Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Lebenszeichen
Lebenszeichen
Lebenszeichen
eBook336 Seiten4 Stunden

Lebenszeichen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Da hast Du aber einen guten Schutzengel gehabt" ist ein beliebter Spruch, wenn man einer brenzlichen Situation entkommen ist. Der Protagonistin Daniela Stolz gibt ihr Schutzengel ein klares "Lebenszeichen", als sie die schwere Aufgabe übernimmt, ihre Mutter in einem Mordprozess zu verteidigen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum14. März 2011
ISBN9783742799463
Lebenszeichen

Ähnlich wie Lebenszeichen

Ähnliche E-Books

Religiöse Literatur für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Lebenszeichen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Lebenszeichen - Ilse Wind

    Lebenszeichen

    Roman

    Ilse Wind

    Prolog

    Ich war nur einen Moment unaufmerksam gewesen, da riss mich ein entsetzlicher Schrei aus meinen Gedanken: „Lieber Gott, hilf mir!" Nun, ich war nicht Gott aber doch in seinem Auftrag tätig. Dieser Ruf galt also irgendwie mir. Ich sah ihr in die Augen und wollte mich darin spiegeln, aber das blanke Entsetzen erinnerte mich daran, dass ich keine Zeit hatte, meine eitlen Spiele zu spielen. Sie war in höchster Gefahr. Ihr schicker kleiner Sportwagen schlitterte auf schneeglatter Fahrbahn, schoss auf einen Baum zu, prallte dort ab und raste in unvermindertem Tempo in Richtung Böschung. Ich habe es ja lieber, wenn ich Einsätze planen kann, aber in diesem Fall musste ich improvisieren. Das wird zwar nicht gerne gesehen, weil Wunder oft Misstrauen erregen, aber ich hatte keine andere Wahl, wenn ich meinen Auftrag erfüllen wollte.

    Ich warf mich vor ihr Auto und brachte es an der Böschung zum Stehen. Der Motor ragte über den Abgrund hinaus. Es kostete mich enorme Kraft, den Wagen zu halten, doch sie stieg nicht aus. Sie lag bewusstlos im Wagen mit dem Kopf auf dem Airbag, der allmählich Luft verlor. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihr laut zu befehlen auszusteigen. In Trance gehorchte sie mir und befreite sich aus dem Fahrzeug. Ich war froh, dass ich das Auto endlich die Böschung hinabstürzen lassen konnte. Sie tat mir leid, wie sie mit leerem Blick in die Tiefe auf das Wrack schaute, doch sie realisierte wohl noch nicht, was passiert war. Über ihrem linken Auge klaffte eine kleine Schnittwunde und das Blut rann über ihre weiße Wange. Ich nahm sie auf meine Arme und trug sie auf die andere Straßenseite. Dort legte ich sie ins Gras. Ihr hübsches Gesicht sah so friedlich aus, als ob sie tot wäre. Hätte ich nicht eingegriffen, wäre sie von allen irdischen Qualen für immer erlöst gewesen. Doch davon stand nichts im Plan und ich bin gerne mit ihr zusammen. Wir hatten schon so viel Spaß gemeinsam, wobei sie das so sicher nicht sagen würde. Denn sie nahm mich schon lange nicht mehr wahr. Was mich etwas kränkte. Aber solche Gefühle sollte ich tunlichst nicht aufkommen lassen. Auf dem Weg ins Krankenhaus erzählte sie dem jungen Notarzt, dass sie einen Schutzengel gehabt habe. Doch sie bedankte sich nicht bei mir.

