialdirektor im Ruhestand, ehemals Deutschlehrer, pensionierter Schriftgelehrter also, Sprecher des Kirchenvorstands der Evangelischen Gemeinde Sankt Georg, passionierter Vielleser noch immer, im Fall des Morgenblattes sogar: So-ziemlich-alles-Leser!

    Ihn hatte bereits die Anmerkung aufhorchen lassen: der Indianer habe den Text als intergalaktische Tree-Mail, über World-Wide-Wood als Empfangs- und Verbreitungssystem, aus Richtung eines unbekannten Planeten nahe dem Stern Sirius empfangen.

    Einige wenige von euch verstehen das Prinzip noch, die australischen Ureinwohner zum Beispiel ...

    las er weiter. Darunter stand wiederum:

    Die nordamerikanischen Indianer wussten im Großen und Ganzen auch, was sie zu tun und zu lassen hatten. Aber man hat ihnen ihr Land weggenommen und sie fast vollständig ausgerottet. Es ist vielleicht übertrieben zu sagen, dass sie eins mit ihrer Natur gewesen seien. Sie waren zuerst einmal ziemlich in Einklang mit sich selbst und somit ganz selbstverständlich und mit der nötigen Einfühlsamkeit und Demut ein nicht allzu störender Teil unserer Schöpfung...

    Doch dann:

    Klar, auch die Menschen heute sind ein Teil von ihr. Allerdings so, wie ein Krebsgeschwür Teil von ihnen ist!

    Hier räusperte der Korrektor a.D. sich erstmals und legte den Text beiseite. Seine Frau war kürzlich erst an Krebs verstorben. Nach einer Zigarette besann er sich und las weiter:

    "Sie kämpfen gegen die Schöpfung, haben begonnen, indem sie diese zu verbessern trachten, sie und damit sich selbst auszulöschen. Man gründet Vereine zu ihrem Schutz, das hört sich gut an. Je mehr man aber glaubt, nach den zugrundeliegenden Gesetzen zu handeln und alte Fehler zu korrigieren, desto mehr neuer Schaden wird angerichtet.

    Viele sagen, sie glauben an Gott und dass er die Welt und damit sie selbst geschaffen habe. Indem sie sich aber bemühen, ihm - der Erfindung wohlgemerkt ihres eigenen Geistes - gleich zu werden, unsere Kreation also weiter zu schaffen, zerstören sie das, was sie für seine Schöpfung halten. Sie haben uns, also vermeintlich ihm, einige Tricks abgeluchst, haben Teile des Vorgangs des Wachsens und Sich-Veränderns erforscht, ohne überhaupt dessen eigentliches Wesen erkannt zu haben. Sie modeln Früchte, Tiere, schließlich sich selbst um, nach ihrem Gutdünken. Sie brauchen immer mehr, und wie sie glauben: immer bessere, gesündere Nahrung, nicht, weil sie sich mit dem, was wir, ihre wahren Schöpfer, für sie entwickelt hatten, nicht hätten ernähren können, sondern weil sie besserwisserisch, selbstherrlich und egozentrisch geworden sind. Sie haben das Prinzip der natürlichen Auswahl, der Verbesserung der Arten und ihrer Überlebenskraft durch Mischung, aber auch durch natürliche Begrenzung eines hinlänglich gelebten oder eines von vorne herein nicht möglichen Lebens, außer Kraft gesetzt - aus humanitärer, wie sie sagen, Weltsicht. Humanitär heißt aber nur: menschenzentriert, nicht: naturgerecht, also aufs ganze System bezogen. Und selbst dann, wenn sie glauben, als menschengerecht Handelnde sich zugleich auch naturgerecht zu verhalten, sind sie zuallererst einmal selbstgerecht.

    Sie wollen zeigen, dass sie zum Beispiel ein Leben verlängern oder retten können. Sogar erzeugen, sagen sie, können sie es. Das können sie natürlich nicht, sie verwenden nur die vorhandenen Bausteine des Lebendigen. Das einzige, was sie damit wirklich erreichen wollen, ist: sie möchten ihr eigenes Leben, allenfalls noch das ihrer Kinder, Ehepartner und Freunde, beliebig verlängern können. Das Ziel ist ihnen von ihrer anmaßenden Religion vorgegeben: ewiges Leben - nur für die paar Menschen, die sie mögen und kennen, nicht alle, versteht sich, nicht die Tiere (außer natürlich ihren Lieblingshaustieren, ihren Pferden und so weiter) und eigentlich ausschließlich für sich selbst und für ihre Angehörigen und Freunde, nicht für all die anderen!"

