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Endgame: Die Tragödie der Könige und Bauern
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eBook452 Seiten6 Stunden

Endgame: Die Tragödie der Könige und Bauern

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Über dieses E-Book

Nach einem großen Wirtschaftskollaps herrscht im Land die Anarchie. Der Konflikt zwischen dem Volk und der Regierung spitzt sich zu. Eine ganze Nation droht im Chaos zu versinken.

Der Roman erzählt vom erbitterten Überlebenskampf des pflichtbewussten Polizisten Adam und der verwöhnten Studentin Alice, deren Ideale auf die Probe gestellt werden.

In einer einzigen Nacht entscheidet sich nicht nur das Schicksal der beiden, sondern auch das des ganzen Landes.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum8. Jan. 2018
ISBN9783742764508
Endgame: Die Tragödie der Könige und Bauern

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    Buchvorschau

    Endgame - Alexander Winethorn

    Kapitel 1: Figuren

    Der Ritter

    ****

    Es war ein schöner, aber extrem heißer Nachmittag. Der Himmel war blau und wolkenlos. Der warme Sommerwind ließ die grünen Blätter an den Ästen der Bäume wild herumwirbeln.

    Wären die Umstände anders gewesen, so hätte dies ein gemütlicher und erholsamer Tag sein können. Leider war die derzeitige Situation alles andere als gemütlich und schon gar nicht erholsam. Adam war sich dessen auch bewusst, als er an dem alten Eichenbaum vorbeiging und das Tor der Schule passierte.

    Es musste mindestens siebzehn Jahre her sein, seitdem er das letzte Mal eine Schule besucht hatte, wenn man die Polizeiakademie nicht mitzählte. Aber selbst die lag schon einige Jahre zurück.

    Adam überquerte den Schulhof, ein großer, gepflasterter Platz, der durch zwei Eingänge mit dem Schulgebäude verbunden war.

    Wo sonst immer die Schüler ihre Pausenbrote aßen oder spielend herumliefen, standen heute um die dreißig erwachsene Personen verteilt im Hof herum. Alles Polizisten.

    Adam betrachtete seine Kollegen genauer. Es war eine gemischte Gruppe. Alte und Junge. Frauen und Männer. Sie alle kamen in ziviler Kleidung, so wie es ihnen in der Versetzungsmeldung befohlen wurde. Einige waren in Gespräche verwickelt, aßen oder tippten in ihren Handys. Keiner von ihnen schien von den Ausschreitungen der gestrigen Nacht beunruhigt zu sein. Zumindest zeigte es niemand.

    Abgesehen von den Polizisten wirkte die Schule verlassen. Nachdem die Regierung eine Ausgangssperre über die ganze Hauptstadt verhängt hatte, wurden bestimmte Areale der Stadt als strategisch wichtige Punkte klassifiziert. Diese Privatschule gehörte zu solch einem Punkt. Ihre zentrale Lage erlaubte es, jeden Teil der Stadt schnell zu erreichen. Ideale Voraussetzung also, um eine Kommandozentrale einzurichten.

    Während die Schüler wahrscheinlich zu Hause ihre unterrichtsfreie Zeit genossen, musste Adam seiner Pflicht nachgehen.

    Er wollte gerade ins Gebäude gehen, um eine Toilette aufzusuchen, als er lautes Gelächter vernahm. Eine Gruppe von etwa sechs Männern bildete einen Halbkreis um einen dürren, jungen Mann, der, wie Adam vermutete, frisch von der Akademie kam. Der junge Kollege trug eine dicke Hornbrille, weiße Socken mit Sandalen und ein T-Shirt, auf dem das Motiv einer halbnackten Zeichentrickfigur zu sehen war. Anscheinend nahm er den Befehl, in Freizeitkleidung zu kommen, etwas zu wörtlich.

    Anfängerfehler, dachte Adam.

    Die Männer, die den schmächtigen Jungen umzingelten, trugen eng anliegende Hemden, wodurch ihre durchtrainierten und muskulösen Oberkörper besser zur Geltung kamen.

    »Ich kann nicht glauben, dass du zu unserer Truppe gehören sollst«, sagte einer der Kerle herablassend zu dem jungen Mann mit der Brille.

    »Heute vergeben sie ja den Polizeischein an jeden Clown. Echt traurig. Die Lage muss wirklich schlimm sein, wenn wir so jemanden wie dich brauchen«, fügte ein Zweiter hinzu.

    Adam konnte kaum glauben, was sich da vor seinen eigenen Augen abspielte. Man hätte meinen können, bei diesen Typen handelte es sich um irgendwelche pubertierenden Jugendlichen und nicht um erwachsene, ausgebildete Polizisten. Er hätte dieses Verhalten gerne mit der schulischen Umgebung entschuldigt, die längst vergangene Gewohnheiten wieder hervorrief. Schließlich hatte er sich selbst schon dabei ertappt, wie er ein paar Mal an Hausübungen und Tests dachte. Aber Schule hin oder her, diese unhöfliche Art entsprach nicht dem Benehmen der Polizei.

    Einer der Männer, mit markant hellblonden Haaren, zupfte an der Kleidung des schmächtigen Kollegen. Mit einer schnellen Bewegung zog der blonde Mann seinen Arm um den Jungen und erfasste ihn in einem Unterarmwürgegriff.