    Es war ein Einsatz wie viele andere, die ich für sie übernommen hatte. Schon bei ihrer Geburt stand ich neben ihr, weil das kleine eigensinnige Wesen unbedingt mit den Füßen voraus zur Welt kommen wollte. Sie dachte gar nicht daran, sich umzudrehen, obwohl es längst an der Zeit war. Die Ärzte hatten einen Kaiserschnitt erwogen, aber sie hatte sich bereits auf den Weg gemacht – den kurzen Weg ins lange Leben. Klar, dass ich alles tat, um ihr diesen Weg zu ebnen. Von diesem Moment an habe ich sie nie mehr verlassen. Das sind jetzt bald dreißig Jahre. Wenige Wochen nach ihrer Geburt war ich versucht einzugreifen, als der Pfarrer in der Münchener Erlöserkirche ihr das kalte Wasser auf das fast kahle Köpfchen mit den weit aufgerissenen Augen träufelte und sie im Namen des Vaters und der Sohnes und des Heiligen Geistes Daniela taufte. Sie schrie derart, dass ich davon ausgehen musste, der Pfarrer habe ihr Säure statt Wasser auf die Stirn gegeben. Um die Not zu lindern und mein Trommelfell zu schonen schnitt ich ein paar Grimassen für sie, und siehe da, ein Lächeln kam auf ihr kleines Gesicht. Damals konnte sie mich sehen und wir standen in einem sehr engen Kontakt. Ich wachte Tag und Nacht an ihrem Bettchen und begleitete sie und ihre Eltern Susanne und Elmar auf allen Spaziergängen. Sie war im Grunde ein braves Kind, zumindest solange sie noch nicht auf ihren eigenen Beinchen stand. Sie schlief und sie lachte viel, denn den Trick mit den Grimassen wandte ich stets an, wenn ich auf ihrer kleinen Stirn die ersten Ansätze einer Zornesfalte entdeckte.

    Was war das für eine schöne Zeit, als sie mich wie einen Freund behandelte, mit mir sprach und so unbefangen mit den Wesen der geistigen Welt lebte. Ihre Großmutter Ursula war gestorben, als Daniela gerade mal drei Jahre alt war und da Susanne ihr erzählt hatte, die Oma sei nun im Himmel bei den Engeln, nahm Daniela ganz selbstverständlich den Kontakt zu ihrer Großmutter auf. Sie sprach und spielte jeden Tag mit ihr. Zeitweise vergas sie in ihrem kindlichen Spiel die Welt um sich herum und widmete sich ganz der geliebten Oma. Susanne fand das nicht weiter befremdlich, aber Elmar ließ dem Kind „diese Flausen" austreiben und schickte sie in eine Therapie. Dort hat man meiner Daniela allen Glauben und die medialen Kräfte ausgeredet. Bis heute ist es mir nicht gelungen, diese schöne Saite in ihr wieder zum Klingen zu bringen. Aber ich arbeite daran.

    Im Krankenhaus wurde sie bestens versorgt. Natürlich machte ich mir Vorwürfe, dass ich trotz der schlechten Straßenverhältnisse nicht besser aufgepasst hatte. Jetzt lag sie da an Messgeräte und Infusionen angeschlossen, an Kopf und Händen in weiße Bandagen gewickelt und über dem Auge ein großes Pflaster. Sie schlief und träumte ganz offensichtlich, denn ihre Augäpfel bewegten sich unter den geschlossenen Lidern. Jetzt war ihr hübsches Auto kaputt, als ob sie nicht schon genug andere Probleme am Hals hatte. Manchmal hadere ich stellvertretend für Daniela mit Gott, dass er ihr so viele Prüfungen auferlegt. Aber dann wieder denke ich, sie hat es sich selbst ausgesucht. Warum musste sie ausgerechnet das Strafrecht zu ihrer Profession machen? Mit ihrem Spitzenexamen hätten ihr nach der Promotion alle Wege in die Topkanzleien oder Großunternehmen offen gestanden. Aber sie entdeckte ihr Herz für die kleinen und großen Sünder und trat für die Gerechtigkeit ein. Sollte mich nicht wundern, wenn der heutige Unfall mit dem Mord an Gabriel zu tun hätte.