    Dr. Moyer gießt sich noch einmal Kaffee nach, blickt kurz versonnen vom Text auf, wischt sich eine letzte Träne (hartnäckig anhaftende Folge seiner kurzen Gefühlsaufwallung von eben) aus dem Auge.

    Was aber, fragt der Text an anderer Stelle weiter, soll denn diese niedliche Ewigkeit der Menschen überhaupt sein? Zweihundert, fünfhundert, zehntausend Jahre mehr als üblich? Die Menschen lebten aber doch, ohne sich dessen bewusst zu sein, in dem weiter, was sie ihrer Nachkommenschaft hinterlassen: Erfahrungen, Begabungen, die genetischen Verbesserungen, die jene besagten Schöpfer an ihren Nachfahren vornehmen, nicht in ihren eigenen welken, morschen Körpern, die sie liften und genmanipulieren lassen, in denen sie Organe wie Autoersatzteile vom Schrottplatz austauschen. Gerade in dieser Selbstsucht zeigten sie aber, dass sie nicht einmal Achtung vor sich selbst haben. Und weil sie keinen Respekt aufbringen, schätzen sie genauso wenig die anderen Geschöpfe, mithin die Pflanzen, ihre Luft, ihr Wasser.

    Sie machten sich alles nur untertan, auch die Menschen anderen Glaubens; so stehe es ja schließlich als Programm in ihrem Glaubensmanifest.

    Aber sie können, schließt das Pamphlet, alle Schätze des Bodens fördern, alle Kohle verbrennen und alles Erdöl verpuffen oder gleich in die Meere pumpen. Sie können alle ihre Bomben gleichzeitig zünden, alle ihre Giftgasfabriken in die Luft jagen und sämtliche Haarsprays in einer letzten großen Silvesterparty sich gegenseitig in die schüttere Haarpracht sprühen...

    In wenigen Millionen Jahren, die für uns so lange dauern wie für Euch ein Wimpernschlag, werden die Würmer und Kakerlaken, die nicht die Hybris besitzen zu glauben, sie allein seien vernünftig oder hätten eine Vormachtstellung, Parlamente wählen. Also was wir, in den Worten Eurer naturverachtenden Profitanhäufer, Rohstoffverschwender und Umweltvernichter, Warenüberschusshersteller und Kaufverrückten, Neubauzwangsgestörten und Umwälzneurotiker, die allesamt glauben, ausgerechnet sie seien gut und wichtig für die Welt und könnten sie noch verbessern... kurz, was wir also in deren zynischen Worten sagen möchten, ist: Wir haben noch jede Menge andere, lohnendere Projekte laufen.

    Der junge Volontär hatte ins Zentrum des Artikels schließlich noch das beiliegende Foto (Indianer umarmt Baum; Untertitel: Sein Brieffreund, der Baum) eingescannt, was als optischer Widerhaken in diesem Fall zumindest Gymnasialdirektor a.D. Dr. Moyer frühzeitig, noch vor der zweiten Tasse Kaffee, in die Lektüre des Morgenblattes zurückgeholt hatte.

    Zwei Seiten zuvor hatte die Firma Rohde Hilfsarbeiter zum Baumfällen angeworben, sechs Euro die Stunde. Als sich tags darauf kaum jemand meldet, beschwert sich Ralf Rohde, Juniorchef, persönlich beim Bürgermeister: Über dreißig Prozent Arbeitslose in diesem Kaff, und zwei schlappe Würstchen kommen heut morgen angetrabt.

    Dieser schwachsinnige Waldschrat habe die Leute mit seinem esoterischen Naturgefühl-Gesabbele völlig kirre gemacht. Das war um zehn Uhr morgens, am nächsten Montag.

    Dem Bürgermeister war der Artikel am Samstag früh überhaupt nicht aufgefallen. Er fragt daraufhin beim stellvertretenden Chef vom Dienst nach, ob sie noch ganz dicht sind und ob man vielleicht erwäge, demnächst ins Internet zu gehen oder auf Mikrofilm zu erscheinen.

    Wie jetzt?

