Weit war der Weg zurück ins Heimatland: Meine Erlebnisse als Soldat und Kriegsgefangener in Russland/Sibirien
Von Ulrich Slawinski und Andrea Langer
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Über dieses E-Book
Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, Kraft und Kraftlosigkeit, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit – diese scheinbar so gegensätzlichen Worte wurden Eins in einer nicht enden wollenden Zeit. Von 1942 bis 1953 war Ulrich W. Slawinski in Russland/Sibirien in Kriegsgefangenschaft. Er erlebte dort den Winter seines Lebens, nicht nur im Herzen dieses fremden und fernen Landes, sondern auch in den Herzen der Menschen. Das autobiographische Werk "Weit war der Weg zurück ins Heimatland" erzählt aus der Sicht des nun über 90-jährigen Ehemannes, Vaters, Opas und Uropas seine Erlebnisse in unumschweiflicher Form, mit viel Weisheit und Lebenserfahrung.
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Buchvorschau
Weit war der Weg zurück ins Heimatland - Ulrich Slawinski
Ulrich W. Slawinski
Weit war der Weg zurück ins Heimatland
Ulrich W. Slawinski
Weit war der Weg zurück ins Heimatland
Meine Erlebnisse als Soldat
und Kriegsgefangener in Russland/Sibirien
Alle Rechte vorbehalten
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert, verbreitet und genutzt werden, insbesondere nicht in Medien, öffentlichen Vorträgen und Datenerfassungen. In gleicher Weise genehmigungspflichtig ist die Speicherung in analoger oder digitalisierter Form auf Datenträgern jeder Art.
Copyright © by Ulrich W. Slawinski
Deutsche Erstveröffentlichung
Dezember 2015
printed in Germany
Cover von Andrea Langer (M.A. Literatur u. Medien)
FSC-zertifiziertes Papier
ISBN 978-3-7375-7971-1
Vorwort
Das Buch verdankt seine Entstehung zunächst der wiederholten Aufforderung von Verwandten, Freunden und Bekannten, meine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg und in den langen Jahren in russischer Gefangenschaft zu schildern. Als ich an meinem 90. Geburtstag erneut darum gebeten wurde, begann ich mit der Niederschrift. Nun ist es endlich soweit! Ein Jahr brauchte ich, um meine Erlebnisse unter „brauner und „roter
Diktatur zu Papier zu bringen. Ich möchte damit auch dem Wunsch derer nachkommen, die ihre Väter kaum oder gar nicht kennen lernen durften, weil diese ihr Leben im oder nach dem Zweiten Weltkrieg in Russland verloren haben.
Alle Begebenheiten sind in meiner Erinnerung noch so lebendig, als sei es gestern gewesen. Solche Erlebnisse sind eben nicht auszulöschen!
Am Ende meines langen Lebens, das mir geschenkt wurde, beschäftigt mich immer noch die Frage, warum ich als junger Mensch diesen schweren Weg gehen musste, vielleicht, um die Erkenntnis zu vermitteln, Hoffnung und Glauben niemals aufzugeben.
Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Elisabeth für ihre hilfreiche Unterstützung. Ein ganz großes Dankeschön geht an unsere Tochter Dorothee und unseren Enkel Andreas mit seiner Verlobten Andrea, die in vorbildlicher Weise ihre Freizeit geopfert haben, um meine Erinnerungen in diesem Buch erscheinen zu lassen!
LandkartelinksLandkarterechtsI. Einberufung zum Wehrdienst
Geboren bin ich, Ulrich Wilhelm Slawinski, im Inflationsjahr 1923 in Siegen als jüngstes Kind der Familie Friedrich Slawinski. Nach dem Mittelschulabschluss 1940 folgte ein zweijähriges Praktikum vom 1. April 1940 bis 31. März 1942. Während dieser Zeit wurden alle, die nicht Hitler-begeistert waren, der HJ¹-Feuerwehr zugeteilt. Wir mussten abwechselnd nachts Wache schieben, falls es zu Luftangriffen kommen sollte. Im Januar 1942 erkrankte ich an einer schweren Rippenfellentzündung. Es wurde schon längere Zeit gemunkelt, unser Jahrgang würde im April eingezogen. Mein Vater schrieb auf Grund meiner Erkrankung an das Wehrbezirkskommando, mich wegen des schlechten Gesundheitszustandes zurück zu stellen. Die Antwort vom 19. März 1942 lautete: „Ihr Sohn wird mit seinem Jahrgang zum aktiven Wehrdienst einberufen! Ich war nach meinen beiden Brüdern Friedrich und Lothar sowie meinem Schwager Herbert der vierte aus unserer Familie, der zum Wehrdienst eingezogen wurde. Mein Vater gehörte keiner Partei an. Alle meines Jahrgangs bekamen im März bereits ihren Einberufungsbescheid, ich erst am Samstag, dem 10. April 1942. Darin stand: „Sie werden zu einer kurzfristigen militärischen Übung am 18. April 1942 eingezogen!
