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Countdown Marathon: Ein Jahr aus der Sicht eines professionellen Hobbyläufers
Countdown Marathon: Ein Jahr aus der Sicht eines professionellen Hobbyläufers
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eBook889 Seiten12 Stunden

Countdown Marathon: Ein Jahr aus der Sicht eines professionellen Hobbyläufers

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Über dieses E-Book

Dieses etwas andere Tagebuch gibt einen Einblick in das Leben eines Laufenthusiasten, bei dem sich das Laufen nicht nur darauf beschränkt, tagein tagaus einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Leser erlebt das komplette Jahr 2017 aus der Sicht eines im positiven Sinne "Laufverrückten", der nicht nur im Oktober seinen ersten Marathon (wenn möglich unter 2:30 Stunden) laufen möchte, sondern mitunter mehr trainiert als viele Weltklasse-Läufer, und dies neben einem Vollzeitjob. Zudem erhält man ungeschönte Einblicke in die Gedankenwelt des überaus nachdenklichen "Vereinsmeiers", der sich mehrere Stunden pro Woche um seine Athletinnen und Athleten und viele andere Dinge des Vereinslebens kümmert, und der in nahezu jeder Lebenssituation eine Parallele zu seiner liebsten Sportart findet.
Seien Sie mit dabei, wenn der Autor über das Traillaufen philosophiert und kurzzeitig über eine Teilnahme an der Traillauf-WM nachdenkt. Erleben Sie die Höhen und Tiefen im alltäglichen Lauftraining, von herausragenden Intervalleinheiten bis zu desaströs langsamen Dauerläufen. Begleiten Sie den Autor bei kleinen Volksläufen, regionalen Sportfesten und nationalen Meisterschaften (Cross, Bahn, Straße). Dabei erhalten Sie Einblicke in die Maschinerie des Leistungssports (Nationalmannschaft, US-Universitäten und deutsche Läufer) Fühlen Sie mit bei Niederlagen und Triumphen, bei denen Sie der Autor mit tiefen Einblicken in seine Gefühlswelt teilhaben lässt.
Doch auch die Philosophie des Laufens und die Trainingslehre kommen nicht zu kurz, wobei hier ganz neue Einblicke in Läuferweisheiten und ungeschriebenen Laufgesetze gewährt werden. Da wird über den Trend Trailrunning (gemeinsam mit Humboldt), das Thema Ernährung, über Lügenpresse und Fake-News, aber auch über alltägliche Läuferprobleme wie Achillessehnenbeschwerden nachgedacht. Dabei werden neben wissenschaftlichen Erkenntnissen auch rein subjektive Erfahrungen des Autors ausführlich dargestellt. Die dabei nicht immer ganz konventionellen Herangehensweisen des Autors sollen Denkanstöße für den interessierten Leser bringen, diesen aber auch hin und wieder zum Schmunzeln bringen. Dazu tragen vor allem die vielen Geschichten aus dem Vereinsleben bei, angefangen vom "Kaiserschmarrnexzess", den Soldatenaufmärschen, Atombomben und "Pussy-Pausen" im Oster-Trainingslager bis hin zu Wunderschuhen, Zaubertränken und vereinsinternen, nicht immer ganz ernst gemeinten, Wortgefechten.
Es kommen viele andere Läufer zu Wort, die der Autor im Jahr 2017 auf diversen Wettkämpfen oder im Training getroffen hat, vom Spitzenläufer bis zum blutigen Laufanfänger ist alles mit dabei. Begleiten Sie ihn von Januar bis Dezember auf seinen Trainingsrunden, die ihn bei eisiger Kälte und tropischer Hitze durch Wälder, Berge und Großstädte über Schnee, Sand, Wiesen, Matsch, Tartanbahnen und Asphalt führen. Fast jedes Wochenende lernt er die Laufszene von einer anderen Seite kennen und reist dabei nicht nur durch das idyllische Alpenvorland, sondern kommt in ganz Deutschland herum. Dabei wird klar, dass für den Autor das Laufen viel mehr als nur eine Sportart ist, es ist für ihn eine Art Lebensphilosophie, die sich wie ein roter Faden durch dieses für den Autor außergewöhnliche Läuferjahr zieht. Nicht selten schwankt der Autor zwischen Wahnsinn, übertriebenem Ehrgeiz, beißenden Selbstzweifeln, überzogenen Erwartungen, maßloser Selbstüberschätzung und Rationalismus.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum17. März 2019
ISBN9783748588207
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    Buchvorschau

    Countdown Marathon - Markus Brennauer

    Oktober 2016 -Prolog: Vorgeschichte

    29.10.2016 – Marcus Schöfisch wird völlig überraschend deutscher Marathonmeister in Frankfurt. In einem spannenden Rennen ohne den deutschen Rekordhalter Arne Gabius, der verletzungsbedingt seinen Start absagen musste, gewinnt der Leipziger mit 2:20:12 Stunden vor Tobias Schreindl und Jannik Ernst. Lange Zeit liegen andere Läufer an der Spitze und diktieren das Renngeschehen. So ist z. B. Jonas Koller, der 22-jährige Regensburger mit afrikanischen Wurzeln, bei Kilometer 30 noch aussichtsreich im Rennen und läuft deutlich vor Schöfisch. Doch auf den letzten Kilometern erwischt ihn der Mann mit dem Hammer mit voller Wucht. So läuft er anstatt einer Zeit von 2:17 Stunden, die locker zum Titel gereicht hätte, nur 2:21:56 Stunden und wird Sechster. Mitfavorit Mitku Seboka aus Fürth, seines Zeichens deutscher Meister über 10 km, kommt nach einer Halbmarathon-Durchgangszeit von 67 Minuten erst gar nicht ins Ziel und muss nach 40 Kilometern die Segel streichen.

    Zu gern wäre ich bei meiner Marathon-Premiere ein Teil dieses dramatischen Rennens in Frankfurt gewesen. Doch leider war daraus nichts geworden. Bereits im August hatte ich meine Marathonpläne ad acta legen müssen. Ich musste notgedrungen meine Marathon-Premiere auf 2017 verschieben. Wobei, wollte ich wirklich 2017 meinen ersten Marathon laufen? Ich war mir nicht sicher, denn eigentlich bin ich nicht der Typ dafür, der schon ein Jahr im Voraus plant. Ich würde spontan entscheiden, also so spontan wie man eben für einen ernsthaften Marathonversuch sein darf. 2017 war noch zwei Monate entfernt, ein aufregendes, spannendes Läuferjahr mit all seinen Höhen und Tiefen lag vor mir. Jetzt, Anfang November 2016, war es einfach viel zu früh, um sich ernsthaft Gedanken über den Herbst 2017 zu machen, denn eigentlich hatte ich auch für das Frühjahr bis jetzt keine konkreten Pläne geschmiedet. Nur bei einem war ich mir sicher: 2017 würde mein Jahr werden, genauso wie das Jahr 2016, das Jahr 2015, das Jahr 2014, das Jahr 2013,…. Das war seit mehr als 25 Jahren die einzige Konstante in meinem Leben: Das Laufen. Laufen + x = Leben. Auf diese einfache Formel ließ sich mein Leben reduzieren. Natürlich waren in den vergangenen fast drei Jahrzehnten ein paar Konstanten neben dem Laufen hinzugekommen, doch diese eine Konstante war seit 1987, seit meinem ersten Laufwettkampf, immer fix. Auch 2017 würde sie die entscheidende Rolle in meinem Leben spielen, doch im Moment war ich mir nicht sicher, wie groß oder klein die „Lauf-Konstante" werden würde.

    Natürlich schwirrten bereits im Herbst 2016 viele Gedanken in meinem Kopf herum: Würde ich 2017 meinen ersten Marathon laufen? Würde ich mich vielleicht sogar der Herausforderung Ultra-Lauf stellen? Würde ich mehr auf der Straße oder im Gelände unterwegs sein? Auf welche Meisterschaften würde ich meine Prioritäten legen? An welchen Wettkämpfen würde ich teilnehmen wollen? Wie würde es meinen zahlreichen Athleten 2017 ergehen? Würde ich mit 37 Jahren wieder meine Bestzeiten knacken können? Wie entwickelt sich der TSV Penzberg, mein Verein, für den ich seit 30 Jahren an Wettkämpfen teilnehme und bei dem ich seit 17 Jahren als Trainer arbeite? Könnte ich mich 2017 noch genauso motivieren wie in den vergangenen Jahren? Würde…? Sie merken es vielleicht schon. Ich bin ein sehr nachdenklicher Mensch, der alles tausendfach reflektiert, der die meisten Entscheidungen in seinem Leben wieder und wieder überdenkt. Ich stürze mich nicht blindlings in ein Abenteuer, ich trete nicht einfach so unvorbereitet an die Startlinie eines Wettkampfes, ich überlasse fast nichts dem Zufall. Ich bin aber auch kein Mensch, der alles bis ins kleinste Detail plant. Ich entscheide oftmals situativ, versuche aber dabei, bereits im Vorfeld die Folgen meiner Entscheidungen überblicken zu können. Ich bin kein Perfektionist, versuche aber alles nach bestem Wissen und Gewissen zu erledigen. Diese Charakterzüge haben mich bislang vor ganz großen Enttäuschungen bewahrt, mich aber auch sicher von den ganz großen Erfolgen abgehalten. Denn wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Ich hatte bislang wenig in meinem Leben gewagt. Ob das 2017 anders werden würde, konnte ich im Herbst 2016 nicht wirklich beantworten. Bei einem war ich mir aber sicher. 2017 musste ich mich einer neuen Herausforderung stellen. Welche das sein würde, würde ich natürlich situativ entscheiden. Ausgang ungewiss…