    Na, weil sie ja schließlich diesen Dünnschiss auf den zu Pulpe verkochten und plattgewalzten beklagenswerten Opfern eben jener Naturmisshandlung verbreitet hätten.

    Hä?

    Ich meine, ihr druckt auf Papier, oder? Ihr sägt doch sozusagen an eurem eigenen Ast, buchstäblich, wenn ihr so'n Mist schreibt, Menschenskind!

    Durch den Bürgermeister erfuhr der Chefredakteur per Handy an seinem Urlaubsort von dem Skandal. Was denn da los gewesen sei, fragt der telefonisch zurück. Nicht bei seinem Stellvertreter, ganz bewusst - den kann er nicht ab und er misstraut ihm. Vielmehr ruft er direkt bei ihrem ehemaligen Korrektor, Dr. Moyer, an, der früher, nach seiner Pensionierung (als man sich bei der Postille diesen Job noch leistete), die Texte vor der Drucklegung überflogen und hier ein überflüssiges Wort gestrichen oder ausgetauscht, dort ein Komma durch ein Semikolon ersetzt hatte. Er wusste, der Moyer hatte das gelesen.

    Der Umweltquatsch sei gar nicht mal so sehr das Problem, berichtet Dr. Moyer. Ärgerlich, geradezu beunruhigend sei vielmehr der blasphemische Aspekt, dass hier von irgendwelchen obskuren Schöpfern geredet wurde. Nicht aber von unserem wahren einen.

    Und dann natürlich der drohende Weltuntergang, Sodom und Gomorrha. Das soll die Leute gefügig machen. So'ne Art neu-esoterischer Umweltfaschismus mit Ufo-Komponente.

    Steckt da die NPD hinter?

    Wohl kaum! Es geht nicht um das deutsche Volk und auch nicht um Ausländer.

    Die Grünen?

    Äh-äh, nee, die wohl auch nicht! Weder die Partei noch die Marsianer.

    Gysy, Lafontaine?

    Schwer zu sagen!

    Sonstige Kommunisten?

    Eher nicht, es ist nicht von Arbeitern, Produktions- oder Besitzverhältnissen die Rede.

    Der Volontär bekam erstmal, als der Chef aus dem Urlaub zurück war, einen ganz unglaublichen Anschiss. Jetzt durfte er eine gehörige Zeit über nichts als das Jahrestreffen des Broichter Taubenzüchtervereins berichten und wie am Samstag Wiedensaal gegen Örpen gespielt hat, und vor allem: warum! Verdammt noch eins!

    Und zeigen Sie mir das vorher, sonst steht vielleicht bei Ihnen noch Jesus von Nazareth im Tor und seine Jünger abseits! Raus jetzt!

    Weitere Publikationen ähnlichen Inhalts lagen später auf fotokopierten Handzetteln in Buchläden, Kneipen und hingen am schwarzen Brett des Gymnasiums. Es handelte sich um vervielfältigte handgeschriebene Manuskripte, offenbar ursprünglich auf selbstgemachtem Papier verfasst, wie die noch sichtbare Faserstruktur verriet. Diese gab zugleich auch den Urheber preis.

    Der Betreiber des Copyshops räumte ein, diese wohl in einer größeren Stückzahl vervielfältigt zu haben. Wie viel genau? Das weiß er doch jetzt nicht mehr, vielleicht so 500.

    Das kostet ja Geld, oder? Was macht der denn beruflich? Die Nachfrage des Bürgermeisters beim Leiter des Arbeitsamtes ergibt, dass der Indianer von dort Hartz IV erhält, obwohl er wohl beim Sozialamt Hilfe zum Lebensunterhalt beantragt hat.

    Offenbar hat der immer noch zu viel Zaster. Kann man ihm da nicht noch was streichen?

    Nur, solange er noch nicht Arbeitsunfähigkeitsrente beziehe. Der Hartz IV Betrag sei zwar auch in etwa mit der Sozialhilfe identisch und liege somit an der errechneten untersten Grenze des Überlebensnotwendigen, klärt ihn der Amtsleiter auf. Sollte er sich allerdings weigern, angebotene Jobs anzunehmen oder ein gewisses Maß an Bewerbungen pro Monat nachzuweisen, kann man ihm den Betrag noch um bis zu ein Drittel kürzen.