    Während ich ihren Schlaf bewachte, kam Ali mit einem großen Tulpenstrauß ins Krankenzimmer. Vorsichtig lugte er zur Türe herein, dicht gefolgt von Schwester Claudia, die ihn ermahnte, die Patientin unbedingt zu schonen. Sie nahm ihm die Blumen aus der Hand und versprach eine Vase zu bringen. Mit besorgter Mine stand Ali an Danielas Bett. Er streichelte vorsichtig mit zwei Fingern über ihren unbandagierten Handrücken. Er wirkte hilflos, was ich gut verstehen konnte. Flüsternd kamen die Worte aus seinem Mund. „Was machst Du nur, Kleines? Ich muss besser auf dich aufpassen." Das war ja wohl mein Job. Ich fragte mich, ob es die Eifersucht oder ein Schuldgefühl war, dass mich diese Worte ärgerten. Schwester Claudia stürmte herein, stellte die Vase mit den Tulpen auf das Fensterbrett und forderte Ali auf zu gehen. Daniela brauchte Ruhe.

    Schon seit einiger Zeit waren mir Alis Bemühungen um Daniela aufgefallen. Ich fand ihn ja auch ganz nett. Aber wenn sie wüsste, dass er sie „Kleines genannt hat, wäre sie sicher sauer. Denn sie war ihm mit ihren eins sechsundsiebzig an Körpergröße nicht einmal um zehn Zentimeter unterlegen. Und „Kleines sagt ihr Vater immer, wenn er ihr zeigen will, wer der Herr im Hause ist. Natürlich wirkte sie in diesem Zustand schutzbedürftig, aber sie war die letzte, die sich vor einem Mann verletzlich zeigen wollte. Sie war stets die treibende Kraft, wenn es darum ging, für die Gerechtigkeit einzutreten und zögerte nie, auf eigene Faust zu ermitteln, um die Unschuld ihrer Mandanten zu beweisen. Ihre Unerschrockenheit machte es mir oft schwer, nicht mehr als erlaubt in ihr Leben einzugreifen. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass sie mir in dieser hilflosen Lage am wenigsten Probleme machte. Ich schämte mich.

    1. Kapitel

    Ich kann mich nicht erinnern, wann und warum ich „Highway to Hell" zum Klingelton für die Anrufe meiner Mutter gewählt hatte, aber jetzt schien es mir genau passend zu sein. Es war Sonntagmorgen, draußen war es noch dunkel, im Flur vibrierte mein Handy zur Melodie der AC/DC, und mich interessierte nicht im Mindesten, warum Neptun Konjunktion Pluto mir den Tag vermiesen musste. Meine Mutter wollte es sich einfach nicht abgewöhnen, aus der aktuellen Sternenkonstellation die Berechtigung zu ziehen, mir gute Ratschläge zu geben. Die Astrologie bestimmte ihr Leben und darum musste meines ebenfalls zu jeder Tages- und Nachtzeit darunter leiden. Die Melodie verstummte, die Mailbox hatte den Anruf entgegengenommen. Doch schon eine Sekunde später begann die Musik von neuem und ich wälzte mich aus dem Bett. Ich folgte den verzerrten Klängen in den Flur und fand mein Handy in der Handtasche auf dem Fußboden.

    „Mam, es ist Sonntag mitten in der Nacht, ich will schlafen".

    Das ängstliche Schluchzen an meinem Ohr machte mir klar, dass das der falsche Einstieg in das Gespräch mit meiner Mutter war. Sofort war ich hellwach. Ihre Worte kamen gepresst und abgehackt:

    „Ich – werde – verhaftet."

    Danach nur noch Laute der Verzweiflung.

    „Mama? Mama? - Gib mir den Polizisten! Und sag kein Wort bis ich da bin!"

    Ein Herr, der sich am Telefon als Kommissar Specht vorstellte, erklärte mir, dass meine Mutter unter dem Verdacht stehe, einen Mann mit mehreren Messerstichen ermordet zu haben, und daher zur Vernehmung ins Polizeipräsidium gebracht werde.