    Januar 2017 - Sixpacks und Trainingspläne

    -5 °C Außentemperatur. Ich verlasse gemeinsam mit meiner Frau Conny das angenehm warme Fitnessstudio. Gerade eben hatten wir unseren Athleten Andi, Michi und Martin 15 Muffins in den ersten Stock der „New Fitness World gebracht. Wie immer machen die Drei noch ihre Bauchmuskeln so richtig platt, schließlich wollen sie für das Oster-Trainingslager in Tirrenia, zehn Kilometer südlich von Pisa, ihren Sixpack auf Vordermann bringen. Dabei hat Andi bereits jetzt einen Waschbrettbauch, um den ihn die meisten Menschen – auch Sportler, egal ob Kraftsportler oder Fußballer - beneiden würden, doch als Leistungssportler, der sechs bis sieben Mal pro Woche trainiert und ganze vorne in Deutschland und Bayern über 400 m Hürden mitmischt, ist das bei Weitem nicht genug. „Ich habe über Weihnachten ein paar Kilo zugenommen, außerdem habe ich in den vergangenen zwei Wochen nur vier Mal was für meinen Bauch getan, so die für ihn (und mich) plausible Erklärung. Bei Michi verhält sich das Ganze ähnlich, kaum ein Gramm Fett zu viel ziert seinen Athletenkörper. Doch als Läufer – und als bester Kumpel von Andi, der nicht nur ihn, sondern auch mich, immer zu Kraft- und Athletiktraining quasi zwingt – kann die Bauchmuskulatur gar nicht stark und ausdauernd genug sein. Fast mit Grausen erinnere ich mich an Anfang Oktober zurück, als Andi nach seiner verdienten Wettkampfpause wieder ins Training einstieg und ich ihm seinen Trainingsplan präsentierte. Auf diesem Plan standen nicht weniger als vier Stabi-Einheiten (Stabi = Stabilisation = Athletik) pro Woche. Detailliert hatte ich die Stabi-Einheiten auf dem Excel-Sheet notiert, zwölf Übungen mit jeweils 30 – 90 Sekunden Dauer und das alles ohne Pause: Von Liegestütz über Sit-ups, Unterarmstütz (neudeutsch „Planking) bis zum „Käfer war alles dabei, ein komplettes Rumpfkrafttraining also, Bauch, Beine, Rücken, Po, Arme, 15 Minuten Quälerei und Schinderei.

    Glücklicherweise war dieses Stabi-Programm nur für Andi und meine anderen Athleten gedacht. Doch er sah das natürlich ganz anders. „Auf geht’s Markus, du weißt ganz genau, dass du auch Stabi machen musst. Also runter auf den Boden und mitmachen. Keine Widerrede. Das war Andis unmissverständliche Ansprache, der man nicht viel entgegenzusetzen hat. Die ersten paar Male konnte ich mich noch mit Ausreden wie „ich bin gerade eben 15 Kilometer gelaufen oder „ich hab‘ noch von gestern Muskelkater oder, wenn Andi misstrauisch wurde und gar keine Ausrede mehr half, „ich muss heute schon 20 Minuten früher nach Hause vor dem Mitmachen drücken. Doch nach zwei Wochen und bereits sechs verpassten Athletik-Einheiten plagte mich dann doch mein schlechtes Gewissen, schließlich wusste ich genau, dass ich meine Körpermitte bereits seit Jahren vernachlässigt und im Sommer unter anderem deswegen die Quittung bekommen hatte. Ich war sechs Wochen lang verletzt, beide Knie waren entzündet, einfach überlastet gewesen. Im Oktober 2016 war ich also selbst erst wieder knapp sechs Wochen im Training und gegenwärtig waren meine Kniegelenke nicht komplett schmerzfrei, da konnten regelmäßige Stabi-Einheiten nicht schaden. Andi quälte mich und die anderen Athleten durch die Liegestütz, Sit-ups und dem von uns allen gehassten Unterarmstütz („Planking). Er sah augenblicklich, wenn einer von uns die Hüfte in Richtung Boden absinken ließ um Kraft zu sparen oder wenn jemand von uns schummelte, indem er sich bei den Sit-ups mit den Händen an den Beinen festhalten wollte. Sofort ertönte es aus seinem Mund „Nick, lass‘ die Hüfte oben oder „Arsch hoch Albin, aufgeben gibt’s nicht. Ich gebe dazu, dass er mich bei den ersten paar Stabi-Einheiten nicht so gut im Blick hatte, denn ab und zu konnte ich einfach nicht mehr bzw. meine Bauchmuskeln versagten ihren Dienst und ich gönnte mir unbemerkt eine kurze Pause von 10 – 15 Sekunden. Doch im Laufe der nächsten Wochen merkte ich, dass mir die Übungen immer leichter fielen – leichter ist vielleicht das falsche Wort, es war nur noch sehr hart, nicht mehr ultrahart – außerdem tat es mir gut: Meine Bauchmuskeln wurden fester, mein Hohlkreuz wurde immer weniger „hohl (meine Lendenlordose war nicht mehr so ausgeprägt), meine Hüfte richtete sich ein wenig auf, meine Schultern waren nicht mehr ganz so eingefallen, ich schaffte auch wieder relativ locker 30 Liegestütze und … ich ging aufrechter. Ich wurde also fitter und fitter und war bald der Einzige im Team, der Andi während des Trainings nicht darum bat, die Dauer der Übungen zu verkürzen. Eigentlich hätte das Athletik-Training laut des von mir erstellten Trainingsplans nur 15 Minuten dauern sollen, doch Andi hatte es relativ schnell auf 20 Minuten verlängert und ein paar Übungen hinzugefügt. Selbst in den Weihnachtsferien hatte ich dieses Programm alleine zu Hause mehrmals durchgezogen, wohingegen Andi und Michi zwei Wochen lang mit der Stabi-Einheit ausgesetzt hatten.

    Ich konnte also in der ersten Woche des neuen Jahres mit Conny ruhigen Gewissens das Fitnessstudio früher verlassen, zudem hätte ich zusätzlich eine relativ gute Ausrede parat gehabt, warum ich mir die Extrabaucheinheiten sparen konnte. Ich musste unbedingt einen Trainingsplan schreiben. Mein Athlet Max brauchte einen 1.500-Meter-Trainingsplan. Zwar waren es fast noch sechs Monate bis zu den deutschen U23-Meisterschaften in Leverkusen, doch Max würde in zwei Tagen wieder für fünf Monate in die USA verschwinden. Sein sechstes Semester an der FGCU (Florida Gulf Coast University) in Fort Myers würde dort in wenigen Tagen wieder beginnen. Die vergangenen vier Wochen hatte er wieder in Penzberg verbracht und mit unserer Gruppe trainiert. Dabei fand er erstaunlich schnell zu seiner alten Form zurück, nachdem er nach einer erfolgreichen Cross-Saison in den USA eine vierwöchige Trainingspause eingelegt hatte. Trotz der für ihn mittlerweile ungewohnten Wetterbedingungen bei uns am Rande der Nordalpen (Minusgrade, Schnee, Regen, Wind, usw.) hatte er sich wieder recht schnell akklimatisiert und konnte bereits kurz vor Weihnachten mit seiner wahrscheinlich besten Schwellen-Einheit (Laufeinheit an der anaeroben Schwelle) seit mehr als vier Jahren nicht nur sich selbst, sondern auch mich, überraschen: 14 x 1.000 m im Wechsel in einem Durchschnittstempo von 3:24 Minuten pro Kilometer. Die schnellen 1.000er hatte er in etwa in 3:12 Minuten zurückgelegt, die „langsamen in 3:35 Minuten. Das Besondere daran war, dass er diese sog. „Canova-Einheit (benannt nach dem italienischen Erfolgstrainer Renato Canova) alleine durchziehen musste, da ich Elternsprechtag hatte – ich bin Realschullehrer - und die anderen Athleten entweder krank waren oder schlichtweg nicht mit ihm mithalten konnten. Nochmal zur genaueren Erklärung: Bei dieser Trainingseinheit gibt es keine Pausen, die Läufe gehen nahtlos ineinander über. Man läuft, wie Max bei seinem oben beschriebenen Training, 14 Kilometer am Stück und wechselt nach jeweils 1.000 Metern das Tempo. Max war also in guter Form und motiviert für die nächsten Monate. Da es sein letztes Jahr in der Altersklasse U23 sein würde, wollte er die Chance nutzen, sich für die deutschen Meisterschaften in dieser Altersklasse zu qualifizieren. Dafür müsste er im Sommer die Qualifikationsnorm von 3:57 Minuten unterbieten. Eine Zeit, die nur zwei Sekunden unter seiner Bestzeit liegt, die er bereits drei Jahre zuvor, noch als Jugendlicher, gelaufen war. Zwar hatte er an der Uni in Fort Myers mittlerweile eine eigene Trainerin, die nur für das Crosslauf-Team der FGCU angestellt war und die Pläne für die Läuferinnen und Läufer erstellte. Allerdings hatte sich Max im vergangenen Semester mit seiner Trainerin zerstritten, da er ihre unkonventionellen Trainingsmethoden (dazu später mehr) kritisiert und oftmals seinen eigenen Weg gewählt hatte. Diese Auseinandersetzung hatte ihm viel Ärger eingebracht, doch bei den Wettkämpfen demonstrierte er dann seine Stärke verhalf so maßgeblich seinem Team zum besten Ergebnis in der Geschichte seiner Universität. So ganz nebenbei wurde Max im Monat Oktober auch zum Athleten des Monats der ganzen Universität gewählt, was nicht nur an seiner sportlichen Leistungssteigerung lag, sondern auch daran, dass er in seinem Studienfach Psychologie zu den Besten seines Jahrgangs zählte.