    Dann soll er da mal was unternehmen, poltert der Bürgermeister. Und: da zeigt sich, was auf uns zukommt, wenn wir einen vom Steuerzahler finanzierten Freizeitpark einrichten für arbeitsscheues Gesindel.

    *

    Der Indianer hatte seinerzeit, nach seiner Einlieferung in die Heilanstalt Liesenberg, die idyllisch gelegen und von Wiesen und Wäldern umgeben ist, überhaupt erst mit diesen Dingen angefangen und seine Ausgänge genutzt, seinen Konverter in die unendlichen Tiefen des Raumes jenseits der Stratosphäre zu richten. Als ihn also jetzt seine alte Psychiatrie als Hilfskraft für einen Euro die Stunde und für leichtere Gartenarbeiten wieder einstellt, kann er in den Pausen und während unbeobachteter Momente bei der Arbeit Gleichgesinnte gewinnen und informieren, kann die Ruhe im Anstaltspark zu weiteren orbitalen Horchaktivitäten nutzen.

    Seine Beweise hatte er seinerzeit bereits dem Stationsarzt vorgelegt. Der hatte wohlwollend genickt, ein stärkeres Neuroleptikum verordnete und die Blätter, nachdem der Indianer den Raum verlassen hatte, in den Papierkorb geworfen.

    Das wusste der Indianer nicht.

    Da er dem Stationsarzt noch immer vertraut, lässt er seine handgeschriebenen Aufzeichnungen diesem nun erneut zukommen. Auch jetzt landen sie ungelesen im Papiermüll.

    Dort findet sie die Putzfrau, die sie heraussortiert, weil sie schön sind. Der Indianer hat die Blätter selbst geschöpft und gepresst. In das Zentrum jedes Bogens ist ein Zweig, eine Blüte oder ein Baumblatt eingearbeitet. Auf den Rückseiten kann ihre kleine Tochter malen. Die Werke des kleinen Mädchens landen in einem Ordner, immer zwei bemalte Blätter so in einer Klarsichthülle zusammengesteckt, dass sie je eine bemalte Vor- und Rückseite bilden und die beschriebenen Seiten unsichtbar nach innen aufeinander zu liegen kommen.

    So bleiben einige der Dokumente der Nachwelt erhalten, ohne dass dieser der Umstand zur Kenntnis gelangt. Der Indianer weiß es nicht, der Stationsarzt nicht und auch der Bürgermeister hat keinen Schimmer.

    Letzteren könnten die Texte womöglich interessiert haben. Schließlich sind sie nicht nur Protokolle ganz unglaublicher Vorkommnisse. Aus ihnen ließen sich mitunter Andeutungen auf spätere Handlungen ablesen. Ob das Wissen um sie das Schicksal des Bürgermeisters abgewendet oder auch nur positiv beeinflusst hätte, bleibt indes reine Spekulation.

    *

    Auf der Lichtung, auf der der Indianer sich des Öfteren abends nach der Arbeit für längere Zeit aufhält, muss irgend etwas geschehen sein. In der darauffolgenden Zeit stellen die Ärzte bei ihm einen merkwürdigen Gleichmut fest, der anfänglich als Depression diagnostiziert, später als ebenso harmloser wie erfreulicher Glückszustand interpretiert wird. Unter der Hand war er also wieder zum Patienten geworden, der vorübergehend unter Beobachtung stand. Allerdings kriegte er jetzt keine Medikamente und konnte abends raus; und da ging er nach Hause ? wie man zumindest annahm.

    Er verbringt aber meist die Nächte auf der Lichtung. Er hat keinen Appetit, spricht mit niemandem mehr, stellt nach und nach seine Besuche bei Patienten, die er kennt, schließlich die beim Stationsarzt ganz ein.

    Er fragt auch bei diesem nicht mehr nach, ob der seine Dokumente, wie erbeten, an den Bundespräsidenten weitergeleitet oder wenigstens an die Zeitung geschickt habe.

    Hätte jemand die Gedächtnisprotokolle des Indianers, die der Arzt ungelesen im Papierkorb hat verschwinden lassen, zur Kenntnis genommen, könnte in etwa folgender Sachverhalt rekonstruiert werden:

    Der Indianer wartet geduldig auf der Lichtung. Er weiß, sie werden kommen. Sie haben sich schon einmal dort getroffen, er und die anderen. Sie hatten

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