Nur noch eine Woche!
Es waren 750 junge Leute aus dem Kreis Siegen, die sich morgens um sieben Uhr beim Wehrbezirkskommando in Siegen, Friedrichstraße, zu melden hatten. Mit einem Sonderzug fuhren wir über Wetzlar und Gießen nach Marburg an der Lahn. Dort ging es in die alte Jägerkaserne.
Wir waren mit 26 Mann auf einer Stube! Beim Einkleiden hatte man mir ein Paar ausgetretene Schuhe verpasst. Mit diesen musste ich nachmittags beim Sport einen 10-Kilometer-Lauf machen. Dazu herrschte hochsommerliche Hitze. Meine Füße waren geschwollen und die Fußsohlen voller Blasen. Aber als Soldat muss man ja durchhalten, wie später an der Front! In den folgenden acht Tagen gab es einen Wetterumsturz. Wir bekamen kühles Maiwetter. Da ich durch die Rippenfellentzündung im Januar noch sehr empfindlich war, musste ich immer mit einem Rückfall rechnen. Der kam auch in Form von Kehlkopfkatarrh. Wir hatten morgens eine Stunde Schulung. Hauptmann Hilpisch fragte etwas und zeigte auf mich. Ich stand auf, um seine Frage zu beantworten, konnte aber nicht eine Silbe herausbringen. Hauptmann Hilpisch sagte: „Der Kerl kann ja gar nicht sprechen. Setzen!"
10. Mai 1942 – Es gab Schießübungen. Ich hatte Glück und schoss 34 Ringe, zweimal 12 und einmal 10. Als erster Siegerländer bekam ich auf diese Weise Sonntagsurlaub. Um 15 Uhr ging mein Zug ab Marburg Hauptbahnhof, den ich humpelnd erreichte. Etwa um 18 Uhr kam ich im Heimatbahnhof Geisweid an, brauchte aber eine Stunde vom Bahnhof bis nach Hause, ein Weg, den man normalerweise in 10 Minuten zurücklegt. Ich ging nur auf den Fersen. Alle waren entsetzt, als sie meine Füße sahen. Am Sonntag musste ich schon den Zug um 16 Uhr zurück nach Marburg nehmen, da ich um 22 Uhr in der Kaserne zu sein hatte und der nächste Zug erst um 22.30 Uhr in Marburg angekommen wäre.
In der nächsten Woche machten wir Geländeübungen in Cyriaxweimar, südwestlich von Marburg. Da ich wegen meiner kaputten Füße behindert war, scheuchte man mich extra. Keiner der Kameraden machte den Mund auf, um mich zu rechtfertigen. Nach einem weiteren 30-Kilometer-Marsch mittags in einer Gluthitze rund um Marburgs Osten hinkte ich in der letzten Reihe derart nach, dass Unteroffizier Brust mir das Gewehr abnahm und es für mich trug! Anschließend wurde gefragt, wer fußkrank sei. Ich war nicht der einzige. „Ab ins Krankenrevier! Eine Woche vor Pfingsten. Der Sanitäter konnte mir die Haut unter den Füßen abziehen. Meine Mutter hatte sich zu Besuch über Pfingsten angemeldet. Da ich ja eine Woche im Revier gelegen hatte, konnte ich nicht mit ihr in die Stadt gehen. Mein Bruder Friedrich kam auch überraschenderweise nach Marburg, um mich zu besuchen! Da wir Slawinskis dieselbe Fußform hatten, gab er mir seine Stiefel – sie passten – nur hätten sie eine halbe Nummer größer sein können. Aber ich habe den nächsten 40-Kilometer-Fußmarsch in der Woche nach Pfingsten mitgemacht ohne Beschwerden. Alle Vorgesetzten waren fassungslos und konnten nicht begreifen, dass ich keinerlei Fußbeschwerden hatte! Tags darauf Stiefelappell. Oh weh, die Stiefel meines Bruders sahen noch so neu aus und hatten keine Nägel unter den Sohlen. Jeder Stiefel sollte laut Vorschrift mit 32 Nägeln versehen sein. Wehe, es fehlte einer! Was nun? Guter Rat war teuer! Die Stiefel zum Benageln abgeben war nur in der Mittagspause möglich! Da in unserem Kasernengebäude auch noch eine „Genesungskompanie
untergebracht war, lieh ich mir dort von einem älteren Kameraden gegen eine Schachtel Zigaretten dessen Stiefel aus. Ich dachte, hoffentlich merkt keiner beim Appell etwas, wenn er diese alten ausgetretenen Stiefel sieht. Aber alles ging glatt.