    Vor einer Woche hatte er mich dann gefragt, ob ich ihm denn nicht einen Trainingsplan erstellen könnte. Ich war von seiner Anfrage sehr erfreut, schließlich hatte ich ihn, bevor er in die USA gegangen war, bereits einige Jahre trainiert und ihn in den C-Kader des Deutschen Leichtathletik Verbandes gebracht. Damals wurde er als 17-Jähriger Vierter bei den deutschen Jugendmeisterschaften über 3.000 m (8:32 Minuten), konnte aber dann an diese Leistungen in den nächsten vier Jahren nicht mehr anknüpfen. In meinem Kopf drehte sich also bereits auf der Heimfahrt vom Fitnessstudio alles um diesen Trainingsplan: Wie viele Kilometer pro Woche sollte ich für ihn einplanen? Wie sollte ich die Belastungswochen mit den Regenerationswochen kombinieren? Wie sollte ich die einzelnen Trainingsblöcke aufteilen? Wie lange sollte der Long Jog (der lange Dauerlauf) am Wochenende sein? Wo liegt derzeit seine anaerobe Schwelle? Ab wann sollte ich spezifische Tempoläufe für die 1.500 m in seinen Trainingsplan integrieren? Wie viele Athletikeinheiten pro Woche sollte ich ihm zumuten bzw. antun? Wie …? Da fiel mir ein, dass ich ja Max gestern versprochen hatte, ihn heute noch anzurufen, schließlich wollten wir uns für morgen zu einem letzten gemeinsamen Dauerlauf verabreden. Ich fragte also Conny, die neben mir im Auto saß, wann ich denn mit Max am besten laufen sollte, schließlich wollten wir morgen ins Deutsche Museum nach München fahren. Nach kurzer Bedenkzeit meinte sie, dass es in der Früh am besten wäre, dann könnten wir entspannt den Tag genießen. Ich stimmte ihr zu. Zuhause angekommen sah ich auf unserem Festnetztelefon, dass jemand vor zehn Minuten angerufen hatte, es war Max. Sofort rief ich zurück und wir verabredeten uns für 8:30 Uhr am Stadion, von dort aus wollten wir gemeinsam 15 - 20 Kilometer laufen. Über die exakte Distanz waren wir uns im Augenblick nicht ganz einig, da der Wetterbericht für den nächsten Morgen -15 °C vorhergesagt hatte. Außerdem waren sämtliche Wege mit Schnee, Schneematsch und Eis bedeckt. Da konnten aus 60 Minuten – die wir für einen 15-km-Dauerlauf im lockeren Tempo benötigen würden – gleich einmal 75 Minuten werden. Das Training für morgen war gesichert, jetzt hieß es schnell duschen und gemeinsam zu Abend essen, mein heutiges Menü: zwei Spiegeleier mit gebackenen Kartoffelecken, drei kleine mit Feta gefüllte Paprika, eine große Schüssel Salat und als Nachspeise 250 g Magerquark mit 20 g Chiasamen, Walnüssen sowie einer Blutorange und einer Kiwi. Um 20:45 Uhr hatte ich es mir endlich auf der Couch bequem gemacht und öffnete die Trainingsplanvorlage für meine Mittelstrecken- und Langstreckenläufer für die Saison 2016 / 2017. Für die Erstellung meiner Trainingspläne benutze ich Excel. Damit kann ich als Zahlenfreak sämtliche Kilometer protokollieren, die optimalen Dauerlaufgeschwindigkeiten anhand der anaeroben Schwelle – bei Max dürfte sie bei ungefähr 3:20 Minuten pro Kilometer liegen – berechnen lassen, Diagramme zur Auswertung werden mir angezeigt und vieles mehr. Ach ja, die Athleten können natürlich auch eintragen, wie sie sich nach jedem Training gefühlt haben, wie viel sie geschlafen haben, wie anstrengend sie die Einheit auf einer Skala von 1 – 20 (Borg-Skala) fanden, wie hoch ihr Ruhepuls am Morgen war…. Alles Fakten, die man zur Analyse der Wettkampfergebnisse benötigt, um herausfinden zu können, warum man neue Bestzeiten gelaufen oder warum man gescheitert war. Wenn man Glück hat, geben einem die vielen Zahlen Hinweise darauf, weshalb es gut oder schief gelaufen war und kann daraus Rückschlüsse für einen neuen Trainingsplan ziehen, mit dem der Athlet oder die Athletin in der nächsten Saison sich weiterhin steigern bzw. die gesteckten Ziele erreichen kann. Wenn man Pech hat, hat man nur eine ungeheure Datenmenge, aus der auch der beste Trainer nicht schlau wird bzw. eventuell falsche Rückschlüsse zieht. So weit war ich bei Max noch lange nicht.

    Um mit dem Trainingsplan anfangen zu können, musste ich zunächst einmal den Zeitpunkt definieren, wann Max in Topform sein sollte, ich brauchte den Termin der deutschen U23-Meisterschaften. Dazu surfte ich auf die Seite des Deutschen Leichtathletik Verbandes, www.leichtathletik.de, und schaute in der Rubrik „Termine" nach. Dort fand ich sofort Ort und Datum: Leverkusen am 17. / 18.06.2017. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sollte Max in Topform sein, streng genommen müsste er es sogar bereits einige Wochen vorher sein. Schließlich benötigt man für die Teilnahme bei diesen Meisterschaften eine bestimmte Qualifikationszeit, nämlich die für die 1.500 m geforderten 3:57,00 Minuten. Diese Leistung muss man spätestens bis zum Meldeschluss erzielt haben, in der Regel zwei Wochen vor den jeweiligen nationalen Meisterschaften. Also musste ich nun geeignete Wettkämpfe finden, bei denen Max die Qualifikationszeit attackieren könnte. Wettkämpfe, bei denen das Starterfeld gut genug ist, sodass er im Läuferfeld einfach mitschwimmen kann und nicht selbst für das Tempo sorgen muss. In Bayern gibt es nicht viele Wettkämpfe, bei denen die Leistungsdichte so hoch ist, dafür kommen außerhalb der Meisterschaften nur zwei bis drei Wettkämpfe pro Jahr in Frage. Der zweifellos hochklassigste Wettkampf, die Sparkassen Gala in Regensburg, hatte 2016 fast 1.000 Teilnehmer, davon waren alleine mehr als 75 Männer die 1.500 m gelaufen, fast 50 von ihnen waren unter der 4:00-Minuten-Marke geblieben. Um den Termin für 2017 herauszufinden, stattete ich der Seite des Bayerischen Leichtathletik Verbandes (BLV), www.blv-sport.de, einen Besuch ab. Der Rahmenterminplan des BLV informierte mich sogleich darüber, dass die Sparkassen Gala 2017 am 10. Juni stattfinden würde, also eine Woche zu spät. Ich musste einen anderen Wettkampf finden. In den vergangenen Jahren war das Ludwig-Jall-Sportfest in München immer relativ gut besetzt, doch 2016 war die Siegerzeit über 1.500 m mit 4:10 Minuten mehr als enttäuschend gewesen. Dabei wäre 2017 der Temin optimal, schließlich wäre der 3. Juni das letztmögliche Qualifikationswochenende für Max. Im Mai gab es sowieso keine geeigneten Wettkämpfe, vielleicht mit Ausnahme des Rolf Watter Sportfestes in Regensburg, bei dem 2016 immerhin drei Läufer unter der 4:00-Minuten-Marke geblieben waren. Der Termin dafür wäre der 13. Mai, vielleicht ein bisschen zu früh für Max, aber durchaus eine Möglichkeit. Mit der Auswahl der bayerischen Wettkämpfe war ich alles andere als zufrieden, also klickte ich auf den Link für den Rahmenterminplan des Deutschen Leichtathletik Verbandes, der sich gleich unter dem Link für den bayerischen Rahmenterminplan befand. Ich scrollte die PDF-Datei hinunter, bis ich beim Juni angelangt war. Das Wochenende am 3. / 4. Juni bot zahlreiche Wettkämpfe an, unter anderem in Rehlingen, Pfungstadt und Karlsruhe. Doch irgendwie stach mir ein ganz anderer Wettkampf sofort ins Auge: die Trail WM am 10. Juni in Badia Prataglia in Italien.

    Saisonplanung Frühjahr 2017 – Trail, kenn‘ ich schon

    Max‘ Trainingsplan musste warten. Ich trug noch schnell die möglichen Wettkämpfe in Bayern für ihn im Mai und Juni in das Excelblatt ein und machte mich dann sofort im Internet auf die Suche nach der Trail WM 2017. Meine Google-Suche mit dem Suchbegriff „Trail WM 2017 Badia Prataglia" lieferte als ersten Treffer die Seite www.trailsacredforests.com, darunter ein paar Wörter auf Italienisch, von denen ich zumindest „campionato del mondo und natürlich „Trail verstand. Anscheinend gibt es selbst im Italienischen, das deutlich weniger Anglizismen als das Deutsche aufweist, keinen anderen Begriff für das Wort „Geländelauf" oder die Veranstalter wollten die internationale Läufergemeinde einfach auf die Veranstaltung aufmerksam machen. Das musste die richtige Seite sein. Auf der englischsprachigen Version der Seite konnte ich sofort herausfinden, dass es vier verschiedene Strecken zur Auswahl gab: 14 km, 26 km, 50 km, 82 km. Doch auf welcher Strecke wird nun der Weltmeister ermittelt? Diese Frage konnte mir die Seite nicht beantworten. Unter der großen Überschrift „Trail World Championships 2017 stand „An IAU competition. Relativ schnell fand ich heraus, dass die Abkürzung „IAU für „International Association of Ultrarunners steht. Also ab auf Google, weiter auf die Seite der IAU und schon wusste ich, dass der Weltmeistertitel auf der kürzeren 50-km-Distanz vergeben wird. Kürzer!? Natürlich sind 50 Kilometer deutlich kürzer als 82 Kilometer, doch für jemanden wie mich, dessen längste Wettkampf-Distanz bisher der Halbmarathon war, und der im Training darüber hinaus nie länger als 34 Kilometer gelaufen war, sind 50 Kilometer eine ganz neue Hausnummer.