    Mit drohender Stimme sagte der blonde Angreifer zum Jungen: »Wegen solchen Grünschnäbeln glaubt der kriminelle Abschaum, sie könnten mit uns machen, was sie wollen. Vor Witzfiguren wie dir haben die Leute keinen Respekt. Weißt du, wie vielen Junkies und Möchtegern-Gangstern ich schon zeigen musste, wer das Sagen hat?« Mit diesen Worten zog der Blonde seinen Arm dichter an seinen Körper, wodurch der Junge noch fester gewürgt wurde. Der Kopf des jungen Polizisten lief rot an, und er rang nach Luft.

    »Ich glaube, das reicht jetzt«, sagte Adam mit ruhiger Stimme.

    Der Blonde sah verärgert zu ihm hinüber und befreite den Jungen aus dem Würgegriff, woraufhin dieser schwer atmend und leicht benommen einen Schritt zurücktaumelte.

    Adam und der Blonde standen sich nun direkt gegenüber. Beide Männer warfen sich herausfordernde Blicke zu.

    »Wer hat dich nach deiner Meinung gefragt?«, schnaubte der Blonde mit einem herablassenden Tonfall.

    »Was ist dein Problem? Hat der Junge dir dein Pausenbrot gestohlen?«, erwiderte Adam sarkastisch.

    Es gab ein kurzes Gelächter von den Kollegen, was den Blonden noch wütender machte. Er näherte sich Adam ein paar Schritte, um seine Drohgebärde zu verstärken. »Ich habe dir eine Frage gestellt.«

    »Und ich habe sie erfolgreich ignoriert«, entgegnete Adam gelassen. »Glaubst du nicht, dass wir für so etwas ein wenig zu alt sind, Herr Kollege?«

    »Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, Kollege«, sagte der Blonde, »aber ich denke, man ist nie zu alt, um seinen Mitmenschen Respekt und Demut zu lehren. Manche Leute brauchen so eine Lektion hin und wieder einmal, ansonsten vergessen sie, wer das Sagen hat. Du gehörst wohl auch zu ihnen.«

    Kaum hatte der Blonde die letzten Worte ausgesprochen, da sprang er schon auf Adam zu. Er versuchte, seinen Arm um dessen Hals zu schlingen, um ihn zu würgen, doch Adam war auf diese Attacke vorbereitet. Er zog seine rechte Hand nach oben und blockte dadurch den angreifenden Arm des Blonden. Mit einer schnellen Bewegung rammte Adam seinen linken Ellbogen gegen den Unterleib seines Angreifers. Der Blonde keuchte auf und schnappte nach Luft. Adam drehte sich um, wobei er noch immer den Arm des Blonden festhielt. Bevor sein Gegenüber irgendetwas machen konnte, drückte Adam auf dessen Armgelenk. Der blonde Polizist ging mit einem schmerzverzogenen Gesicht in die Knie.

    »Apropos Demut«, sagte Adam in einem ironischen Tonfall. »Ich weiß zwar nicht, was man dir in der Polizeischule beigebracht hat, aber Respekt ist etwas, das man sich erst verdienen muss.« Adam hatte den Arm des Blonden weiterhin fest im Griff. »Als Polizist ist es nicht unsere Aufgabe, Schwächere zu unterdrücken. Viel mehr ist es unsere Pflicht, sie zu beschützen.«

    Ein schrilles Pfeifen unterbrach Adams Belehrung.

    »Alle Beamten sollen sich umgehend im Klassenzimmer 8B melden!«, rief eine Stimme aus dem Lautsprecher der Schule.

    »Genug gespielt. Jetzt wird es ernst«, sagte Adam und löste seinen Griff.

    Der Blonde sprang sofort auf und wollte wieder angreifen, doch er wurde von seinen Freunden zurückgehalten. Widerwillig gab er nach und sagte drohend: »Wir sehen uns wieder.« Daraufhin folgte er den anderen Polizisten in das Schulgebäude.

    Adam blieb alleine im Schulhof zurück. Er blickte zur Sonne, die gerade dabei war, am Horizont zu verschwinden. Der Tag ging zu Ende, und er hatte das Gefühl, dass es noch eine lange Nacht werden würde.

    Die Prinzessin

    ****

    Mit ihrem kleinen Wagen raste Alice Pollux von der Autobahn in die Abzweigung, die sie in Richtung Stadtmitte führte. Sie war bereits zwanzig Minuten zu spät, und obwohl sie für die Verspätung nichts konnte, fühlte sie sich doch etwas schuldig.

    Im Rückspiegel sah sie den kräftigen, roten Streifen der untergehenden Sonne. Die Welt um sie herum wurde zu einer märchenhaften und kitschigen Abendlandschaft. Dieser Moment gehörte zu ihrer Lieblingstageszeit.

    Wie romantisch, dachte Alice.

    Der rötliche Farbton der Dämmerung ließ ihr weißlackiertes Auto wie eine riesige, schimmernde Porzellanskulptur aussehen. Die rosa Sitzbezüge passten gut zum Außenlack des Wagens, was dem Ganzen ein edles und luxuriöses Erscheinungsbild gab. Das Auto war ein wunderbares Geburtstagsgeschenk von ihrem Vater.

    Alice hielt sich genau an die Anweisungen auf dem Zettel, den sie von ihrer Freundin Lydia bekommen hatte. Ohne diesen Wegweiser hätte sie nicht gewusst, welche Abzweigung sie gefahrlos nehmen konnte. Seit den Ausschreitungen der gestrigen Nacht war der Großteil der Stadt gesperrt. Überall waren Polizeikontrollen, die sie angehalten und zum Umkehren gezwungen hätten.