Der Zufall wollte es, dass ich Dienst in der Gerätekammer hatte. Unteroffizier Lissi, dem die Gerätekammer unterstand, sah wohl in mir den geeigneten Soldaten. Er erkundigte sich bei mir nach irgendwelchen körperlichen Einschränkungen wie Herzfehler, Asthma… Ich berichtete, dass ich Herz- und auch Atembeschwerden hätte! Er daraufhin: „Gehen Sie morgen früh sofort zum Arzt ins Krankenrevier und lassen sich untersuchen, alles weitere veranlasse ich. Am nächsten Morgen, Samstag, dem 20. Juni, meldete ich mich beim Revierarzt. Der horchte mich ab: „Luft holen, nicht atmen!
Ich hielt die Luft an; dann hieß es: „Donnerwetter, der Kerl holt ja gar keine Luft, ab in die Poliklinik! Diese befand sich damals schon in der Deutschhausstraße. Dort wurde ich gründlich untersucht. Es wurde auch ein EKG gemacht. Dann ging Oberarzt Dr. Irle hinaus und kam und kam nicht wieder. Neugierig, wie ich schon immer war, sah ich mir das EKG an und dachte: „Oh weh, alles gleichmäßig, keine Unregelmäßigkeiten, jetzt ruft der Arzt gewiss ein Kommando, das mich als Simulant abholen soll.
Mit klopfendem Herzen wartete ich den ganzen Vormittag bis kurz vor zwölf Uhr. Dann kam die Stunde der Wahrheit. Sofort ins Lazarett! Mir fiel ein Stein vom Herzen. Da mein Vater mich an diesem Wochenende besuchen wollte, fragte ich: „Hat es nicht bis Montag Zeit? „Nein, das Bett ist schon freigemacht!
Dieser Arzt hatte ein furchterregendes Gesicht, ähnlich dem einer Bulldogge, aber dahinter verbarg sich ein guter Kern. Nun eilte ich zurück in die alte Jägerkaserne; dort brüllte man schon: „Wo bleibst du denn? Du sollst die Latrine schrubben. Heute am Samstag ist unsere Stube mit Revier reinigen dran! Ich sagte: „Ihr müsst das ohne mich machen! Ich muss ins Lazarett!
Ich ging erst noch in den Speiseraum, um mein Mittagessen einzunehmen; es war mittlerweile 13 Uhr. Es gab Nudelsuppe mit Kartoffeln. Ich habe mich das erste Mal in den neun Wochen Kaserne satt gegessen. Als Innendienstleistender hatte ich beim Umräumen im Vorratskeller Fässer mit Gurken entdeckt, in denen es nur so von Maden wimmelte! Da war mir der Appetit vergangen. Es stellte sich heraus, dass ich 7,5 kg abgenommen hatte. Wie ich später erfuhr, hatte man den „Spieß", die Mutter der Kompanie, wegen Veruntreuung von Lebensmitteln degradiert und wohl inhaftiert.
Nach einem kurzen Gang durch die Stadt meldete ich mich im Reservelazarett 1, der medizinischen Klinik, an. Wir lagen dort mit 22 Soldaten in einem Saal; für heutige Begriffe unvorstellbar, aber ich denke immer gern an diese Zeit zurück. Abends stand ein Mann im dunkelblauen Anzug am Fußende meines Bettes, sah mich kurz an und ging wieder weg. Ich nahm an, dass es ein Besucher gewesen war. Da wurde ich von meinem Bettnachbarn informiert, dass es sich hier um den Chefarzt handelte! Er trug, da er wohl kein Anhänger des Dritten Reiches war, keine Uniform, sondern immer den Dunkelblauen! Er kam kurz darauf wieder, erkundigte sich nach meinen Beschwerden und untersuchte mich. Ich fragte: „Bekomme ich keine Arznei? „Nein, Sie bekommen hier nach alter Marburger Art dreimal täglich für zwei Stunden einen Brustwickel und essen Sie so viel Sie können! Sie haben nasse Rippenfellentzündung!