    Ach ja, ich hatte bislang ganz vergessen zu erwähnen, dass da auch irgendetwas von 2.500 Höhenmetern stand. Die Gedanken sausten durch meinen Kopf: Kann ich diesen Wettkampf mit meinen Saisonzielen 2017 vereinbaren? Habe ich am 10. Juni überhaupt Zeit? Wo liegt dieses Badia Prataglia? Sind 50 Kilometer nicht viel zu lang? Kann mein Körper diese Belastung überhaupt durchstehen? Habe ich eine realistische Chance, einigermaßen weit vorne im Teilnehmerfeld zu landen? Darf ich einfach so an einer WM teilnehmen? Kann ich …? Viele weitere Fragen schossen durch meinen Kopf, doch bevor ich mich diesen widmen konnte, musste ich erst einmal klären, ob ich an diesem Wochenende überhaupt Zeit hätte und wo Badia Prataglia liegt. Der 10. Juni 2017 war ein Samstag, dies bedeutete, dass ich spätestens am Freitag anreisen musste. Badia Prataglia liegt im Norden der Toskana, ungefähr sieben Autofahrstunden von Penzberg, meinem Heimatort, entfernt. Dies würde bedeuten, dass ich mich gleich nach Dienstschluss um 14 Uhr ins Auto setzen müsste und dann müde und erschöpft um 22 – 23 Uhr ankommen würde. Derart lange zu sitzen ist Gift für meine Muskeln, das hatte ich in meiner langen Karriere schon des Öfteren zu spüren bekommen. Mittlerweile hatte ich zwar für mich herausgefunden, dass ich nach so einer langen Autofahrt noch einmal für 10 – 15 Minuten locker laufen, ein paar Steigerungsläufe machen und kurz meine Oberschenkel mit der Faszienrolle traktieren musste, um die Muskulatur für den nächsten Tag optimal vorzubereiten. Doch wollte ich mir diesen Stress im Vorfeld meines ersten Ultralaufs antun? Ich könnte natürlich auch fliegen, in etwas mehr als einer Stunde wäre ich mit dem Flugzeug von München oder Innsbruck aus in Florenz. Aber wie das immer so ist bei Flugreisen, mit der Anfahrt zum Flughafen, den Wartezeiten an den Terminals und der Tatsache, dass Badia Prataglia weitere zwei Autofahrstunden (natürlich mit einem Mietwagen) von Florenz entfernt liegt, käme man relativ schnell auf eine deutlich längere Anreisezeit als zunächst gedacht, in diesem Fall also fünf bis sechs Stunden. Jetzt gab es nur noch eine Hoffnung. Wenn dieses Wochenende in den Pfingstferien liegen würde, könnte ich bereits am Mittwoch oder Donnerstag ganz entspannt anreisen, und im Optimalfall, falls das Wochenende des 10. /11. Juni das mittlere Ferienwochenende wäre, obendrein einige Urlaubstage mit Conny in der Toskana dranhängen. Das wirkliche Geniale daran wäre zudem, dass sie mir zu Weihnachten einen Gutschein für eine Flugreise zu einem Wettkampf meiner Wahl geschenkt hatte. „Zur Not, hatte sie gesagt, „kannst du auch mit dem Auto zu einer Meisterschaft fahren, ich übernehme dann die Kosten für die Anfahrt und eventuell anfallende Übernachtungen. Wenn also die Trail-WM mitten in den Pfingstferien liegen würde, könnte ich quasi kostenlos ein paar Tage in der Toskana mit meiner Frau verbringen und an einer Weltmeisterschaft teilnehmen.

    Während diese Gedanken in meinem Kopf umherschwirrten, hatten meine Finger fast schon automatisch auf meiner Lieblingssuchmaschine die Webseite mit den Ferienterminen in Bayern ausfindig gemacht, und … Yes, das Wochenende der Trail-WM lag mitten in den Pfingstferien, damit war das größte Hindernis aus dem Weg geräumt. Außerdem wäre an diesem Wochenende keine wichtige Meisterschaft für meine Athleten, na gut, die Sparkassen Gala in Regensburg, das bestbesetzte Leichtathletikmeeting Bayerns überschnitt sich mit der Trail-WM. Und falls mein Athlet Julian (genannt Ju) doch nochmal die 3.000 m Hindernis in Angriff nehmen möchte, dann würde er in Regensburg die bayerischen Meisterschaften laufen, genauso wie Nick, unser aktueller C-Kader-Athlet, der mich mit seinen 17 Jahren im Training bereits einige Male abgehängt hatte. Aber für beide wäre dieser Wettkampf nicht der Saisonhöhepunkt, also müsste ich nicht unbedingt in Regensburg mit dabei sein, zudem wäre ja Melanie in Regensburg mit dabei. Melanie ist, genauso wie ich und meine Frau Conny, Trainerin beim TSV Penzberg und betreut neben ihrem Sohn Nick noch eine Menge hoffnungsvoller Nachwuchsläufer, darunter zwei weitere Kaderathleten. Ich schien also wirklich Zeit zu haben, unglaublich. Stopp! Eines meiner Saisonziele für 2017 war die Teilnahme an der Oberland Challenge, einer Laufserie im Landkreis Bad Tölz – Wolfratshausen bestehend aus neun Läufen, an der ich in den vergangenen Jahren regelmäßig teilgenommen hatte und meist in der Gesamtwertung auf dem Podest gelandet war. Um in die Gesamtwertung zu kommen, muss man an mindestens fünf Läufen teilnehmen, sowie die drei Wertungskategorien „Speed, „Cross und „Extreme" abdecken. In den vergangenen Jahren hatte ich diese Voraussetzungen immer nur ganz knapp erfüllt, da ich als Trainer an mehr als 25 Wochenenden im Jahr im Einsatz bin. Dazu kommen weiterhin die anderen Wettkämpfe, an denen ich selbst teilnehmen möchte. Aus diesem Grund muss ich bereits zu Beginn des Jahres sehr genau planen, an welchen Läufen der Serie ich teilnehme und an welchen nicht. Da die Termine der Oberland Challenge 2017 bereits alle feststanden, konnte ich in Sekundenschnelle herausfinden, dass vier Wochen vor und nach der Trail WM kein Lauf stattfand, an dem ich teilnehmen wollte. Ich hatte also wirklich Zeit!

    Aber warum war ich sofort von diesem Wettkampf so fasziniert? Ich hatte noch nie bei einem Traillauf teilgenommen und 50 Kilometer lagen weit außerhalb meiner läuferischen Erfahrungen. Ein Marathon auf der Straße wäre zunächst einmal das naheliegende Ziel für einen Läufer für mich, der sich in den vergangenen drei Jahren im Halbmarathon kontinuierlich gesteigert hatte und nun bei einer Bestzeit von 1:09:39 Stunden angekommen war. Bereits im Herbst 2016 wollte ich eigentlich bei den deutschen Marathonmeisterschaften in Frankfurt mein Debüt geben, meine Zielzeit sollte irgendwo bei 2:25 Stunden liegen. Doch bereits zwölf Wochen vorher musste ich meine Pläne begraben, da mich eine Verletzung (entzündete Patellasehne) zu einer sechswöchigen Trainingspause gezwungen hatte. Natürlich hätte ich mit nur acht Wochen Vorbereitungszeit in Frankfurt an den Start gehen können. Allerdings war ich nach der Trainingspause gerade einmal im Stande, 10 km in 37 – 38 Minuten zu laufen und mein Knie schmerzte immer nach wie vor leicht. Deshalb war für mich klar, dass ich mein Ziel von 2:25 Stunden niemals erreichen könnte. Somit stand im Herbst 2016 relativ sicher fest, dass mein Hauptziel für 2017 der Frankfurt Marathon sein würde. Im Frühjahr wollte ich meine 10-km- und Halbmarathon-Bestzeit steigern. Außerdem hatte ich mir wieder vorgenommen, bei den deutschen Halbmarathonmeisterschaften zu starten, bei denen ich die Jahre zuvor immer Bestzeit gelaufen war und 2015 sowie 2016 jeweils die Bronzemedaille in der Altersklasse M35 gewinnen konnte. Waren 2016 der Termin und der Ort dieser Meisterschaften vom Deutschen Leichtathletik Verband erst wenige Wochen zuvor bekanntgegeben worden (ein Umstand, der nicht nur bei mir, sondern in der ganzen deutschen Läufergemeinde für Unverständnis gesorgt hatte), standen Termin und Ort für 2017 bereits jetzt fest: 9. April, Hannover. In den vergangenen Wochen zuvor hatte ich lange mit meinem Vereinskameraden Hugo diskutiert, ob wir daran teilnehmen oder nicht, denn es gab eine Terminkollision. Hugo war von 2014 – 2016 jeweils deutscher Marathonmeister in der AK 60 und wird seit drei Jahren von mir trainiert. So steigerte er 2016 in Frankfurt seine Bestleistung auf 2:49:48 Stunden und schaffte in den vergangenen Jahren bei diversen deutschen Meisterschaften (Cross, Halbmarathon, 10 km, Marathon) regelmäßig den Sprung auf das Podest. Eigentlich hätte es gar keine Diskussion geben dürfen, denn für uns beide waren die deutschen Halbmarathonmeisterschaften der Höhepunkt der Frühjahrssaison. Mindestens genauso wichtig wie diese Meisterschaften war aber in den vergangenen Jahren unser Ostertrainingslager in Tirrenia (zwischen Pisa und Livorno), das traditionell in der ersten Woche der Osterferien bis zum Ostermontag stattfindet. Begonnen hatte alles bereits 1999, als ich gemeinsam mit meiner Trainerkollegin Melanie und ihrem Ehemann Stephan - seine Halbmarathonbestzeit ist übrigens mit 1:03:23 Stunden - und ihrem damals noch nicht einmal zwei Jahre alten Sohn Tom die Reise nach Tirrenia antrat. Das verschlafene Nest im Westen der Toskana war in den 80er- und auch weiterhin in den 90er-Jahren bei Mittel- und Langstreckenläufern, aber auch Gehern, ein extrem beliebter Ort für das Frühjahrstrainingslager. Mit meinen 19 Jahren war ich erstaunt, wie viele Läuferinnen und Läufer in den herrlichen Pinienwäldern ihre Runden drehten. Hier trafen sich Weltklasseläufer und ganz normale Läufer wie du und ich. So war z. B. 2002 auch Dieter Baumann in Tirrenia. Da Melanie und Stephan bereits seit mehreren Jahren mit Dieter befreundet waren, kam auch ich in Kontakt mit Deutschlands wohl berühmtesten und nach wie vor schnellsten 5.000-Meter- und 10.000-Meter-Läufer. Nach diesem tollen Erlebnis dauerte es neun Jahre, bis ich wieder nach Tirrenia kam, dieses Mal aber als Athlet und als Trainer. Gemeinsam mit Conny und acht Athleten kehrten wir 2011 in die Toskana zurück, wo wir seitdem jedes Jahr unser Trainingslager verbrachten.