    Nach ungefähr einer halben Stunde erreichte Alice eine Kirche, vor deren Eingangstor eine drei Meter hohe Ritterstatue stand. Es wirkte so, als wolle der Ritter die Kirche vor all dem Chaos und der Gewalt, die momentan in der Stadt herrschten, beschützen. Instinktiv griff Alice nach ihrer Halskette, an der ein goldenes Kreuz hing. Das letzte Mal hatte sie eine Kirche mit ihrer Mutter besucht. Aber daran wollte sie jetzt nicht denken.

    Hinter der Kirche befand sich eine weitläufige Wiese, die mit Zelten übersät war. Die Zelte besaßen die unterschiedlichsten Formen, Farben und Größen; es gab solche, wie man sie auf Campingplätzen sah, und solche, die an ein Zirkuszelt erinnerten. Es entstand der Eindruck einer kleinen Siedlung, die inmitten der Großstadt errichtet wurde.

    Als Alice vor einem Zelt parken wollte, schüttelte eine Frau den Kopf und deutete auf den Wald, am Rande der Wiese. Trotz der vielen Wohnmobile, die zwischen den Zelten abgestellt waren, gab es anscheinend ein Parkverbot für Autos innerhalb der Zeltstadt.

    Glücklicherweise handelte es sich bei den Bäumen im Wald um einfache Laubbäume, und somit hingen keine Tannenzapfen oder andere schwere Früchte an den Ästen. Alice hatte das Auto gerade erst neu lackieren lassen, und einen Kratzer hätte sie nicht überlebt. Da wäre ihr ein abgebrochener Fingernagel lieber gewesen.

    Nachdem sie ihren Wagen am Waldrand geparkt hatte, betrachtete sie sich im Rückspiegel. Sie kontrollierte ihr Make-up und richtete ihre blond gefärbten Haare zurecht. Sie griff nach ihrer Designerhandtasche und verließ das Auto.

    Bereits nach den ersten Schritten musste sie feststellen, dass ihr Cocktailkleid mit dem Tigermuster, ihre weißen Stiefel und ihre rosa Jacke nicht für diese Umweltbedingungen geeignet waren. Die Jacke war viel zu dünn, und trotz des lauen Sommerabends begann sie, zu frieren. Zwar hatte sie einen teuren Designermantel im Kofferraum, jedoch verschluckte er ihre Figur. All die Stunden im Fitnesscenter wären dann umsonst gewesen.

    Der Wiesenboden war nach den regenreichen Tagen der letzten Zeit nass und uneben geworden, weshalb ihre weißen Stiefel tief in die weiche, matschige Erde versanken. Mit jedem Schritt wurden ihre schönen Schuhe dreckiger.

    Die eher bescheiden gekleideten Bewohner der Zeltstadt musterten die junge Frau mit prüfenden Blicken. Mit ihrem Outfit sorgte sie für Aufsehen, aber damit hatte sie noch nie Probleme gehabt, tatsächlich genoss sie die Aufmerksamkeit der anderen.

    Auf dem kleinen gelben Stück Papier, den ihr Lydia als Wegbeschreibung mitgegeben hatte, war zusätzlich – Zelt Nummer 7 – notiert worden.

    Die Zelte waren einzeln nummeriert, womit es einfacher wurde, sich zu orientieren und den Überblick zu behalten. Offensichtlich hatte man die Zelte mit den höheren Nummern außerhalb des Lagers gestellt, und die mit den niedrigen Nummern in das Zentrum.

    Nach einigem Suchen und Umherirren wurde Alice schließlich fündig. Das Zelt mit der Nummer 7 machte von außen nicht viel her und wirkte für ihren Geschmack ein wenig zu rustikal. Es war jedoch eines der größten Zelte im Lager.

    Als sie das Zelt betrat, kam ihr ein modriger Geruch entgegen, der sich mit den Ausdünstungen der Leute vermischt hatte. Vor Ekel rümpfte sie die Nase. Ihre Instinkte schrien geradezu danach, sich umzudrehen, zurück zum Wagen zu gehen und weit, weit wegzufahren. Sie zögerte, und für einen Augenblick überlegte sie, ob sie es nicht wirklich tun sollte, doch dann kam der eigentliche Grund für ihr Erscheinen auf sie zu – Albert Krowley.

    Albert Krowley war sozusagen der Anführer der Demonstranten, oder zumindest glaubte sie das. Sie war sich nicht ganz sicher, welche Stellung er im Lager hatte. Alice wusste nicht einmal genau, worum es bei diesen Demonstrationen ging. Im Radio hieß es, die hohe Arbeitslosigkeit wäre die Ursache für die Unruhen. Aber sie hatte schon andere Gründe gehört, von irgendwelchen Gesetzesänderungen oder so etwas Ähnlichem.

    Obwohl ihr Vater, Richard Pollux, der Präsident des Landes war, hatte Alice nicht das geringste Interesse an der Politik. Die Politik war für sie zu trocken und zu langweilig, außerdem stellte sie fest, dass Politiker im Allgemeinen keine besonders attraktiven Menschen waren. Warum sich also damit beschäftigen?