Das Wasser wurde verschiedene Male punktiert! Jeden Abend wurden alle bettlägerigen Soldaten zur Sicherheit wegen Fliegeralarm ins Hauptgebäude gefahren.
Nach etwa drei Wochen schrieb mein Vater, mein Bruder Lothar sei durch einen Bauchschuss schwer verwundet worden, sodass man mit allem rechnen müsse! Dann hatten
meine Eltern ihren Besuch angemeldet! Just an dem Tage, es war vielleicht der 20. Juli, kam morgens ein Brief von meiner Schwägerin aus Wien: „Nun hat unser lieber Lothar alles überstanden! Für mich brach eine Welt zusammen; ich konnte es nicht fassen! Und schon ging die Tür zum Saal auf und meine Eltern traten ein, ganz in schwarz gekleidet. Mein Puls war so hoch, dass ich am Abend nach 18 Uhr immer noch 146 Pulsschläge zählen konnte! Mein treusorgender Vater hatte auch eine Unterredung mit Oberstabsarzt Dr. Habs wegen meines Gesundheitsbefunds. Seine Meinung: „Ihr Sohn wird nur noch arbeitsverwendungsfähig werden und nicht mehr zum Kriegsdienst tauglich sein, weil Lunge und Rippenfell miteinander verwachsen sind. Damit er keine Tbc bekommt, schicken wir ihn noch in ein Kurlazarett für Lungenkranke. Der Antrag liegt schon dem Generalarzt in Kassel zur Genehmigung vor.
Dr. Habs machte Urlaub, oh weh! Wer würde ihn vertreten? Es war Oberarzt Dr. Irle! Ich dachte, wenn das gut geht! Vielleicht ist er so eingestellt, schnell alle gesund zu schreiben, um zu glänzen? Nun kam Dr. Irle! Ich war der Elfte in der Bettreihe, jeder hatte ein Schild am Kopfende des Bettes mit Namen, Geburtsdatum, Dienstgrad und darunter die Fiebertafel und so weiter. Er blieb vor meinem Bett stehen und fragte: „Slawinski, sind Sie der verhungerte Ziegenbock, den ich hierher eingeliefert habe? „Jawohl, das bin ich.
Irgendwie stellte sich dann in der nächsten Zeit heraus, dass Dr. Irle einer der bekanntesten Siegerländer Familien entstammte. Da ich über den Familienstamm Irle im Bilde war, kam dann durch die Blume heraus, dass er auch mit der Irle Brauerei verwandt war. So hatten wir von nun an ein gutes Verhältnis!
Jeden Morgen kamen etwa ein Dutzend Medizinstudenten, um an uns Untersuchungen durchzuführen. Erst kamen sie noch in Zivil, nach drei Wochen dann in Uniform als Sanitätsunteroffiziere. Einmal wurde festgestellt, mein Herz wäre zwei Zentimeter nach links verschoben. Schließlich war ich die Bemalung auf meinem Körper mit blauen und roten Farbstiften leid und erklärte den Studenten, sie dürften an mir keine Untersuchungen mehr vornehmen, ich sei so schwer krank, dass ich sonst einen Rückschlag bekommen und es mit mir noch schlimmer werden würde. Von da an hatte ich Ruhe.
Die tragischste Erinnerung an meine Zeit im Lazarett war die Einlieferung eines 35 Jahre alten Familienvaters von zweijährigen Zwillingen. Er litt an Darmverschluss und ist bei vollem Bewusstsein innerlich verbrannt. Die Ehefrau saß hilflos da, und die Kinder wollten mit dem Papa spielen. Ich kann das Bild des Grauens nicht auslöschen!
Nachdem ich länger als sechs Wochen das Bett gehütet und auch mein Normalgewicht von 70 kg erreicht hatte, bat ich immer wieder darum, bei sonnigem Wetter an die frische Luft gehen zu dürfen. Endlich hieß es: „Heute dürfen Sie eine Stunde an den Lahnwiesen spazieren gehen. Ich war glücklich. Aber ich schaffte es nicht mehr ganz zurück, wohl auf ebener Erde, aber nicht die Treppen hinauf! Die Krankenschwestern erklärten mir: „Das Bett zehrt!