    Eine Leuchtschrift erschien vor meinem geistigen Auge: Mutter der Rechtsanwältin Daniela Stolz eine Mörderin! Schlimmer noch, die Exfrau des Münchener Staranwalts Elmar Stolz eine Mörderin. Zugegeben, nur die zweite Variante hatte das Zeug zur Schlagzeile, denn bisher hatte ich meine vor knapp einem halben Jahr gestartete Karriere als Strafrechtlerin auf der Verteidigung von Kleinkriminellen aufgebaut.

    Niemals! Das konnte nur ein Irrtum sein. Meine liebe, manchmal etwas verrückte Mutter war nie und nimmer in der Lage, einem anderen Menschen ein Leid anzutun. Und die Vorstellung, dass sie gerade in Handschellen in einem Polizeiwagen durch München fuhr, pumpte mir stoßweise Adrenalin ins Blut.

    Die Morgentoilette reduzierte ich auf Zähneputzen, und das Frühstück auf eine Tasse Kaffee. Diese Maschinchen, die aus kleinen Kapseln einzelne Tassen Kaffee pressten, waren eine segensreiche Erfindung. Gut fünf Minuten später spurtete ich die schiefe Holztreppe des Hinterhofaltbaus in der Schellingstraße hinunter und raste um den Häuserblock. Wo zum Teufel hatte ich mein Auto geparkt? Weit und breit kein rotes Cabrio. Womöglich mal wieder abgeschleppt. Diese Ecke in München-Schwabing war zum Kotzen. Überall Halteverbot und nirgendwo Garagen. Ich stoppte ein Taxi. Klar, dass einer meiner ehemaligen Kommilitonen am Steuer saß. Auch klar, dass ich ihm nur die Adresse „Ettstraße" nannte und nicht sagte, dass ausgerechnet meine Mutter mein erster Mordfall war.

    Es dämmerte bereits, als wir auf die Ludwigskirche zufuhren, die sich im Schein der aufgehenden Sonne leicht rosa färbte. Welche Sternenkonstellation meine Mutter wohl in diese missliche Lage gebracht hatte? An einem Sonntagmorgen aus dem Bett heraus verhaftet zu werden. Da hatte sicher Mars seine Finger im Spiel. Ich hoffte nur, dass ich schnell Jupiters segensreiche Kraft mobilisieren konnte, um ihr aus der Klemme zu helfen. Es war wirklich der falsche Zeitpunkt, mich über das Esoterik-Hobby meiner Mutter lustig zu machen, aber Galgenhumor war das einzige, was mich im Moment aufrechterhielt.

    Das Häufchen Elend mit dem aufgequollenem Gesicht, den roten, tränenden Augen und den strubbeligen Haaren, das ich im Polizeipräsidium vorfand, hatte wenig gemein mit der stolzen, selbstverliebten Susanne, die ich als meine Mutter kannte. Sie saß in sich zusammengesunken auf einem hölzernen Stuhl und hob vorsichtig den Kopf, als ich den schmucklosen Raum betrat. Ihr Blick drang kaum durch den Schleier ihrer Tränen aber signalisierte Dankbarkeit und Hoffnung, als er mich erreichte. Es kostete mich große Mühe, nicht mit ihr zu weinen sondern mit fester Stimme nach den Anklagepunkten zu fragen. Weisungsgemäß hatte meine Mutter bisher geschwiegen, aber jetzt schluchzte sie wieder und stammelte „Dr. Karl ist tot".

    „Wer ist Dr. Karl? fragte Kommissar Specht mit warmer, weicher Stimme, die nicht zu seinem Gesichtsausdruck und schon gar nicht zu seiner schmächtigen Gestalt passte. „Wir haben die Leiche eines Gabriel de Santos gefunden und zwar mit mehreren Messerstichen im Rücken. Haben Sie diesen Dr. Karl auch getötet?