    Für 2017 hatte ich bereits 30 Zusagen, ich konnte also nicht einfach nach Hannover reisen und so die ersten zwei Tage des Trainingslagers verpassen, vor allem da ich gemeinsam mit Conny und Melanie das gesamte Trainingslager organisiere. Darüber hinaus trennen Hannover und Tirrenia mehr als 1.250 Straßenkilometer. Selbst wenn ich in Hannover direkt nach der Siegerehrung mit dem Auto losfahren würde, wäre ich bestenfalls Montagfrüh in Tirrenia. Ich wäre nicht nur völlig erschöpft, sondern müsste die Zeit in der Toskana als „Erholungslager nutzen. Schließlich macht es wenig Sinn, in den Tagen nach einem Halbmarathon ein intensives Trainingslager durchzuziehen. Für mich war also die deutsche Halbmarathonmeisterschaft gestorben. Hugo entschied sich gegen das Trainingslager und für den Halbmarathon in Hannover. Mein Saisonhöhepunkt im Frühjahr war also verschwunden. Nach dieser Entscheidung suchte ich nach einem neuen Wettkampf, dem ich meine volle Aufmerksamkeit nach der Cross-Saison im Februar und März, mit ihren Höhepunkten bei den bayerischen Meisterschaften am 19. Februar in Kemmern (Oberfranken) und den deutschen Meisterschaften am 11. März in Löningen (Niedersachsen), zukommen lassen könnte. Da waren die bayerischen 10-km-Meisterschaften am 1. April in Neuhaus, die bayerischen Halbmarathon-Meisterschaften am 23. April in Augsburg und natürlich die diversen Läufe der Oberland Challenge. Am 1. April würde ich auf jeden Fall starten, denn gemeinsam mit meinen Teamkollegen hatte ich in den vergangenen zwei Jahren jeweils die Silber- und Bronzemedaille im Team gewonnen, und im vergangenen Jahr sogar die Bronzemedaille in der Einzelwertung bei den Männern. Zur Erklärung: Mit „Männern meine ich alle Männer, nicht nur die männlichen Läufer meiner Altersklasse, der AK M35.

    Der 1. April war also gesetzt. Außerdem wäre ein schneller Zehner im Vorfeld eines Halbmarathons eine optimale Vorbereitung. Die bayerischen Halbmarathon-Meisterschaften wären natürlich ebenfalls ein lohnenswerter Wettkampf, schließlich könnten wir im Team und ich im Einzel ganz vorne mitmischen. Doch eine neue Bestzeit wäre in Augsburg nur schwer zu erzielen. Zwar gilt die Strecke als pfeilschnell, allerdings ist die Konkurrenz bei diesen Meisterschaften meist nicht so gut, sodass ich mit ziemlicher Sicherheit alleine laufen müsste. Was aber nicht heißt, dass ich automatisch der Sieger wäre, denn mit meiner Halbmarathon-Bestzeit war ich 2016 in Bayern nur auf dem 23. Platz der Bestenliste! Vielleicht würde ich in Augsburg starten, aber sicherlich nicht in Topform, denn diese wollte ich mir gerne für einen anderen Wettkampf aufsparen, aber für welchen?

    Eigentlich wollte ich ja im Frühjahr meine Halbmarathon-Bestzeit erneut verbessern, vielleicht in die Bereiche von 1:08 oder sogar 1:07 Stunden vordringen. Denn insgeheim erhoffte ich mir für mein Marathondebüt in Frankfurt eine Zeit von unter 2:24 Stunden (2:22 Stunden wären natürlich der Wahnsinn!). Doch wo würde ich ein Teilnehmerfeld finden, in dem ich mich verstecken und so während des Rennens im Windschatten anderer Läufer meine Kräfte schonen könnte? Natürlich hätte ich beim Halbmarathon in Berlin am 2. April die Möglichkeit, ein richtig gut besetztes Rennen zu bekommen, bei dem im vergangenen Jahr mehr als 40 Athleten unter 1:10 Stunden geblieben waren. Aber am 1. April waren ja die bayerischen 10-km-Meisterschaften. Dieser Termin war fest in meinem Saisonplan verankert, ferner waren alle 20.000 Startplätze in Berlin bereits seit Wochen ausgebucht. Beim Silvesterlauf in München hatte ich zwar von einem Laufkollegen erfahren, dass für die Topläufer bis kurz vor dem Start die Möglichkeit besteht, sich anzumelden, auch wenn offiziell das Startplätzekontingent aufgebraucht ist. Doch momentan waren sich die Veranstalter nicht sicher, ab welcher Bestzeit man als „Topläufer gilt. „Irgendwas um die 1:10 Stunden, hatte mein Lauffreund Florian Wenzler zu mir gemeint, der einige Tage vorher mit den Veranstaltern telefoniert hatte, da er mit seiner Bestzeit von 1:11 Stunden gerne in den Startblock der Topläufer gewollt hätte. Sie können es ihm nicht garantieren, ob er in diesen Startblock dürfe oder ob er sich, wie im vergangenen Jahr, zunächst im Pulk der anderen Läufer nach vorne durchkämpfen müsse, so die Veranstalter auf Florians Anfrage. Ich hätte mich also möglicherweise sogar noch für Berlin anmelden können, doch die bayerischen 10-km-Meisterschaften in Neuhaus gingen vor. Ich begann also wieder von vorne, welcher Halbmarathon sollte es sein?

    Bevor ich mich dieser Frage widmen konnte, erhaschte ich auf dem Bildschirm meines Laptops unten in der Taskleiste das Excel-Symbol. Dabei fiel mir ein, dass ich ja den Trainingsplan für Max erstellen wollte. Also Gedanken sortieren und zurück zu den 1.500 m. Diese Strecke war das erklärte Saisonziel von Max, er wusste also, was er 2017 wollte. Sein zweites Saisonziel hatten wir (also Melanie und ich) ihm quasi aufs Auge gedrückt, wobei nach kurzer Bedenkzeit auch Max von diesem Ziel mehr als angetan war: Die Qualifikation für die deutschen Meisterschaften über 3 x 1.000 m der Männer. Staffelwettbewerbe haben bei uns im Verein bereits seit mehreren Jahren einen sehr hohen Stellenwert. Ob bayerische oder deutsche Meisterschaften, in großer Regelmäßigkeit nehmen unsere Läufer, egal ob über 4 x 200 m in der Halle, 4 x 400 m, 3 x 800 m oder 3 x 1.000 m an diesen Teamwettbewerben teil, meist sogar mit großem Erfolg. Doch bislang hatte es bis jetzt keine unserer Staffeln geschafft, sich für die deutschen Aktivenmeisterschaften (Meisterschaften der Erwachsenen) in einem Staffelwettbewerb zu qualifizieren. Da aber 2017 Tom und Lucas, zwei unserer stärksten Mittelstreckenläufer, dem Jugendbereich entwachsen waren, war dieses Ziel in greifbare Nähe gerückt. Denn gemeinsam mit Andi, der als 400 m Hürdenläufer ebenfalls eine sehr schnelle 1.000-Meter-Bestzeit aufweisen kann, rückte die Qualifikationszeit von 7:40 Minuten auf einmal in greifbare Nähe. Melanie hatte diesen Plan gefasst und dabei Max ganz vergessen, da sie nicht bedacht hatte, dass er bereits wieder am 7. Mai aus den USA nach Deutschland zurückkehren würde und so für die Staffel zur Verfügung stehen würde. Damit hätten wir sogar vier starke Läufer, die im Bereich von 2:30 – 2:38 Minuten laufen könnten. Die deutschen Staffelmeisterschaften würden Anfang August sein, doch leider gibt es eigentlich immer nur einen einzigen Wettkampf um die Norm zu unterbieten. Das sind die bayerischen Staffelmeisterschaften. Der Termin dafür war der 6. Mai, also einen Tag zu früh, denn Max würde erst am nächsten Tag aus den USA zurückkehren. Zur Sicherheit öffnete ich wiederholt den Terminplan mit den wichtigsten Wettkämpfen für unsere Athleten, den mir Melanie einige Tage zuvor geschickt hatte. Vielleicht hatte ich mich ja getäuscht. Aber leider war dem nicht so. Dafür sah ich, dass am 6. Mai nicht nur die bayerische Staffelmeisterschaft in Türkheim, sondern auch der Stadtlauf Geretsried stattfinden würde. „Das gibt es doch nicht", sagte ich zu mir selbst. Eigentlich wollte ich bei diesem Stadtlauf über 10 km, der nur 20 Autominuten entfernt von Penzberg stattfindet, mitlaufen, denn der Geretsrieder Stadtlauf ist einer der neun Läufe der Oberland Challenge und war in den vergangenen Jahren fester Bestandteil meines Wettkampfplans. Ich musste mich schon wieder entscheiden, selbst laufen oder als Trainer mit nach Türkheim fahren.

    Wie auch immer die Entscheidung ausfallen würde, mir war klar, dass es 2017 schwierig werden würde, in der Gesamtwertung der Oberland Challenge unter die ersten Drei zu kommen. Das große Problem wäre dabei nicht unbedingt, dass ich nicht die notwendigen fünf Läufe schaffen würde, sondern das Punktesystem der Laufserie. Bei jedem einzelnen Lauf wird die Zeit der fünf Erstplatzierten genommen und daraus eine Durchschnittszeit gebildet. Diese Durchschnittszeit wird mit 100 Punkten gleich gesetzt. Von diesem Basiswert aus werden die Punkte berechnet, die jeder Läufer bei dem jeweiligen Lauf erhält. Die Punktzahl, die man bei einem Wettbewerb der Challenge erhält, ist also maßgeblich davon abhängig, welche Konkurrenten am Tag X am Start sind. So kann es also passieren, dass man bei einem 10-km-Lauf mit einer Zeit von 34:30 Minuten als Erstplatzierter 106 Punkte erhält, beim nächsten 10-km-Lauf mit exakt derselben Zeit als Erstplatzierter aber nur 101,50 Punkte. Dieser Umstand macht die Oberland Challenge kaum berechenbar, was vielleicht unfair wirken mag, aber auch den Reiz der Serie ausmacht. D.h. an je weniger Läufen ich teilnehmen würde, desto geringer wäre meine Chance auf eine vordere Platzierung in der Gesamtwertung. Hinter den ersten beiden Läufen der Serie stand also zum jetzigen Zeitpunkt ein Fragezeichen. Aber ich wusste, dass ich beim dritten Lauf der Serie auf jeden Fall Zeit haben würde, da es hier keine Terminüberschneidungen zu geben schien: der Sixtus-Lauf Schliersee am 20. Mai. Dieser Halbmarathon, einmal um den wunderschönen Schliersee herum, war bislang nicht Bestandteil der Oberland Challenge gewesen, wurde aber von den Organisatoren für das Jahr 2017 in die Serie aufgenommen. Davon erfuhr ich bei der Gesamtsiegerehrung, als der Flyer mit den Terminen für 2017 ausgegeben wurde. Ich war zunächst von dem neuen Lauf in Schliersee wenig begeistert, ehrlich gesagt, ich stand diesem Wettkampf sofort ablehnend gegenüber. Warum soll ich bei einem Landschafts-Halbmarathon in Topform antreten? Da gibt es doch viel zu viele Höhenmeter, als dass ich eine vernünftige Zeit laufen könnte? Und dieser Termin, der 20. Mai, da habe ich eh bestimmt keine Zeit. Das waren meine ersten Gedanken, die ich auch sogleich Conny und den anderen Teilnehmern der Siegerehrung, die neben mir an den Tischen saßen, mitteilte. Doch im Verlauf der nächsten Wochen änderte sich meine Einstellung zu diesem Lauf. Zunächst stellte ich fest, dass ich sehr wohl Zeit hatte. Ich freundete mich mehr und mehr mit dem Gedanken an, etwas Neues ausprobieren zu wollen. Außerdem besuchte ich die Webseite des Veranstalters und musste mir eingestehen, dass ich den Organisatoren der Oberland Challenge Unrecht getan hatte. Eigentlich war dieser Lauf perfekt für mich, denn er war genau auf meine Stärken zugeschnitten: welliges Profil, teilweise nicht ganz ebener Untergrund, eventuell warme Temperaturen (ich liebe warmes Wetter bei Wettkämpfen) aufgrund der Startzeit um 12 Uhr und des relativ späten Termins Ende Mai, und natürlich die Streckenlänge mit 21 Kilometern. Außerdem gehört der Schliersee-Lauf in die Extrem-Wertung der Oberland Challenge. Die neun Läufe der Challenge sind in drei Kategorien unterteilt: Speed, Cross und Extrem. Aus jeder der drei Kategorien muss man einen Lauf absolvieren. Dies war in den vergangenen Jahren immer ein großes Problem für mich gewesen, da zwei der drei Extremläufe Bergläufe sind und ich am Berg wesentlich langsamer bin als im Flachen. Ich habe es jedes Jahr erneut versucht, am Berg mit meinen Konkurrenten, die ich im Flachen locker abhänge, mitzuhalten, doch meist hatte ich keine Chance.