Meine Eltern hatten einmal bei einem Besuch versehentlich einen kürzeren Weg in die medizinische Abteilung durch die Chirurgie genommen. Als mein Vater dort das Elend mit den Verstümmelungen gesehen hatte, äußerte er sich, es wäre besser tot zu sein, als ohne Arme oder Beine leben zu müssen.
1Hitler-Jugend
In Königstein im Taunus
Am 2. September morgens hieß es auf einmal: „Sie fahren heute ins Kurlazarett nach Königstein im Taunus. Der Dienstälteste hat die Marschpapiere. Ihr Zug geht um so und soviel Uhr ab Marburg Hauptbahnhof, über Gießen nach Frankfurt, umsteigen in die Kleinbahn, die dann über Höchst nach Königstein führt." Wir fuhren durch den schönen Taunus. Man hätte aussteigen und nebenher laufen können, so langsam war das Züglein. Das Reservelazarett 1 befand sich in einem ehemaligen Grandhotel. Als sich in den 20er Jahren die englischen Besatzungstruppen dort einquartieren wollten, ließ der Eigentümer Kasernen in der Nähe errichten. Diese dienten während des zweiten Weltkrieges dem Reichsarbeitsdienst als Unterkunft.
Da wir als Soldaten im Gang des Zuges zu stehen hatten, wo es natürlich trotz großer Hitze von den Türen her ständig zog, bekam ich einen Rückfall. Zunächst kamen wir Neuen alle auf einer Isolierstation für Tbc-Kranke in Quarantäne. Ausgerechnet, als sich meine Eltern zum Erholen in Königstein für zwei Wochen angemeldet hatten, lag ich da oben im Dachgeschoss und hätte brüllen können vor Schmerzen. Nun hatte ich linksseitig trockene Rippenfellentzündung. Die Krankenschwester pinselte mich mit Jod ein. Und weil ich nun halb farbig aussah, pinselte man mir aus Sympathie auch noch die rechte Seite ein. Die Hölle kann nicht schlimmer sein. Nach ein paar Tagen kamen meine Eltern und mein Bruder Friedrich, um mich zu besuchen. Sie durften nicht zu mir, da ich ja auf der „Mottenstation isoliert war und ich selbst durfte auch nicht zu ihnen. Das ehemalige Hotel hatte aber zwei Treppenaufgänge für den Notfall. Ich schlich mich, in der Hoffnung ungesehen zu sein, den Notausgang hinunter in den Park zu meinem Besuch. Kaum unten angekommen, erschien eine Schwester: „Sofort rauf, Sie haben hier nichts zu suchen. Sofort ins Bett!
Ich war schockiert, meine Eltern und mein Bruder saßen dort im Park an einem wunderschönen kleinen Teich, in dem sich das Grandhotel spiegelte. Bei einer Unterredung mit dem Chefarzt stieß mein Vater auf taube Ohren, bis sich mein Bruder Friedrich als Dr. Ing. der Architektur vorstellte. Da wurde der Herrgott in weiß gesprächig, er wandelte sich um 180 Grad. Man fand auch eine Lösung. Ich wurde auf Station 2 für leichtere Fälle verlegt und musste morgens und nachmittags zwei Stunden Liegekur machen bei einer Temperatur bis zu sechs Grad Außentemperatur. Ich durfte nun auch nach draußen gehen. Die Zeit meines Ausgangs war kurz bemessen: 15 bis 18 Uhr Ich bekam ein Bett in einer Suite des früheren Grandhotels, belegt mit drei Soldaten, mit Blick zum Feldberg und bis Frankfurt. Es war eine schöne Zeit. Uns wurde viel geboten. Die Opel-Werke sowie die Farbwerke Hoechst hatten eigene Aufführungsgruppen. Zu diesen Veranstaltungen musste der Speisesaal geräumt werden.