    Wütend wies ich die Frage zurück. Meine Mutter war unschuldig und wenn dieser Specht etwas anderes dachte, musste er es beweisen. Weder Gabriel de Santos noch Dr. Karl waren durch die Hand meiner Mutter gestorben. Auch wenn ich keinen der beiden kannte, war ich doch sicher, dass diese zarte Person niemals ein Messer in den Körper eines Mannes rammen könnte. Meine Mutter ließ sich sogar eine Forelle vom Kellner filettieren, um das arme Tier nicht zu verletzen. Ich machte von meinem Recht Gebrauch, Susanne unter vier Augen sprechen zu dürfen. Noch begriff ich gar nichts von dem größten Rätsel, das mir das Leben jemals aufgegeben hatte.

    In der kurzen Zeit, die man uns zubilligte, erfuhr ich mehr über die spirituellen Aktivitäten meiner Mutter, als in all den Jahren zuvor. Aus Angst davor, von meinem Vater und mir verspottet zu werden, hatte sie nie davon erzählt, dass sie an einer Vielzahl von Seminaren über Geistheilung teilgenommen hatte. Gabriel de Santos war ein brasilianischer Heiler, der mehrmals im Jahr Europa bereiste, um Geld für sein Kinderkrankenhaus in Sao Paulo einzusammeln. Dazu heilte er und gab sein Wissen an Interessierte weiter. Meine Mutter hatte die Organisation seiner Besuche in München übernommen und veranstaltete für ihn sowohl Seminare als auch Heilsitzungen, zu denen eine Vielzahl von mehr oder weniger kranken aber vor allem prominenten Menschen aus ganz Deutschland kamen. Die Namen dieser Menschen wollte meine Mutter nicht preisgeben. Ihre Aufzeichnungen über die vergangenen Tage durften unter keinen Umständen der Polizei in die Hände fallen. Sie bat mich inständig, den Terminkalender aus dem Büro ihrer Boutique zu holen. Bei dem Wort Boutique fiel mir ein, dass meine Mutter Verpflichtungen hatte, die in den nächsten Tagen mir zufallen würden. Denn ihr hübscher kleiner Laden in der Wurzerstraße musste ebenso versorgt werden wie Hermes, der Kater in ihrer Wohnung in Grünwald. Doch diese Gedanken verdrängte ich schnell wieder, um Einzelheiten über die Vorgänge zu erfahren, die sie in diesen Verdacht gebracht hatten. Was hatte es mit diesen Heilsitzungen auf sich? Was geschah, wenn Gabriel de Santos, der selbstverständlich ohne Approbation arbeitete, die Menschen behandelte? „Du weißt, dass es illegal ist, als Arzt aufzutreten, ohne einer zu sein!" sagte ich vorwurfsvoll, weil ich nicht begreifen konnte, was meine Mutter veranlasst hatte, Sitzungen für einen Geistheiler zu veranstalten.

    „Aber Dr. Karl ist Arzt und Gabriel channelt ihn nur".

    „Was heißt das? Er channelt Dr. Karl?"

    „Dr. Karl war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein begnadeter Chirurg und hat vielen Menschen im ersten Weltkrieg das Leben gerettet. Nach seinem Tod bediente er sich lebender Personen, die ihm als Medium zur Verfügung stehen, um so sein Wirken fortsetzen."

    „Das ist doch Blödsinn. Mit dieser Geschichte können wir den Staatsanwalt nicht überzeugen."

    Ich erschrak über meinen barschen Ton. Doch mir schien die Erklärung so haarsträubend, dass ich fast wütend wurde. Ich legte den Arm um meine Mutter. Diese Geste brauchte ich mehr zu meiner eigenen Beruhigung als zu der ihren.  

    An dieser Stelle wurden wir von Specht unterbrochen. Irgendwie passte dieser Name zu dem Mann. Er hackte im Stakkato mit Fragen auf meine Mutter ein, weil es ihm offenbar plausibel erschien, dass sie Gabriel de Santos ermordet hatte. Doch egal, was er fragte, meine Mutter hatte keine Erklärung für Gabriels Tod. Als sie sich gestern Abend von ihm verabschiedete, lebte er noch.