    Ihr Interesse an diesem Abend galt einzig und alleine Albert. Bereits im allerersten Moment, als sie ihn bei einer Party eines Bekannten erblickte, wusste Alice, dass sie füreinander bestimmt waren. Zwar war Albert bereits Mitte vierzig, also fast doppelt so alt wie sie, aber da sie mit Männern in ihrem Alter noch nie wirklich etwas anfangen konnte, störte sie der Altersunterschied nicht. Im Gegenteil, sie fand ihn deswegen umso attraktiver. Seine groß gewachsene Figur mit dezent antrainierten Muskeln, sein weiches Gesicht und seine haselnussbraunen Augen waren ihre Beweggründe zu demonstrieren. Wohin und weswegen sie demonstrierte, spielte für Alice keine Rolle, Hauptsache sie war in Alberts Nähe. Leider wusste er nichts von ihren Gefühlen zu ihm, aber das sollte sich ändern, denn heute Nacht wollte sie ihm ihre Liebe gestehen.

    »Hallo! Gut, dass du gekommen bist!«, sagte Albert mit einem charmanten Lächeln.

    »Danke, dass ich hier sein darf«, piepste sie zurück.

    »Ich bitte dich. Jeder, der für unsere Sache kämpft, ist willkommen.« Albert sprang mit jugendhaftem Eifer auf einen Sessel, hob die Arme in die Höhe und rief den Leuten zu: »Hört her!« Alle Augen im Zelt waren auf ihn gerichtet. »Das ist … Steffi? Äh … Isabella? Nein! Sandra!« Albert runzelte die Stirn und blickte sie fragend an.

    »Alice«, flüsterte sie ihm leicht verlegen zu.

    »Alice! Natürlich! Das ist Alice! Sie wird mit uns marschieren, wenn wir diesem veralteten Polizeistaat eine Lektion erteilen, indem wir eine gerechte und soziale Kommune erschaffen! Lang lebe die spirituelle Revolution!«

    Ein kurzer, zustimmender Applaus folgte.

    Albert nahm ihre Hand und führte Alice zu einem anderen Teil des Zeltes, wo mehrere Personen lebhaft miteinander diskutierten. Sie konnte nicht feststellen, worüber sie sprachen. Nicht, dass es sie wirklich interessiert hätte, allerdings wollte sie Albert beeindrucken. Als sie näher herantrat, sah sie ihre Freundin Lydia.

    Lydia hatte schulterlange, braune Haare, einen wohlproportionierten Körper und ein hübsches Gesicht. Sie studierte Biologie an der städtischen Universität. Alice selbst war Medizinstudentin und traf Lydia in einer Vorlesung über Humanethik. Eine langweilige und überflüssige Vorlesung, aber eine geschenkte Prüfung.

    »Hallo Prinzessin! Ich dachte, du kommst gar nicht mehr.« Lydia umarmte Alice zur Begrüßung und küsste sie auf die Wangen.

    »Ja, sorry, musste meinen Bruder noch bei seinem Freund abliefern. Was besprecht ihr gerade so Wichtiges?«, fragte Alice, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.

    »Gestern Nacht gab es einen unglücklichen Zwischenfall mit der Polizei«, sagte Lydia mit besorgter Miene. »Niemand weiß was Genaues, aber angeblich ist ein Polizeitransporter, der voll mit Demonstranten war, explodiert.«

    Alice konnte ihr schockiertes Gesicht nicht verbergen. »Ich dachte, wir würden nur ein paar Plakate herumtragen und friedlich herumspazieren … ähm … ich meinte, demonstrieren?«

    »Keine Angst. Ist wahrscheinlich nur ein Gerücht«, beruhigte Lydia ihre Freundin. »Von solchen hört man im Lager viele. Die Nachrichten sind in dieser Hinsicht keine große Hilfe. Die zeigen auch nur das, was die Politiker ihnen vorgeben. Sie wollen uns Demonstranten als gewalttätige und aufständische Rebellen darstellen.«

    Alice blickte auf ihre rosa Jacke und ihre weißen Stiefel. Dass jemand denken könnte, sie wäre eine Rebellin, amüsierte sie. Alice Pollux, die High-Society-Rebellin!

    »Du bist nicht wirklich den Umständen passend angezogen«, meinte Lydia, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.

    »Typisch Prinzessin eben«, erwiderte Alice grinsend und strich sich dabei durch ihre blond gefärbten Haare.

    Die Gruppe, die zuvor noch miteinander diskutiert hatte, verschwand mit Albert hinter einem purpurnen Vorhang. Alice wollte mit ihm mitgehen, doch ihre Freundin hielt sie zurück.

    »Da dürfen wir nicht hinein. Ist so eine Art VIP-Bereich«, sagte Lydia.

    Alice machte einen leicht verdutzten Gesichtsausdruck. »Ein VIP-Bereich in einem Zelt?« Sie konzentrierte ihren Blick, als wolle sie mit einem Röntgenblick durch den purpurnen Vorhang hindurchsehen. Aber all ihre Konzentration half nichts. Sie fragte sich, was wohl hinter dem Vorhang so Wichtiges und Exklusives passierte. Sie nahm sich vor, Albert beim nächsten Mal darauf anzusprechen.

    »Lass uns gehen, Alice. Wir müssen für dich geeignete Klamotten finden.« Mit diesen Worten verließ Lydia das Zelt, und Alice folgte ihr.