Wir Lungenkranke bekamen zusätzlich jeden Morgen ein zweites Frühstück in Form von einem halben Liter Milch, zwei Scheiben Brot, 20 Gramm Butter sowie einem Ei! Milch und Eier wurden jeden Morgen vom Rettershof mit einem sogenannten Milchwagen angeliefert. Ich habe nie wieder Milch und Eier von so guter Qualität genossen wie vom Rettershof, der damals einer Nichte des Außenministers von Ribbentrop gehörte, ebenso das Café Rettershof. Dort verkaufte man uns Soldaten immer noch Kuchen, ohne Brotmarken dafür zu verlangen. Die sieben Kilometer dorthin zu laufen, fiel mir jedoch ziemlich schwer.
Einen Ausflug zum Feldberg zu machen, war immer mein Traum gewesen. Es hatte lange gedauert, bis ich ein Clübchen beisammen hatte, das mir zuliebe dann eines Sonntagnachmittags den Aufstieg über das Reichenbachtal, das Wildgehege von Falkenstein rechts liegen lassend, über den „Fuchstanz" zum Feldberg wagte. Endlich oben. Wir waren enttäuscht, denn der Fernsehturm, damals neu erbaut, war von der Luftfahrt besetzt. Der eigentliche Feldberg-Turm befand sich etwas weiter weg, auch den haben wir noch geschafft. Dann ging es über die normale Straße nach Königstein zurück, wir mussten ja um 18 Uhr im Hause sein. Auf dem Heimweg begegnete uns eine Gruppe von etwa 30 jungen Leuten mit Mandolinen und Gitarren. Sie waren nicht in Uniform. Ich war überrascht, hieß es doch immer, alle deutschen Jungen gehörten der Hitlerjugend an. Ich wusste damals noch nicht, dass Frankfurt trotz Drittem Reich links eingestellt war.
Am Samstag, dem 5. Dezember, überwies man mich in ein HNO-Lazarett in Frankfurt. Dort sollte eine Nasenscheidewandverkrümmung operiert werden, die man in der Klinik in Marburg festgestellt hatte. Kaum angekommen, wies man mich ab mit der Bemerkung: „Es gibt keinen freien Platz. Daraufhin fuhr ich zurück nach Königstein und aß dort zu Mittag. Als ich mich beim Zahlmeister zurückmeldete, meinte dieser besorgt und verzweifelt, er hätte keine Verpflegung für mich, da ich nicht gemeldet wäre. Er gab mir Essensmarken und Geld für zwei Tage. Die Marken schickte ich nach Hause, ebenso Brotreste, die übrig geblieben waren. Ich schrieb dazu: Brot für die Hühner. Aber meine Eltern kochten daraus eine Brotsuppe für sich, es wäre für die Hühner zu schade. So durfte ich noch den Dezember in Königstein verbringen. Heiligabend gab es für alle Speiseeis. Ich bekam ein Schachspiel, das ich immer noch habe. Ebenso bekam ich ein Buch von Goebbels, darin stand unter einer der Geschichten: „Alle Menschen sind Komödianten.
Am 5. Januar 1943 kam ich nach Frankfurt zur Operation der Nasenscheidewand. Von dort kehrte ich in meine Garnison in Marburg zurück, die sich nun in der neuen Jägerkaserne befand. Ich bekam dann noch zwei Wochen Genesungsurlaub. In dieser Zeit – ich war kaum zu Hause – fiel Stalingrad, und der Chefarzt und seine Oberschwester in Königstein wurden wegen Lebensmittelverschiebung verhaftet. Nach Beendigung des Urlaubs und Vorstellung beim Truppenarzt fragte dieser nach meinen Beschwerden. Ich nannte: „Atemnot beim Laufen auf Grund der dreimaligen Rippenfellentzündung. Die Antwort: „Wenn der Russe hinter Ihnen ist, können Sie laufen!
Nun hieß es: Neu einkleiden sowie Waffenempfang. Ich erhielt ein Gewehr 98 k¹. Unser Marschbefehl lautete: Fulda, Konstantin-Kaserne. Abends um 21 Uhr kamen wir dort an. Am nächsten Tag wurde ein Marsch-Bataillon ZbV² B9 zusammengestellt. Danach drillte man uns zwei Wochen lang mit Exerzieren, Scharfschießen und so weiter, um ein Manövrieren im Team zu üben.