    „Wie kommen sie darauf, dass meine Mandantin Gabriel de Santos ermordet hat?"

    Mit einem süffisanten Grinsen blätterte Specht in seinen Unterlagen und zitierte die Aussage einer Seminarteilnehmerin, die behauptete, meine Mutter habe mit Gabriel de Santos lautstark über Geld gestritten. Gabriel wollte neunzig Prozent der gesamten Einnahmen und Susanne Stolz bestand darauf, vor der Aufteilung der Erlöse die Raummiete in Abzug zu bringen. Darüber seien die beiden in einen so massiven Streit geraten, dass sich die Seminarteilnehmer peinlich berührt verabschiedeten und die Veranstaltung verließen. Gabriel und Susanne blieben nach Aussage der Zeugin alleine in der Physiotherapie-Praxis einer gewissen Henrike Waldheim zurück. In den frühen Morgenstunden sollte die Zugehfrau die Räume von den Spuren des Seminars und den teilweise blutigen Heilsitzungen reinigen und fand den leblosen Gabriel de Santos auf einer Massageliege. Seine Augen waren unnatürlich aufgerissen und sein Hemd von Blut durchtränkt. Specht legte uns großformatige Fotos vor, die den irren Blick in Gabriels Gesicht in grotesker Weise veranschaulichten. Das war für meine Mutter zu viel. Sie verfiel erneut in ein herzzerreißendes Schluchzen, das als ehrliche Trauer über den Tod eines geliebten Freundes absolut überzeugend wirkte. Doch Specht rührte das in keiner Weise.

    „Da die Mordwaffe bisher nicht gefunden wurde, stützen wir uns auf den Streit, den ihre Mandantin mit dem Ermordeten hatte. Sie ist in jedem Fall die letzte, die ihn lebend gesehen hat und es ist nahe liegend, dass das aus den Sitzungen bereits vorhandene Messer als Tatwaffe diente."

    „Um was für ein Messer handelt es sich denn?" unterbrach ich ihn.

    „Nun, die Tatwaffe haben wir noch nicht. Die Kollegen sind noch am Tatort. Es war in jedem Fall ein Schneidwerkzeug."

    Er machte eine Pause und sah Susanne triumphierend an. Dann wandte er sich wieder mir zu.

    „Vielleicht hat ihre Mutter ja in Notwehr gehandelt, weil de Santos ihr das Geld abnehmen wollte. Aber das ist schon die strafmildernste Variante, die ich ihnen anbieten kann. Ein Geständnis macht die Sache für uns alle am einfachsten."

    Unvermutet heftig schlug meine Mutter mit der flachen Hand auf den Tisch und sprang auf. „Ich habe Gabriel nicht ermordet – er hat mich weg geschickt, weil er mit Dr. Karl alleine sein wollte! Als ich ging, lebte Gabriel. Wegen hundert Euro bringe ich doch niemanden um!" Ich zog meine Mutter am Pullover auf den Stuhl zurück und bat sie, sich zu beruhigen. Specht grinste überheblich.

    „Sie sehen doch, dass ihre Mutter im Affekt durchaus zuschlagen kann. Genauso kann sie auch zustechen. Glauben Sie nicht?"

    Noch bevor ich ihm antworten konnte, fügte er sarkastisch hinzu:

    „Angesichts der Geschichte, die ihre Mutter über einen Arzt aus dem ersten Weltkrieg zu erzählen hat, können sie ja auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren."

    Diese Frechheit verschlug mir für kurze Zeit die Sprache. Als ich sie wieder fand, hatte Specht bereits nachgesetzt und behauptet, es haben in den von meiner Mutter organisierten Heilsitzungen Operationen statt gefunden, die aufgrund der mangelnden ärztlichen Zulassung von Gabriel de Santos strafbar seien und insofern sei meine Mutter auch hier in eine Vielzahl von Delikten verstrickt. Er werde meine Mutter zeitnah dem Ermittlungsrichter vorführen lassen.