    Die Matriarchin

    ****

    Kleine grüne Punkte wirbelten durch die Luft, wie Glühwürmchen, die im tiefschwarzen Himmel herumschwirrten. Die fliegenden Lichtpunkte ließen die Umrisse von etwas Großem und Bedrohlichem erkennen. Die Scheinwerfer des Parlaments strahlten mit ihrem hellweißen Licht auf das unbekannte Objekt im Himmel. Allmählich wurde der Flugkörper sichtbar. Es war ein schwarzer Helikopter.

    Der Hubschrauber setzte zur Landung auf dem Dach des Parlaments an. Gleich wie ein Raubtier, das auf seine Beute sprang.

    Ein Mann und eine Frau stiegen mit eingezogenen Köpfen aus dem Helikopter. Mehrere Leibwächter eskortierten die beiden.

    Der Mann, um die fünfzig, mit randloser Brille, blauer Krawatte und silbernem Haar, war Richard Pollux, der Präsident des Landes. Die Frau, die ihn begleitete, hieß Eva Scheppert. Sie hatte lange, schwarze Haare, eine schlanke Figur und eine dunkle Hautfarbe.

    Eva war die erste Frau in der Geschichte des Landes, die zur Kanzlerin gewählt wurde. Ein Posten, der bisher immer nur von Männern besetzt worden war.

    »Was wissen die Medien über den Zwischenfall von gestern Nacht, Frau Scheppert?«, rief der Präsident mit aller Kraft, damit seine Stimme nicht unter dem Motorenlärm des Hubschraubers unterging.

    »Nicht viel«, erwiderte Eva in einer genauso hohen Lautstärke. »Sie wissen nur, dass ein Polizeitransporter angegriffen wurde und es Tote gab. Aber sie haben weder konkrete Zahlen, noch können sie etwas über den Vorgang sagen, Herr Präsident.«

    »Gut, gut«, sagte Pollux. »Lassen Sie uns hoffen, dass das auch so bleibt. Ich rate Ihnen, ein Flugverbot auf alle Privatflieger und Nachrichtenhubschrauber zu verhängen. Die Medien sollten so wenig wie möglich mitbekommen. Was schreiben die Zeitungen über die derzeitige Situation?«

    Beide gingen durch eine Tür, die ins Innere des Parlaments führte, und stiegen die Treppen hinunter.

    »Das TÄGLICHE BLATT lobt den Abbruch Ihres Urlaubes als ein Zeichen für Ihre Sorge um das Volk. Außerdem sind sie der Ansicht, dass ich als Frau den Anforderungen des Kanzlerpostens nicht gewachsen bin. Die XRF bleibt bei den Fakten. Sie meint jedoch, dass die Ausschreitungen ein weiterer Beweis dafür wären, dass das Amt des Präsidenten überflüssig geworden ist und endgültig abgeschafft werden sollte. DIE NORM nennt die letzte Nacht eine ›verheerende Katastrophe‹ und beschwört eine ›Revolution des Volkes‹.«

    »Revolution?«, entfuhr es dem Präsidenten. »Diese Medienclowns haben keine Ahnung, was eine Revolution ist! Es geht hier doch nicht um den Sturm auf die Bastille! Nur weil einige Arbeitslose den Weg zum Arbeitsamt nicht mehr finden, sondern auf den Straßen umherirren, denkt jeder gleich, das sei das Ende der Welt.«

    »Ich befürchte, unser Problem ist etwas schwerwiegender«, meinte Eva. »Deswegen habe ich auch für heute Nacht diese Krisensitzung einberufen lassen.«

    Der Präsident blieb abrupt stehen. »Wer wird kommen?«

    »Alle«, sagte Eva nüchtern. »Sie alle werden kommen.«

    Pollux wischte sich mit einem Seidentuch die Schweißperlen von der Stirn. »Was hat DAS ZEPTER geschrieben?«

    DAS ZEPTER war die meistgelesene Tageszeitung des Landes und dementsprechend ein wichtiges Werkzeug, um die Meinung der Bevölkerung zu beeinflussen. Der Politiker, der diese Zeitung für sich gewinnen konnte, hatte das Volk so gut wie in der Tasche. Der Eigentümer, Roland Sprizzer, wurde aufgrund dieser mangelnden Objektivität von vielen kritisiert.

    »Sie haben uns ihre volle Unterstützung versprochen. Sie werden das schreiben, was wir ihnen vorgeben, solange wir die üblichen Gegenleistungen einhalten.« Eva musste sich bei diesen Worten auf die Lippen beißen. Sie empfand die enge Beziehung zwischen den Medien und der Politik als anstößig. Die fehlende Moral und Ethik dahinter gefiel ihr nicht, und als neu gewählte Kanzlerin plante sie, diese verlogene Synergie möglichst bald zu unterbinden.

    »Ich werde Roland unsere Dankbarkeit ausrichten, wenn ich ihn beim nächsten Golfturnier treffe«, sagte Präsident Pollux und ging mit Eva einen schmalen Korridor entlang. Sie befanden sich in einem Teil des Parlaments, in dem es größtenteils nur Büros und Konferenzzimmer gab.

    »Sind schon alle versammelt, oder sind wir die Ersten?«, fragte der Präsident.