    Auf der ersten Hälfte eines Berglaufs denke ich mir immer, dass das Tempo „voll langsam" ist und ich dieses Mal ganz vorne landen kann. Doch spätestens ab der Halbzeit merke ich, dass meine Beine nicht mehr können und ich langsamer und langsamer werde, obwohl ich regelmäßig Höhenmeter in meine Dauerläufe einbaue. Bei meinem letzten Berglaufversuch am Blomberg bei Bad Tölz hatte ich sage und schreibe vier Minuten Rückstand auf den Sieger bei gerade einmal 20 Minuten Laufzeit verloren. Dass der Sieger Toni Lautenbacher kurz darauf deutscher Berglaufmeister wurde, bei der Berglauf-WM als bester Deutscher trotz Seitenstechens Platz 16 belegte und zur Weltklasse im Skibergsteigen gehört, mag man vielleicht als Entschuldigung akzeptieren. Allerdings verliere ich auf Toni, der im Nachbarort wohnt, über 10 km gerade einmal eine Minute. Das ist aber nur eine grobe Schätzung, da Toni sehr wahrscheinlich bei einem Laufwettkampf im Flachen noch nie an sein Limit gehen musste, was vor allem seinen Lauftrainer ärgert, der gerne einmal wissen möchte, was sein Schützling wirklich zu leisten imstande wäre.

    Der Sixtus-Lauf Schliersee wäre für mich eine mehr als geeignete Möglichkeit, in der Extremwertung eine hohe Punktzahl zu erreichen, denn über die Halbmarathon-Distanz bin ich relativ gesehen deutlich schneller unterwegs als über 10 km oder andere kürzere Distanzen. Diese Tatsache wird dadurch untermauert, dass meine 10-km-Bestzeit eine Durchgangszeit ist. Damals, bei den deutschen Halbmarathonmeisterschaften 2016 in Bad Liebenzell, durchlief ich die 10-km-Marke nach 32:39 Minuten (falls die Kilometerschilder auf der Strecke stimmten), was neun Sekunden schneller war als meine offizielle 10-km-Bestzeit. Wenn ich in Schliersee in Topform wäre, könnte ich sehr viele Punkte für die Gesamtwertung der Oberland Challenge sammeln. Zudem müsste mir die Tatsache entgegen kommen, dass der Schlierseelauf kein reiner Straßenlauf ist, sondern eine Mischung aus Trail-, Wald- und Straßenlauf. Ich liebe es, wenn es hin und wieder bergauf und bergab geht, über Wurzeln, unebenes Gelände und verschiedene Untergründe. Dabei muss ich kaum mein Tempo reduzieren, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Läufern, die nicht ganz so trittsicher sind wie ich. Obwohl ich, wie oben erwähnt, bislang nie an einem Traillauf teilgenommen hatte, hatte ich schon jede Menge Erfahrung mit verschiedenen Laufuntergründen sammeln können.

    Die Aussage „ich habe noch nie an einem Traillauf teilgenommen ist allerdings nicht ganz richtig. Korrekt wäre: „Ich habe noch nie an einem Wettkampf teilgenommen, der sich selbst als Trail bezeichnet. Der Begriff „Trail kam in den vergangenen Jahren immer mehr in Mode, doch eigentlich gibt es Trailläufe schon seit ich denken kann, doch hießen diese entweder Crossläufe, Waldläufe oder verrieten mit ihrem Namen allenfalls den Ort der Veranstaltung, nicht aber den Untergrund. Mittlerweile ist man dazu übergegangen, die Läufe mit der Zusatzbezeichnung „Trail zu kennzeichnen, um die Laufgemeinde darauf hinzuweisen, dass der Lauf bergauf und bergab über Stock und Stein führt und nicht eben nur über Asphalt. Dabei sind streng genommen die meisten Berg-, Wald- und Crossläufe ebenfalls Trailläufe, doch vor allem die Begriffe Waldlauf und Crosslauf sind mittlerweile etwas aus der Mode gekommen und haben einen angestaubten Charakter. (Aus diesem Grund haben wir vom TSV Penzberg auch unseren 2015 zum ersten Mal durchgeführten Lauf „Team-Trail genannt und nicht „Team-Crosslauf). Bereits 1989 hatte ich bei einem „Traillauf teilgenommen, dem Benediktbeurer Kirtalauf, der über Kieswege und sogenannte „Single Trails führt, und auch heute (bei fast identischer Streckenführung) nach wie vor so heißt wie damals. Seit Anfang der 1990er bin ich auch regelmäßiger Gast bei diversen Crosslaufmeisterschaften. Ich liebe Crossläufe, denn hier kann man auch einmal Läufer, gegen die man auf der Straße oder auf der Bahn keine Chance hat, nicht nur ärgern, sondern eventuell sogar bezwingen. Da ich sie so schätze und ich diese als unerlässlich in der Saisonvorbereitung für das Frühjahr bzw. den Sommer erachte, habe ich in den vergangenen Jahren die ganze Entwicklung zum Thema „Trailrunning" einerseits etwas belächelt, andererseits aber mit Freude verfolgt. Denn bei uns im Leistungssport gehörte Trailrunning schon immer dazu, sei es im Training oder im Wettkampf, wir nannten es nur nicht so.

    Ich muss gestehen, ich habe Läufe, die den Namen „Trail" in sich tragen, sozusagen boykottiert. Trailläufe hatten in den vergangenen Jahren immer Zuwächse bei den Teilnehmern, während traditionelle Crossläufe teilweise mit rückgängigen Teilnehmerzahlen zu kämpfen hatten. Natürlich liegt dies daran, dass die Veranstalter der Trailläufe die breite Schar der Hobbyläufer für sich gewinnen konnten, da sie ihnen Abenteuer und neue Herausforderungen versprachen. Die Crosslaufveranstalter sprachen hingegen oftmals nur der Klientel der Leistungsläufer an, deren Zahl (und Leistungsfähigkeit) sich im Vergleich zu den 1980ern und 1990ern deutlich verringert hatte. Mittlerweile hatte ich den Trend akzeptiert und war sogar etwas neugierig darauf geworden. Der Lauf am Schliersee kam mir also gleich in doppelter Weise entgegen: einmal, so hoffte ich, als wertvoller Punktelieferant für die Oberland Challenge, zum anderen als erste Erfahrung und als hochqualitatives Training für die mögliche Teilnahme an der Traillauf-WM.

    Gigathlon – Mountainbike-Marathon ohne Mountainbike

    Trailläufe an sich sollten für mich, als erfahrenen Crossläufer, keinerlei Problem darstellen. Doch die Distanz lag deutlich außerhalb meiner bisherigen Komfortzone, um nicht zu sagen, die Distanz von 50 Kilometer war quasi Lichtjahre von meinen bisherigen Wettkampfdistanzen entfernt. Trotzdem traute ich mir so eine Distanz ohne Weiteres zu. Ich war sogar überzeugt davon, dass ich einigermaßen konkurrenzfähig sein müsste, das entsprechende Training vorausgesetzt. Um zu verstehen, woher diese Zuversicht stammt, muss ich einerseits zwölf Jahre zurück in die Vergangenheit blicken, andererseits einfach meine Trainingserfahrungen in den vergangenen zwei, drei Jahren beschreiben. 2004 wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass mein Körper wohl etwas anders funktioniert als bei den anderen Menschen (vielleicht haben andere Menschen diese Fähigkeit ebenfalls, trauen sich aber nicht, an ihre Grenzen zu gehen).