    In diesem Moment kam ein Beamter ins Zimmer. Er flüsterte Specht etwas ins Ohr. Specht ging hinaus und kam mit einem breiten Grinsen zurück. In der Hand hielt er einen kleinen Plastikbeutel, darin lag ein Skalpell. Er schwenkte den Beutel vor dem Gesicht meiner Mutter.

    „Das haben die Kollegen in der Mülltonne hinter dem Haus gefunden", sagte er.

    Das Entsetzen auf dem Gesicht meiner Mutter verriet nichts Gutes.

    „Und Frau Stolz, wie sieht es jetzt mit dem Geständnis aus?" fragte Specht.

    „Meine Mandantin hat keine Veranlassung etwas zu gestehen, was sie nicht getan hat. Haben sie denn die Fingerabdrücke schon überprüft."

    „Formsache meinte Specht. „Ich verwette meinen Arsch, dass die Fingerabdrücke ihrer Mutter auf diesem Skalpell sind.

    „Nehmen sie das zurück", war alles, was mir darauf einfiel. Ich war geschockt.

    „Was? Den Wetteinsatz? OK, das ist mir so rausgerutscht. Die Damen entschuldigen. Im Hinausgehen fügte er hinzu: „Dann lassen wir mal die Fingerabdrücke überprüfen.

    „Mama, kennst du das Skalpell?"

    „Ich nehme an, es ist das Skalpell, das Gabriel gestern benutzt hat", sagte sie im Flüsterton.

    „Hast du es angefasst?"

    „Ja."

    „Benutzt ihr keine Handschuhe?"

    „Nein, ich habe es so angefasst."

    Specht kam wieder herein.

    „Für den Haftrichter wird es reichen, Ladies, sagte er. „Sie sollten sich das mit dem Geständnis noch einmal überlegen. Mit Notwehr und guter Führung kommen sie vielleicht schon in drei bis vier Jahren wieder raus.

    Hätte das Skalpell noch am Tisch gelegen, hätte ich es Specht gerne zwischen die Rippen gerammt. Er ließ meine Mutter abführen und ich musste ohnmächtig zusehen. Ich wäre sofort für sie in die Zelle gegangen, denn ich wusste, dass es für sie unerträglich würde, ihr freies, unbeengtes Leben auf vier Quadratmeter zu reduzieren und dabei den Glauben an die Gerechtigkeit nicht zu verlieren.