    »Ich habe mit dem Vorsitzenden des Gewerkschaftsrates telefoniert. Aufgrund der Unruhen und der Ausgangssperre werden sich die Ratsmitglieder etwas verspäten. Viele Abgeordnete sind ebenfalls noch nicht eingetroffen. Einige haben das Land fluchtartig verlassen.«

    Pollux schnaufte verächtlich und dachte dabei an Stronz. Stronz war der Bürgermeister dieser Stadt. Nachdem die Situation in der gestrigen Nacht außer Kontrolle geriet, packte er seine Sachen und machte sich aus dem Staub. Den letzten Berichten zufolge wurde er am Flughafen gesichtet, als er gerade in sein Privatflugzeug stieg. Wohin seine überstürzte Reise gehen sollte, wusste niemand.

    Der Präsident und die Kanzlerin eilten zum Lift, als ihnen ein Mann mit aufgeregter Stimme zurief: »Wartet auf mich!« Bei dem Mann handelte es sich um den Obersten Richter Simon Stauff.

    »Hallo Simon«, sagte der Präsident.

    »Was machst du denn hier, Richard?«, fragte der Richter. »Solltest du nicht am Strand liegen, Cocktails schlürfen und deine Frühpension genießen, während wir die wichtigen Entscheidungen treffen? Du weißt schon, die Leute, die in diesem Land noch etwas zu sagen haben.«

    Pollux ignorierte seine abfällige Bemerkung und sagte: »Wahrscheinlich kennst du bereits unsere neue Kanzlerin, Eva Scheppert.«

    Der Präsident machte einen Schritt zur Seite, und Eva reichte dem Mann die Hand.

    »Natürlich kenne ich die Dame! Ich war doch bei ihrer Vereidigung dabei. Die erste weibliche Kanzlerin des Landes. Hervorragende Rednerin. Eine geborene Politikerin. Eigentlich hatte ich gehofft, Sie würden für mich beim Obersten Gerichtshof arbeiten, Frau Scheppert.«

    »Ich habe mich über Ihr Angebot gefreut, aber …«

    »Ist schon gut«, unterbrach der Richter sie. »Ich hätte mich wahrscheinlich auch für die Königsklasse entschieden. Man sollte immer die Gelegenheit am Schopf packen, schließlich kann man nie genug Macht haben. Nicht wahr?«

    »Ich bin schon froh, wenn wir diese Nacht heil überstehen«, erwiderte Eva.

    »Die Krisensitzung scheint spannend zu werden. Ihr wisst doch, was man sagt, wenn sich Legislative, Exekutive und Judikative treffen?« Nach einer Pause beantwortete der Richter seine Frage selbst. »Es wird ein Gemetzel!« Sein Lachen war nur von kurzer Dauer, als er bemerkte, dass er der Einzige war, der über seinen Witz lachte.

    »Wir müssen gehen, man wartet bereits auf uns«, sagte Präsident Pollux ungeduldig und setzte mit Eva den Weg fort, der sie tiefer ins Parlament führte.

    Der Krieger

    ****

    Peter Pollux schlug mit aller Kraft gegen das Gesicht des Ladenbesitzers. Der alte Mann hatte kaum Widerstand geleistet und ging bereits nach dem ersten Treffer zu Boden.

    Eigentlich hätte der Besitzer des Eisenwarenladens nicht mehr im Geschäft sein sollen.

    Wäre er bloß nicht zurückgekommen, dachte Peter und sah auf den bewusstlosen Körper des Ladenbesitzers.

    »Wo bleibst du?«, rief sein Kamerad, A2013, ungeduldig. »Wir müssen von hier verschwinden, bevor die Bullen auftauchen!«

    »Nimm die Tasche! Ich komme gleich nach!«, antwortete Peter und deutete auf die schwarze Sporttasche, die mit allerlei gestohlenem Werkzeug gefüllt war.

    A2013 hatte Mühe die schwere Tasche aufzuheben. Er packte sie mit beiden Händen und zerrte sie die Straße entlang.

    Ein zweiter Mann, der sich hinter dem Laden versteckt gehalten hatte, stürmte mit einer Brechstange bewaffnet nach vorne. Peter konnte gerade noch rechtzeitig dem Hieb ausweichen und konterte sogleich mit einem Ellbogenschlag auf die Nase. Blut spritzte aus den Nasenlöchern des Mannes, und wenige Sekunden später brach er völlig zusammen.

    Beide Männer lagen nun bewusstlos vor dem Eisenwarengeschäft.

    Peter dachte nicht lange nach und lief so schnell er konnte davon. Als er sich nach einigen Metern umdrehte, lagen die beiden Männer noch immer regungslos auf der Straße. Seine Schläge waren hart und wirkungsvoll gewesen. Vielleicht zu hart und wirkungsvoll. »Mist!«, fluchte er leise.

    »Peter, ich kann nicht mehr. Die Tasche ist zu schwer!«, stöhnte sein Kamerad und blieb stehen. Die prall gefüllte Sporttasche sank zu Boden.

    »Was machst du, A2013? Wir müssen von hier verschwinden! Komm, ich nehme sie von der anderen Seite.« Zu zweit trug sich die Tasche zwar etwas leichter, aber sie kamen dafür auch langsamer voran. »Und sprich mich nicht mit meinem Namen an«, fügte Peter verärgert hinzu.

    »Entschuldige, Peter, … ich meine … A76667.«

    Sie durchquerten das Armenviertel der Stadt. Die Gegend war heruntergekommen, und die Häuser sahen erbärmlich aus. Die Gärten waren ungepflegt und von Unkraut überwuchert. In der Ferne hörte man eine Gruppe von Hunden bellen und jaulen.