    „Wir brauchen jemanden, der für unser Team beim Gigathlon in der Schweiz Anfang Juli startet. So startete die verhängnisvolle Unterhaltung mit Peter Maisenbacher Mitte Juni 2004. Vielen ist Peter als Moderator bei diversen Läufen wohlbekannt, sei es beim Berlin Marathon, beim München Marathon oder bei zahlreichen anderen Veranstaltungen, natürlich vor allem im Bayern. Aber auch als Autor, der mit seinen Kolumnen und Artikeln in diversen Laufzeitschriften nicht nur sein Fachwissen mit den Leserinnen und Lesern teilt, sondern auf oft unterhaltsame Art das Thema „Laufen von allen Seiten beleuchtet, hat er sich in der Läufergemeinde einen Namen gemacht. Damals arbeitete ich für Peter. Wir führten zahlreiche Laktat-Leistungsdiagnostiken durch, erstellten Trainingspläne, leiteten Laufkurse, erstellten Broschüren zum Thema „Laufen für Krankenkassen und Unternehmen, gründeten eine Lauf-Internetseite (die leider nach 18 Monaten wieder eingestellt werden musste) und … neben der Arbeit liefen wir auch tatsächlich gemeinsam. Ich war damals noch ein waschechter Mittelstreckenläufer mit meinen Spezialstrecken 800 m und 1.500 m, Peter war gerade dabei sich für sein Marathondebüt vorzubereiten. Aus irgendeinem Grund hatte er sich ein Team für den Gigathlon zusammengestellt. Der Gigathlon in der Schweiz ist ein Ultra-Ausdauerrennen, das man alleine, zu zweit oder als 5er-Team absolvieren kann. Peter hatte sich für das 5er-Team entschieden. An zwei Tagen mussten fünf Kilometer geschwommen, 71 km (1.250 Höhenmeter) gelaufen, 139 km (4.000 Höhenmeter) mit dem Mountainbike und 159 km (2.750 Höhenmeter) mit dem Rennrad geradelt, sowie mit Inline-Skates 42 Kilometer zurückgelegt werden. Er erzählte mir von seinem Vorhaben und erwähnte so nebenbei, dass ihm derzeit ein Teammitglied fehle. Ich überlegte schon, wie ich ihm schonend beibringen könnte, dass ich auf gar keinen Fall an einem Wochenende einen Marathon und dazu weitere 30 Kilometer laufen könnte, schließlich befand ich mich mitten in meiner Bahnsaison und die Saisonhöhepunkte standen noch bevor. Außerdem war ich in den vergangenen zwei Monaten nur einmal länger als eine Stunde gelaufen. Ich dachte bereits nach, wer den Laufpart übernehmen könnte, doch Peter suchte gar keinen Läufer, sondern einen Mountainbiker. Es waren noch drei Wochen bis zu dem Rennen in der Schweiz und der planmäßige Mountainbiker war kurzfristig abgesprungen. Da Peter wusste, dass ich keinerlei Erfahrungen mit Mountainbike-Rennen hatte und nicht einmal ein eigenes Fahrrad besaß, fragte er mich, ob ich jemanden kenne, der einspringen könnte. Da mir spontan niemand einfiel, machte ich den Vorschlag, dass ich ja für das Team laufen könnte und der planmäßige Läufer, der zumindest über ein bisschen Raderfahrung verfügte, sich auf das Mountainbike setzen könnte. Dieser Vorschlag war natürlich nicht wirklich ernst von mir gemeint, denn ich hatte keine Lust (und natürlich nicht den nötigen Trainingsstatus) um diese extreme Laufbelastung durchzustehen. Gott sei Dank lehnte Peter den Vorschlag ab, da sich der für die Laufdistanzen vorgeschlagene Athlet bereits in der unmittelbaren Vorbereitung für den Marathon befand. Erleichtert von dieser Antwort ließ ich mich zu einem weiteren Statement hinreißen: „Wenn du niemand anderen findest, dann springe ich schon ein. 100 Kilometer mit dem Mountainbike mit fast 3.000 Höhenmetern werde ich schon schaffen. Peter versicherte sich nochmals bei mir, ob ich das wirklich ernst meine. Ich schaute ihn nur fragend an und bestätigte erneut, dass ich für das Team zur Verfügung stünde, falls er niemanden auftreiben könnte. Tja, hätte ich das besser einmal nicht getan.

    Denn ich wusste nicht, dass Peter innerhalb der nächsten drei Tage die definitive Teamliste beim Veranstalter vorlegen musste. Und da er natürlich niemanden mehr fand, war ich im Team. Ich, der zum letzten Mal vor zwei Jahren auf einem Fahrrad saß. Ich, dem bereits nach 20 Minuten auf dem Fahrrad der Hintern so schmerzte, dass ich ausschließlich im Stehen fahren konnte. Ich, der nicht einmal ein eigenes Fahrrad, geschweige denn einen Helm, eine Radhose oder Radhandschuhe besaß. Ich, der in den vergangenen Wochen vor allem Tempoläufe für meine 800-Meter-Rennen gemacht hatte. Ich … es gäbe weitere tausend Gründe, die gegen mich gesprochen hätten. Aber es gab einen Grund, der für mich sprach. Ich glaubte von Anfang an daran, dass ich diese Herausforderung meistern würde, daran hatte ich keinen Zweifel. Warum sollte ich nicht am ersten Tag des Gigathlons 99 Kilometer mit 2.700 Höhenmetern schaffen. Zielschluss war nach 7:30 Stunden, das sollte doch überhaupt kein Problem sein. Ich war so überzeugt von mir, dass ich meinen Trainingsplan nicht änderte und weiterhin für die 800-Meter-Wettkämpfe trainierte. Na ja, exakt zwei Wochen vor meinem ersten Radrennen setzte ich mich tatsächlich auf das Mountainbike meines Vaters und fuhr insgesamt 36 Kilometer mit 350 Höhenmetern. Das musste als Vorbereitung reichen. Ein Problem gab es weiterhin, ich hatte nach wie vor kein Mountainbike. Peter bestand darauf, dass ich seines nehmen sollte und wollte unbedingt, dass ich mit Klickpedalen fahren sollte. Damit käme ich leichter auf den 2.412 Meter hohen Tomülpass hinauf. Ich weigerte mich allerdings, da ich schon zu viele Geschichten von Radfahrern gehört hatte, die aus ihren Klickpedalen nicht mehr herauskamen und deshalb gestürzt waren. Auf der Fahrt in die Schweiz einigten wir uns daraufhin auf einen Kompromiss. Dieser Kompromiss waren „Körblis. Bei einem Schweizer Fahrradhändler erkundigten wir uns nach Alternativen für Klickpedale und der Fachhändler vor Ort empfahl uns eben diese „Körblis. Das sind Schlaufenpedale, bei denen der Vorfuß in einer korbartigen Vorrichtung steckt und man somit auch beim Hochziehen des Beines Kraft auf die Kurbel ausüben kann. So „optimal" vorbereitet konnte gar nichts mehr schief gehen. Nach einer Nacht im Campingzelt, in der ich kaum geschlafen hatte, gingen wir gemeinsam zum Start. Als Erster von uns war Peter dran, der die 94 Kilometer auf dem Rennrad vom Startort Bergell über den Malojapass nach Sils fahren musste. Wir fuhren währenddessen mit unserem Teamfahrzeug nach Sils, wo ich mich startklar machte. Kaum hatte Peter mich abgeklatscht, trat ich mit aller Kraft in die Pedale und machte sofort Boden auf meine Konkurrenten gut. Die ersten knapp eineinhalb Stunden überholte ich einen nach dem anderen, ich pflügte durch das Feld und verbesserte mich Platz um Platz. Nach 30 Kilometern und den ersten 600 Höhenmetern fühlte ich mich fantastisch, mal abgesehen von meinem Hintern, dieser schmerzte unerträglich, aber ich hatte ja fast schon ein Drittel geschafft. So konnte es weiter gehen. Doch ich hatte die Rechnung ohne meine Oberschenkel-Rückseite gemacht. Ziemlich genau nach Kilometer 31 verkrampfte mein Bizeps femoris auf der rechten Oberschenkel-Rückseite. Beim ersten Mal machte ich mir noch keine Sorgen, doch bereits zehn Minuten später passierte es schon wieder. Die Schmerzen zwangen mich dazu, das Bein zu strecken und ein paar Tritte auszulassen.

    Von nun an wurden die Intervalle zwischen den Krämpfen immer kürzer, quasi im Minutentakt schoss es in meinen Oberschenkel. Ich musste zwischendurch sogar absteigen und kam nur noch im Schneckentempo den Berg hinauf. Für die nächsten neun Kilometer brauchte ich fast 1:30 Stunden. Nach 39 Kilometern und insgesamt 1.000 Höhenmetern kam eine Versorgungsstation, an der es Cola und Magnesiumsticks gab. Ich trank mehrere Liter und nahm wer weiß wie viele Milligramm (sehr wahrscheinlich sogar Gramm) Magnesium zu mir. Jetzt folgte das steilste Stück der gesamten Route, knapp 800 Höhenmeter auf neun Kilometern im teilweise hochalpinen Gelände. Die letzten 500 Meter führten sogar durch Schneefelder, sodass man das Fahrrad schieben konnte. Die Krämpfe kamen jetzt nur noch im 10-Minuten-Takt, damit konnte ich leben. Trotzdem wurde ich andauernd von Radfahrern, die ich vorher passiert hatte, zurücküberholt. Nach 48 Kilometern war ich endlich am höchsten Punkt angekommen, von nun an ging es fast ausnahmslos bergab. Ich war bereits 4:30 Stunden unterwegs, es würde kritisch werden mit dem Zielschluss. Eigentlich wollte ich nach spätestens fünf Stunden im Ziel sein, kein Wunder also, dass nach sechs Stunden mein Handy klingelte. Peter war dran, er wollte wissen, wo ich sei und ob es mir gut ginge. Ich beruhigte ihn und sagte, dass ich es auf jeden Fall rechtzeitig schaffen würde und er sich keine Sorgen machen müsste. Diese Worte konnten vielleicht Peter beruhigen, mich aber nicht wirklich. Ich hatte große Zweifel, ob ich vor Zielschluss ankommen würde, denn auf den letzten 14 Kilometern ging es weitere 400 Meter hinauf. Doch zu meiner Überraschung war dieser letzte Abschnitt überhaupt kein Problem für mich, ich flog förmlich den Anstieg hinauf. Die Cola und das viele Magnesium hatten wohl dafür gesorgt, dass meine Muskulatur wieder optimal versorgt war. Nach etwas mehr als sieben Stunden übergab ich letztendlich das virtuelle Staffelholz an unsere Schwimmerin. Erschöpft setzte ich mich an eine Wand. Ich hatte meinen Körper besiegt, doch meine Psyche war völlig niedergeschlagen. Ich weiß bis heute nicht genau, warum ich auf einmal weinen musste. War es vor Erleichterung? War es vor Erschöpfung? War es vor Wut auf mich selbst und meinen Körper, der nicht so wollte, wie ich es gerne gehabt hätte oder war es darüber, dass ich meinem Team die Chance auf eine vordere Platzierung genommen hatte? Nach zehn Minuten ging es mir auf jeden Fall besser und ich fühlte mich wieder relativ fit.