    Meine Mutter war unschuldig. Davon war ich überzeugt. Ein bisschen mulmig war mir bei dem Gedanken, Beweismaterial aus ihrer Boutique verschwinden zu lassen. Aber lieber hatte ich die Aufzeichnungen über die vorangegangenen Heilsitzungen, als dass sie der Polizei in die Hände fielen. Am meisten Interesse dürfte allerdings die Presse an diesem Material haben. Ein Schmunzeln überflog mein Gesicht bei dem Gedanken, dass die spirituell angehauchte Münchener Society hier namentlich in Erscheinung trat. In Gedanken zitierte ich die Boulevardpresse mit Geschichten über die göttlich geölte Stimme einer berühmten Sängerin, die gelinderte Arthritis einer alternden Schauspielerin, das geheilte Magenleiden eines Fußballtrainers und das entfernte Furunkel der Society-Lady. Sie alle würden mir sicher persönlich ihre Dankesbezeugung überbringen wollen, wenn sie wüssten, dass ich an diesem kalten Dezembersonntag im Büro meiner Mutter nach einem Terminplaner suchte. Zum Glück war meine Mutter kein Freund der elektronischen Medien, so dass es nicht nötig war, eine Festplatte zu löschen oder gar auszubauen, um die Daten verschwinden zu lassen. Die Suche nach der Agenda gestaltete sich schwierig, denn in dem Hinterzimmer der Boutique „Susanne" war es fast dunkel und ich wollte vermeiden, dass mich ein Lichtschein zur Straße verriet. Früher oder später würde die Polizei nicht nur die Wohnung meiner Mutter durchsuchen, sondern auch hier aufkreuzen. Ich bewunderte Susannes Weitblick, mir irgendwann einmal die Schlüssel für beides überlassen zu haben. Sie setzte stets darauf, dass ich sie in ihrer Boutique vertreten würde, wenn sie mal nicht die Kraft hätte, den Laden selbst aufzusperren. So waren zumindest ihre Worte gewesen. Dass die Kraft sie auf diese Art verlassen würde, hatte sie sicher nicht erwartet. Ich musste mich sehr beherrschen, nicht in all den Astrologie-Wälzern zu schmökern, die meine Mutter hier stapelte. Tatsächlich erstellte sie für ihre Kundinnen Horoskope. Da tauchten dann auch die ersten Namen auf, von denen ich sicher war, dass sie die Auflage der Abendzeitung in den nächsten Tagen erhöhen würden, wenn ich mich nicht darum kümmerte. Hinzu kam mein Gedanke, dass Mama sicherlich diese Nebeneinnahmen aus astrologischer Beratung in der Steuererklärung vergessen hatte. Meine Mutter saß wegen Mordes in Untersuchungshaft und ich dachte an ihre kleinen Steuervergehen. Das war wohl meine Art mit dem enormen Schrecken, den das Wort „Mord" in meiner Seele auslöste, fertig zu werden. Ich spürte, wie mein Körper rebellierte, ich begann zu zittern und mir wurde bewusst, dass ich gerade dabei war, in einem Mordprozess Beweismaterial zu unterschlagen. Ein echter Meilenstein in meiner Anwaltskarriere. Hätte ich doch nur auf meinen Vater gehört und wäre bei ihm in der Kanzlei geblieben. Aber nein, ich musste ja unbedingt mit Martin und Ali die Strafrechtssache durchziehen. Egal, jetzt galt es, dieses blöde Terminbuch zu finden und dann nichts wie weg hier. Nervös und zittrig zog ich alle Schubladen auf, kramte, schob sie wieder zu. Warum hatte mir meine Mutter keinen Hinweis gegeben? Hielt sie mich für Mata Hari? Dann endlich kam mir die Idee, es gab einen kleinen Wandsafe, den Susanne vor ein paar Jahren hatte einbauen lassen. Doch weder wusste ich, wo sich dieser Safe befand noch wie er zu öffnen war. Was war ich für eine schlechte Tochter, die sich so gar nicht für die Belange ihrer Mutter interessierte? Weder hatte ich eine Ahnung von ihren spirituellen Kontakten noch kannte ich die banalsten Dinge ihrer Geschäfte. Dennoch hatte sie darauf vertraut, dass ich gegebenenfalls einmal ihren Laden für ein paar Tage führen könnte. So war sie eben. Immer positiv denkend und voller Vertrauen in ihre Mitmenschen. Manchmal fast naiv; wobei ich glaubte, diese Naivität hatte sie sich zum Schutz gegen meinen Vater zugelegt, der sie mit seinem Realismus fast erdrückte. Dann flüchtete sie sich in eine Welt, in der alles heil und gut war, setzte ihrem Gesicht ein glückliches Lächeln auf und verschwand in ihr Zimmer. Diese Frau konnte niemanden ermordet haben und schon gar nicht in einem Streit über 100 Euro Raummiete.

    Mein Blick wanderte über die Wände der kleinen, unordentlichen Kammer. Überall hingen indisch anmutende Stoffe. Das wenige Licht ließ die Goldfäden in den Schals, Kordeln und Quasten leicht glitzern. Jetzt erst bemerkte ich den Weihrauchgeruch. Von meiner Aufgabe, das Terminbuch zu finden, getrieben, hatte ich meine Umgebung kaum wahrgenommen. Hinter einem zarten dünnen Seidenschal sah ich ein Bild meiner Mutter an der Wand. Es zeigte sie als junge, glückliche Frau mit blonden,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1