    »Was machst du?«, fragte Peter seinen Kameraden, der das schwarze Halstuch von seinem Mund nahm und es in die Hosentasche steckte.

    Beide Jungs trugen ein schwarzes Tuch vor dem Mund, um ihre Gesichter zu verbergen. Auf den Tüchern war ein grinsender Totenkopf abgebildet, das Symbol des Sirius-Kollektivs.

    »Unter dem Tuch ersticke ich«, meinte A2013.

    Peter tat es seinem Kameraden gleich und riss sich das Tuch vom Mund. Er atmete die frische Nachtluft ein. Eigentlich wollte er auch sein Kopftuch ablegen, entschied sich aber dann doch dagegen. Peter hatte feuerrotes Haar, und um nicht wiedererkannt zu werden, musste er es verstecken.

    »Glaubst du, sie sind tot?«, fragte A2013.

    »Wer?«

    »Der Ladenbesitzer und sein Freund.«

    »Keine Ahnung«, antwortete Peter.

    »Ja, aber was ist, wenn sie tot sind?«

    Peter verlor die Geduld und begann zu schreien: »Wenn dir an den beiden so viel liegt, dann lauf doch zu ihnen zurück!«

    Sein Kamerad schwieg.

    Peter war wütend. Alles lief schief. Zuerst kam er mehr als zwanzig Minuten zu spät zum vereinbarten Treffpunkt, was nicht seine Schuld war, sondern die seiner Schwester Alice. Danach hatten sie sich in der Stadt verlaufen, und zu guter Letzt kam der Ladenbesitzer mit einem Freund zurück. Es war ihr erster Auftrag, und fast hätten sie ihn vermasselt. Dabei handelte es sich um einen einfachen Einbruch, bei dem sie nur Werkzeug klauen sollten.

    Wenigstens habe ich die Axt, dachte Peter und sah in die Sporttasche. Sie erinnerte ihn an eine Axt, die er in einem Horrorfilm gesehen hatte. Eigentlich wollte er die Kettensäge nehmen, doch das Gerät war viel zu schwer. Die Axt genügte ihm.

    Die beiden Jungs verließen das Armenviertel und betraten das Industrieviertel. Selbst an normalen Tagen war hier nichts mehr los. Seit dem großen Wirtschaftskollaps bestand das Areal nur noch aus verlassenen Fabriken und Lagerhallen.

    Peter blieb abrupt stehen und zupfte am Ärmel seines Kameraden, um ihn auf seine Entdeckung aufmerksam zu machen. Neben ihnen auf der Straße lag ein schwarzer Hund regungslos am Boden.

    Die Burschen gingen auf das tote Tier zu, oder zumindest auf das, was noch davon übrig war. Die Bauchdecke des Hundes war aufgerissen, und es fehlten die Gedärme. Die Rippen des Tieres wirkten abgenagt. Große Bissspuren von anderen Hunden waren deutlich zu erkennen. Die ersten Ratten hatten sich bereits über die Überreste des Kadavers hergemacht.

    »Ist wohl von seinen Kameraden getötet und dann gefressen worden«, stellte Peter fasziniert fest.

    Sie ließen den toten Hund auf der Straße liegen und setzten ihren Weg fort.

    »Glaubst du, es wird zu einem Bürgerkrieg kommen?«, fragte A2013. »Ich meine, was A1 alles gesagt hat, klang es fast so danach.«

    »Wie soll ich das wissen?«, erwiderte Peter und zerrte an der Sporttasche, die ihm ständig zu entgleiten versuchte. »Aber schlecht wäre es nicht. Die Regierung ist so verlogen, da hilft nichts anderes mehr als ein totaler Krieg.«

    Die Jungs überquerten einen verwilderten Parkplatz, hinter dem sich das Geheimversteck des Sirius-Kollektivs befand – die ehemalige Autofabrik der Stadt.

    Die Autofabrik war einst das Wirtschaftswunder des Landes und international anerkannt. Vor einigen Jahren wurde sie jedoch geschlossen, und Tausende Arbeiter verloren dabei ihre Jobs. Es war der Anfang vom Ende für das Land. Heute war die Fabrik ein beliebter Ort, um Dinge loszuwerden, für die man normalerweise Entsorgungsgeld hätte zahlen müssen – alte Kühlschränke, defekte Waschmaschinen, beschädigte Möbel, kaputte Fahrräder und kleine Elektrogeräte wie Kaffeemaschinen und Toaster. Das Gebäude selbst sah aus, als hätte es einen Bombenangriff überstanden. Die großen Fenster waren eingeschlagen, Teile der Wände bröckelten oder waren mit Graffitis besprüht, und überall roch es stark nach altem Öl und rostigem Metall.

    Zwei in Schwarz gekleidete Männer hielten vor dem Eingangstor der Fabrik Wache.

    »Wie lauten eure Identifikationsnummern?«, fragte einer der Männer.

    »A76667«, antwortete Peter gehorsam.

    »A2013«, sagte sein Kamerad.

    Der zweite Mann blickte auf eine Liste und nickte den Neuankömmlingen zu. »Ihr dürft passieren.«

    Das große Eingangstor war einen Spalt weit geöffnet, sodass die beiden Jungs hindurchschlüpfen konnten.