    Die Stunden nach diesem extremen Erlebnis lassen sich dann ganz einfach zusammenfassen: lachen, grinsen, quatschen, essen, essen und immer wieder essen. Ich glaube, ich habe an diesem Abend (und am nächsten Tag) noch nie so viele Kalorien in so kurzer Zeit gegessen. Normalerweise hätte ich mich ja am nächsten Tag erneut aufs Rad schwingen müssen, aber meine Teamkollegen hielten mich davon ab, da sie meinen Körper schützen wollten. Denn ich hatte ihnen erzählt, dass mir nach 4 -5 Stunden auf einmal mein Hintern nicht mehr wehtat, und ich ohne Probleme auf dem mehr als unbequemen, schmalen Sattel sitzen konnte. Die Erklärung für dieses Phänomen erhielt ich bei der anschließenden Dusche. Ich spürte zwischen meinem Bauchnabel und meinem Sitzbein nichts mehr. Ich war absolut gefühlslos. Anscheinend hatte ich mir irgendeinen Nerv eingeklemmt (ich weiß bis heute nicht welchen). Ich hätte mich also am Sonntag ohne Probleme auf die zweite Etappe begeben können, doch meine Teammitglieder meinten zu mir, dass ich damit alles zusätzlich verschlimmern würde. Ich war zwar enttäuscht über diese Entscheidung, doch im Nachhinein war dies wohl die einzig richtige gewesen. Denn wer weiß, was eine weitere Etappe angerichtet hätte. So übernahm Peter meinen Part. Und zwei Tage später spürte ich unterhalb meines Bauchnabels endlich wieder etwas und wenige Tage später war alles in seinen Normalzustand zurückgekehrt.

    Ich hatte es also tatsächlich geschafft. Ich war einen Mountainbike-Marathon (wenn auch einen relativ kurzen) gefahren, ohne mich darauf vorbereitet zu haben. Wären die Krämpfe nicht gewesen, wäre ich sogar im vorderen Drittel mitgefahren, so befand ich mich im Vorderfeld der langsameren Hälfte des Teilnehmerfeldes. Die Krämpfe kamen im Übrigen nicht von der ungewohnten Belastung oder davon, dass ich mich übernommen hatte. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass sich mein Körper bereits in den Monaten vor dem Gigathlon in einem eklatanten Magnesiummangel befunden hatte. Schon in den Wochen zuvor hatte ich während und nach dem Training ständig Krämpfe in der Oberschenkel-Rückseite und in den Waden. Da sich diese auch nach dem Gigathlon nicht besserten, vereinbarte ich einen Termin mit dem Arzt des Bayerischen Leichtathletik Verbandes, der zu diesem Zeitpunkt auch Dozent von mir an der Sporthochschule war. Otto Zelger unterrichtete mich im Fach „Sporttraumatologie", außerdem trafen wir uns (bzw. treffen uns heutzutage weiterhin) auf diversen Leichtathletikwettkämpfen. Zwei Wochen nach dem Gigathlon erstellte Otto nicht nur ein großes Blutbild, sondern führte auch eine Laktat-Leistungsdiagnostik durch. Ich hatte mich erstaunlich gut erholt und war in guter Form. Einzig mein Magnesiumwert war viel zu niedrig. In den Jahren danach nahm ich nun täglich Magnesiumpräparate zu mir. Sobald ich diese einige Tage vergaß, meldeten sich die Krämpfe zurück. Dies änderte sich erst Ende 2015, als ich meine Ernährung umstellte, seitdem brauche ich keinerlei Nahrungsergänzungsmittel mehr.

    Diese Erfahrung im Jahr 2004 machte mir bewusst, dass ich meinem Körper mehr zutrauen durfte, als ich bisher gedacht hatte. Wenn ich ohne Vorbereitung eine so harte körperliche Belastung durchstehen konnte, sollte ich doch auch einen 50 Kilometer langen Traillauf bewältigen können, der deutlich kürzer als sieben Stunden dauern sollte. Meine Zweifel, ob ich wirklich bei der Traillauf-WM starten sollte, verflogen langsam. Zum Ende des Abends hatte ich für mich entschlossen, dass dieses Event doch genau das Richtige für mich wäre, aber im Moment behielt ich diese Entscheidung für mich.

    Die Unterdistanz-Zeiten passen einfach nicht

    Am nächsten Morgen klingelte der Wecker um 7:30 Uhr. Ich hatte mich mit Max für 8:30 Uhr verabredet, gemeinsam wollten wir 20 Kilometer laufen. Wir waren uns bis jetzt nicht ganz sicher, ob wir wirklich 20 Kilometer schaffen würden, da es die vergangenen Tage viel geschneit hatte und sämtliche Wege mit Schnee und Eis bedeckt waren. Zudem zeigte das Thermometer -15 °C. Es war die kälteste Nacht des Winters gewesen, mit Temperaturen von -25 °C. Wir starteten beide von zuhause und trafen uns am Stadion. Von hier aus trabten wir sofort auf die uns noch unbekannte Runde. Wir wollten während des Laufs spontan entscheiden, wo es langgehen sollte, schließlich wussten wir nicht, wo der Räumdienst bereits aktiv gewesen war und wo nicht. Erstaunlicher Weise kamen wir trotzdem ganz gut voran, sodass wir uns ziemlich schnell bei einem Kilometerschnitt von 4:10 Minuten einpendelten. Wir unterhielten uns über Max‘ Trainingsplan und dass er ab Morgen wieder im fast 30 °C warmen Florida seine Laufrunden drehen würde. Ich beneidete ihn dafür, denn meine Hände waren trotz zwei paar Handschuhen tiefgefroren. Vor allem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand waren komplett ausgekühlt. Nach 20 Kilometern erreichten wir wieder das Stadion und verabschiedeten uns ohne dabei stehen zu bleiben. Ein kurzes Abklatschen musste reichen. Denn bei dieser Kälte stehen zu bleiben und sich noch lange zu unterhalten, wäre für unser Immunsystem eine unnötige Herausforderung gewesen. Wir vereinbarten, dass wir uns in den nächsten Wochen per Skype unterhalten würden. Ich lief vom Stadion die letzten zwei Kilometer nach Hause, öffnete die Haustür und versuchte vergeblich mit meinen klammen Fingern meine Schnürsenkel zu öffnen. Im Moment konnte ich die Finger kaum bewegen, sodass ich nur mit Hilfe meiner Füße aus den Schuhen schlüpfte. Seit ich meine Ernährung umgestellt und dadurch abgenommen hatte, wurden meine Finger während des Laufens, zumindest bei Temperaturen um den Gefrierpunkt, nicht mehr warm. Mittlerweile hatte ich mich an dieses unangenehme Gefühl gewöhnt. Während meine Finger im Haus langsam auftauten und ich ein wenig dehnte, ließ ich den Lauf gedanklich Revue passieren.

    Für mich war es ein typischer langer Dauerlauf gewesen. Die ersten 6 – 8 Kilometer kam ich nur schwerlich ins Rollen. Doch auf der zweiten Hälfte der insgesamt fast 21 Kilometer fiel es mir immer leichter, den Schnitt von 4:10 Minuten pro Kilometer zu halten. Bei unseren gemeinsamen Dauerläufen verhielt es sich immer so: Je länger wir unterwegs waren, desto besser ging es mir. Bei Max verhielt es sich anders herum: Je länger wir unterwegs waren, desto schwerer fiel es ihm, das Tempo zu halten. In den vergangenen Jahren hatte sich dieses Phänomen immer deutlicher ausgebildet. Ich brauchte bei Dauerläufen oftmals ziemlich lange, um in Schwung zu kommen, doch wenn ich erst einmal warm war, war die Länge eines Dauerlaufs nie ein Problem für mich. Dies war einerseits sicherlich meinem fortgeschrittenen Läuferalter zu verdanken, aber auch meinem Training und meiner Ernährung. Ein Umstand, der mich mehr als optimistisch für mein Trailrunning-Experiment stimmte. Auch bei Tempoläufen war mir schon des Öfteren aufgefallen, dass es mir vor allem zu Beginn oft schwer fiel, das von mir geplante Tempo zu realisieren, gegen Ende der Einheit dies aber meist kein Problem war. Natürlich kennen die meisten Läufer dieses Phänomen, dass das erste Intervall mitunter das schwierigste ist, da man noch nicht richtig warm ist, allerdings waren bei mir die Schwankungen zwischen dem ersten und den letzten Intervallen oftmals riesig. So konnte es sein, dass der erste 1.000er in 3:30 Minuten extrem anstrengend war, sich die letzten 1.000-Meter-Intervalle mit 3:10 Minuten aber nicht schlimmer anfühlten. Ich hatte natürlich lange Zeit darüber nachgedacht, warum dies bei mir so ist. Mehr als 15 Jahre hatte ich mich dem Mittelstreckenlauf verschrieben, war also hohe bis höchste Intensitäten im Training gewöhnt, und hatte Dauerläufe eher immer als notwendiges Übel erachtet, bei denen ich zu allem Überfluss meist deutlich zu schnell startete und daraus fast immer einen Tempodauerlauf machte. Eigentlich hätte mein Körper, trotz der Umstellung auf die längeren Strecken mit Anfang 30, eher so wie Max‘ Körper reagieren müssen. Doch bereits kurz nach meinem Entschluss, die Mittelstrecken an den Nagel zu hängen, merkte ich, dass mein Körper auf längere Dauerläufe und längere Tempolaufeinheiten deutlich schneller reagierte als auf knallharte 400-Meter- oder 600-Meter-Intervalle, so wie ich sie unendliche Male in der Vorbereitung für diverse 1.500-Meter-Läufe gemacht hatte.

    Aus diesem Grund entschloss ich mich im Herbst 2013, als Saisonhöhepunkt für das nächste Frühjahr die deutschen Halbmarathonmeisterschaften in Freiburg auszuwählen. Ich schraubte die Kilometerumfänge nach oben und änderte meine Tempolaufeinheiten in Richtung Entwicklung der anaeroben Schwelle. (Die anaerobe Schwelle ist die maximale Laufgeschwindigkeit, die man in etwa eine

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