1deutsches Gewehr mit verkürztem Lauf
2zur besonderen Verwendung
An der Ostfront
Am Samstag, dem 27. Februar 1943 ging es dann Richtung Osten, wo wir nach einer Woche Fahrt ab Fulda über Leipzig und Brest-Litowsk Gomel¹ erreichten. Unser Transport hielt irgendwo in einer verlassenen Gegend. Hier musste vor kurzem das Frontgebiet gewesen sein, denn der Bahnhof war eilig verlassen worden, lediglich ein ganzer Güterzug voll Skier, weiß gestrichen, stand noch da. Die Wagentüren geöffnet und nichts entladen – ein Zeichen, dass hier ein Überfall der Roten Armee bzw. ein Frontwechsel stattgefunden hatte. Altgediente Soldaten nahmen Skier mit, gewusst warum! Es war etwa 15 Uhr, die rotgoldene Sonne stand tief im Westen und wir marschierten, erst auf einer Straße, die mit runden Steinen wie aus einem Bach gepflastert war, dann im Schnee bis an die Knie und mehr und das etwa 20 bis 25 Kilometer weit. Da es nun dunkelte, mussten wir irgendwo Quartier machen. Für viele von uns war es das erste Mal im Ausland. Mein damaliger Kamerad Franz Fredewes, Bauernsohn aus Oldenburg, und ich – wir hatten uns in Fulda angefreundet – suchten in einer Scheune, angefüllt mit Stroh und Heu, einen warmen Platz. Fehlanzeige! Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, weil der Boden aus Lehm von unten gefroren war.
8. März – Ich wurde als Melder eingesetzt und musste, da unser Zug, der aus circa 25 Soldaten bestand, den Schluss der Marschkolonne bildete, bis zur Spitze an allen anderen vorbei laufen, um von Hauptmann Sassnick, sein Spitzname war „Männer, Befehle zu empfangen. Ich hatte ihm in Fulda diesen Namen gegeben, weil jede seiner Ansprachen mit dem Wort „Männer
anfing. So sagte er zum Beispiel einmal zu Beginn einer Instruktionsstunde: „Männer, ich sage euch, wie man die Angst besiegt. Ich selbst habe auch Angst, schreie mir aber die Angst aus dem Leibe und ihr schreit Hurra und stürmt auf den Feind. Er behielt den Namen auch, als wir später an die Front kamen und er Kommandeur des dritten Bataillons wurde. So hatten wir Nachrichtenleute einen Stabsfeldwebel als Vorgesetzten in Fulda, der behauptete, der „Gasskrieg
käme demnächst und der Krieg wäre beendet! Er ließ mich das Wort „Gass hundertmal abschreiben, weil er darauf bestand, es hieße „Gass
. Vorgesetzte haben ja immer recht und dulden keinen Widerspruch!
Von Gomel ging es südlich in Richtung Kursker Bogen. Mit zwei anderen wurde ich dem Regiments-Nachrichtenzug als Fernsprecher zugeteilt. Die 340. Infanterie-Division hatte kurz vorher wegen der Übermacht der Roten Armee den Rückzug von Woronesch antreten müssen. Ihre schweren Verluste konnten durch unser Ersatzbataillon, circa 1500 Mann, nur zum Teil aufgefüllt werden. Mein Glück war, dass ich mit den beiden anderen Fernsprechern bei der Regimentsstabskompanie bleiben durfte, während die übrigen 14 Kameraden, die der Schützenkompanie zugeteilt wurden, schon in den ersten Tagen ihr junges Leben lassen mussten. Von den insgesamt 18 Nachrichtenleuten blieben nach den ersten Kampftagen nur fünf übrig: einer namens Geschke, 38 Jahre alt, Franz Fredewes, Willi Bäcker, W. Orth und ich. Willi Bäcker war nachtblind und W. Orth hatte einen Leistenbruch. Später habe ich erfahren, dass die Zuteilung nur vorübergehend war, bis die Urlauber und Verwundeten wiederkämen.
9. März 1943 – Abends erreichten wir Rülsk, wo sich der Divisionsgefechtsstand befand. Eine Division besteht normalerweise aus drei Regimentern, unsere besaß nur noch zwei. Unser Regiment bestand aus einem Bataillon mit einer Kompanie sowie dem 2. und 3. Bataillon mit je drei Kompanien, und die waren auch nicht mehr vollständig! Am Stadtrand hatte man Hunderte von einjährigen Pferden zum Abtransport zusammen getrieben. Ich selbst entdeckte einen Schlitten mit Pferd, angebunden an einem Lichtmast. Da weit und breit kein Eigentümer zu sehen war, entführte ich das Gespann zum Marschbataillon, ohne mich noch einmal umzuwenden. Im selben Augenblick war mein Schlitten schon mit den Tornistern meiner Kameraden beladen; für mich blieb kein Platz mehr frei. Übrigens muss ich noch dazu bemerken, dass wir aus Marburg mit den schlechtesten vorzeitlichen Tornistern und Utensilien ausgestattet waren! Während alle anderen mit neuen Feldspaten zum Eingraben an der Front versehen waren, hatte man mir ein altes Feuerwehrbeil „verpasst", wie man sich beim Militär auszudrücken pflegt.