    »A76667, weißt du eigentlich, was das ›A‹ vor unserer Identifikationsnummer bedeutet?«

    »Ich glaube, es steht für Anarchist«, antwortete Peter.

    »Bist du dir sicher?«, hakte A2013 nach.

    »Nein, sicher bin ich mir nicht, aber in deinem Fall könnte das ›A‹ auch für Ahnungsloser oder Armleuchter stehen.«

    A2013 schnaufte verärgert und wollte gerade antworten, als er sah, wie A1 auf sie zukam.

    A1 war der Gründer und Anführer des Sirius-Kollektivs. Peter schätzte den Mann um die fünfzig herum. A1 trug, wie alle Mitglieder des Kollektivs, schwarze Armeebekleidung. Die Narbe, die über seinen ganzen Kopf verlief, gehörte zum hervorstechendsten Merkmal ihres Anführers. Den Gerüchten zufolge hatte ihm ein Hund die gesamte Kopfhaut abgebissen. Nachdem ihm die Haut wieder angenäht worden war, hatte A1 das Tier aufgesucht, es kastriert und dem Vierbeiner seine eigenen Hoden zu fressen gegeben. Danach hatte er das Vieh getötet. Peter zweifelte jedoch am Wahrheitsgehalt der Geschichte.

    A1 begutachtete die gestohlenen Werkzeuge, die sich in der Sporttasche befanden. »Das habt ihr gut gemacht, Kameraden. Mit dem Equipment können wir in die nächste Phase übergehen. Wie lauten eure Identifikationsnummern?«

    »Mein Name ist Peter«, antwortete Peter reflexartig und bereute es sofort.

    »Ich habe dich nicht nach deinem Namen gefragt, sondern nach deiner Nummer! Eure Namen interessieren mich nicht!«, stieß A1 wütend hervor. »Wir sind ein Kollektiv! Keine Individuen. Hättest du den Überfall alleine geschafft?«

    »Nein«, sagte Peter. »Alleine hätte ich es nicht geschafft.«

    »Du siehst also, im Kollektiv sind wir stark. Wer braucht da noch Namen? Also, wie lauten eure Nummern?«

    »A76667«, sagte Peter.

    »A2013«, sagte sein Kamerad.

    A1 nickte zustimmend.

    Hunderte Mitglieder des Sirius-Kollektivs hatten sich in der großen Halle versammelt und warteten ungeduldig auf ihren Anführer. An den Wänden der Fabrik wurden schwarze Fahnen, auf denen grinsende Totenköpfe zu sehen waren, aufgehängt.

    A1 kletterte auf das Dach eines demolierten Autos und rief mit seiner rauen Stimme in die Menge: »Das Kollektiv bedeutet Ordnung. Das Individuum bedeutet Chaos.«

    Die Anhänger des Sirius-Kollektivs, einschließlich Peter und A2013, wiederholten gehorsam seine Worte: »Das Kollektiv bedeutet Ordnung. Das Individuum bedeutet Chaos.«

    »Gemeinsam sind wir stark. Alleine sind wir schwach«, ergänzte A1.

    »Gemeinsam sind wir stark. Alleine sind wir schwach«, brüllten seine Anhänger fanatisch durch die Halle der Fabrik.

    A1 grinste zufrieden. »Jetzt können wir beginnen!«

    Kapitel 2: Regeln

    Wie befohlen, versammelten sich die in Zivil gekleideten Polizisten im Klassenzimmer 8B.

    Die Klasse befand sich im obersten Stock der Schule, von wo aus man auf die ganze Innenstadt blicken konnte. In der klaren Sommernacht wirkte die Stadt überraschend ruhig. Es gab weder Brände noch sonstig irgendwelche Anzeichen eines Aufstandes. Aber die Nacht hatte gerade erst begonnen.

    Das Klassenzimmer selbst war grau und farblos. Auf der grünen Tafel wurde mit weißer Kreide ein Dreieck gekritzelt. Ein Überbleibsel aus einer vergangenen Unterrichtsstunde. Wahrscheinlich hatte man die Schule in großer Eile evakuiert und darauf vergessen, die Tafel zu reinigen, oder ein Schüler war einfach nur zu faul dafür. An einer Wand hing eine Weltkarte, gleich daneben wurden einige Zettel angebracht, die kommende Prüfungen ankündigten.

    Adam fand in der ersten Reihe einen freien Platz. Zwei Sitze neben ihm saß der dürre Kollege mit der dicken Hornbrille, dem er vorhin im Schulhof geholfen hatte. Der junge Mann nickte ihm dankend zu.

    In den hinteren Reihen befand sich der Kollege mit den blonden Haaren, mit dem Adam die handgreifliche Auseinandersetzung hatte.

    Viele der Polizisten hatten Probleme, es sich auf den niedrigen und etwas zu kleinen Sesseln bequem zu machen. Die Stühle waren für Kinder und Jugendliche gedacht, nicht für Erwachsene. Auch Adam rutschte hin und her und versuchte, sich an den spärlichen Platz zu gewöhnen. Er lachte innerlich über den seltsamen Anblick der ausgebildeten und kampferprobten Männer und Frauen der Polizei, die wieder die Schulbank drücken mussten. Manche von ihnen erkannten ebenfalls die Absurdität der Situation und scherzten über fehlende Hausaufgaben und mangelnde Prüfungsvorbereitungen.

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