10. März – Wir marschierten über Klennaja nach Sarja, wo sich der Regimentsgefechtsstand befand. Dort angetreten erfolgte eine Besichtigung durch Oberst Herbst. Hinter unserem Zug stand Geschke mit dem Pferdeschlittengespann. Oberst Herbst bemerkte: „Das Pferd hat auch schon bei den Preußen gedient. Mir fiel ein Stein vom Herzen! Die Bemerkung hätte auch heißen können: „Wie kommen Sie zu dem Gespann? Es ist seit gestern verschwunden!
Wir wurden nun zu dritt dem Nachrichtenzug des Grenadierregiment 695 zugeteilt, Feldpostnummer: 04542. Die Stabskompanie befand sich aber in Klennaja, also mussten wir den Weg wieder zurücklaufen. Ich habe gedacht: „Wenn Oberst Herbst wüsste, wo ich das Gespann entwendet habe? Am späten Nachmittag, es war schon dunkel, trafen wir bei der Stabskompanie ein, wo wir uns bei Stabsfeldwebel Viola zu melden hatten. Von dort ging es zum Regimentsnachrichtenzug, Leitung Leutnant Töter. Franz Fredewes und ich kamen als jüngste in ein Quartier mit lauter „alten Frontschweinen
! Dann ging das übliche Ausfragen los. Wie heißt du? Woher kommst du? Man bot uns direkt Becher voll Schnaps an, ebenso Tee aus deutschen Schulsammlungen; er schmeckte ganz abscheulich, auch der Schnaps war nicht besonders, Marke Eigenbau, undefinierbar! Da unsere Unterkunft nicht im direkten Frontbereich lag, konnten wir uns beruhigt hinlegen auf den Lehmboden der armseligen Bauernkate. Nach all dem Gesprächsaustausch wurde noch gesungen, als letztes „Guten Abend, Gute Nacht. Dann bemerkte noch einer der alten Hasen, die sich schon zwei Jahre kannten: „Gute Nacht, ihr lieben Sorgen, leckt mich am… bis morgen!
Ich dachte: „Mein Gott, wohin bin ich hier nur geraten? Aber im Nachhinein kann ich die Menschen verstehen, die wegen eines Größenwahnsinnigen alle ihren Familien- und Lebensaufbau liegen lassen mussten! Ein Glück für mich, dass unter diesen Kameraden keiner war, der vom Dritten Reich begeistert war. Sie hatten ein Jahr zuvor bei Woronesch gekämpft und waren eingekesselt worden, ohne Winterbekleidung. Einer, der Russisch sprach, hatte das Regiment bei Schneegestöber durch die feindlichen Linien geführt. Dort war das Lied von der Rollbahn 13 entstanden mit folgendem Refrain: „… wenn ich su an ming Heimat denke un sin d'r Dom su vör mer ston, mööch ich sofort ming G'wehr verschenke, ich mööch zo Foß noh Kölle jonn…
22 Uhr – „Slawinski, aufstehen! Wachablösung! Wir waren ja nicht im Schützengraben, es ging hier nur um die Bewachung der Ortsunterkünfte. Jeden Abend um 19 Uhr wurden die Wachposten vergattert, das heißt: Wir wurden mit allen Verhaltensregeln vertraut gemacht und darin unterwiesen, was wir während der Wache zu beachten hatten. Ablösung war alle zwei Stunden. Peter Heister, der mit mir zusammen auf Wache war, flüsterte mir zu: „Die Filzstiefel hier habe ich einem toten Russen ausgezogen, sonst wären meine Füße erfroren.
Die 340. Division hatte auf dem Rückzug viel verloren unter anderem die Feldküche. Man musste alles liegen und stehen lassen, was unnützer Ballast war beziehungsweise Lärm verursachte! Nach etwa zwei Wochen bemerkte ich die ersten Läuse, und zwar an den Fußknöcheln in den dicken Strümpfen, später an allen besonders warmen