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Der dritte Pfeil: Phantastische Geschichten
Der dritte Pfeil: Phantastische Geschichten
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eBook228 Seiten3 Stunden

Der dritte Pfeil: Phantastische Geschichten

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Über dieses E-Book

Phantastik wie sie sein soll!
Mysteriös, geheimnisvoll, unheimlich, erschreckend, übersinnlich.
Gerhard Leonhard Rothe versteht es meisterhaft,
Sie in seinen Bann zu ziehen und dabei zeigt er eine gewaltige
Bandbreite - von Vampiren, den zwölf Aposteln über
Sherlock Holmes bis zu den Schrecken der Neuzeit und Abgründen
der menschlichen Seele!

Diese Geschichten entführen Sie in eine andere Welt - die Welt der Phantastik!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum28. Mai 2014
ISBN9783847690870
Der dritte Pfeil: Phantastische Geschichten

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    Buchvorschau

    Der dritte Pfeil - Gerhard Leonhard Rothe

    Die Statue

    Das hat doch sonst – hat doch sonst immer – sonst immer geklappt!« rief der alte Bernhard Uhlig, wobei sein zerfurchtes, äffchenhaftes Gesicht vor Anstrengung glühte.

    Umringt von einer lachenden, spottenden Menge aus Jugendlichen und Kindern versuchte er, seinen vollgepackten Rollator, der an einem Fahrradständer festhing, wegzubewegen, was ihm trotz intensiven Schiebens und Stoßens misslang.

    In der Gruppe der übermütigen Zuschauer explodierten die Lachsalven. »Was ist denn, Opa?«, fragte ein schmächtiger Blondschopf, und ein stämmiger Bursche mit langen, schwarzen Haaren fügte grinsend hinzu: »Motor anwerfen, Gang einlegen und Gas geben ist das ganze Geheimnis, dann fährt der Wagen!« Dabei zwinkerte er in die Runde.

    »Motor? Gang? Gas?«, fistelte Uhlig. »Wie das? Ich selbst – selbst bin der Motor!«

    »Na dann spring an!«, rief eines der Mädchen, und alles brüllte.

    »Klar doch! Klar doch!«, fauchte der Alte und zerrte und rüttelte mit solch emsiger Greisenenergie an seinem Rollator, dass der Fahrradständer ins Wanken geriet und die Fahrräder zur Seite zu kippen drohten; dann gab er dem widerspenstigen Objekt einen Tritt, rannte erregt um dasselbe herum, kam aber nicht auf die Idee, nach der Ursache für das Versagen zu forschen. Schließlich blieb er vollkommen irritiert und erschöpft stehen, breitete hilflos die Arme aus und stieß keuchend hervor: »Warum fährt denn das Ding nicht? Das – das – ist doch – ist doch sonst immer – sonst immer gefahren! Schei – Scheiße!«

    Gelächter hallte über den Platz, Jungs grölten, Mädchen kicherten, Kinder sprangen herum, schrien gellend und schnitten Grimassen. Es war ein unbeschreiblicher Lärm.

    Der Platz, auf dem sich die Szene abspielte, lag zwischen der Hauptstraße und einem Supermarktkomplex mit modernen Fassaden aus Glas und Beton, den die Gebäude der Bank und der Post flankierten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erhoben sich zwischen schüchtern heranwachsendem Grün mehrere neuerrichtete Wohnblocks. Dahinter, weit in der Ferne und überzogen von einer leicht pulsierenden Haut aus bläulichem Dunst, reckte die Großstadt ihre Türme und Wolkenkratzer der goldenen Mittagssonne entgegen.

    Ich ließ mir an einem der Stehtische der Imbissbude ganz in der Nähe Kaffee und Currywurst schmecken und beobachtete mit klinischem Interesse den Vorgang.

    Dieser hatte damit begonnen, dass Uhlig aus der Kaufhalle herauskam und eine ihm offensichtlich bekannte Passantin entdeckte, die gerade ihr Fahrrad in den Fahrradständer schob und an diesen anschloss. Uhlig hatte sich dem Fahrradständer genähert, seinen Rollator unmittelbar daneben abgestellt und sich der Frau zugewandt, um sie zu begrüßen und in ein Gespräch zu verwickeln. Diesen Moment hatte ein besonders flinker, gewitzter Junge genutzt, um in spontaner Eingebung dem Alten einen lustigen Streich zu spielen. Er hatte von seinem eigenen Fahrrad das Schloss gelöst und damit Uhligs Rollator, dessen günstige Position neben dem Fahrradständer geradezu danach schrie, blitzschnell an diesem befestigt.

    »Weißt du was, Opa?«, sagte ein Jugendlicher. »Du musst das Schloss aufschließen!«

    »Schloss? Schloss? Welch – welches Schloss? Ich habe kein Schloss!«

    »Und was ist das dort?« Er deutete auf die Stelle, wo der Rollator am Fahrradständer festgemacht war. »Siehst du? Dort hast du es angeschlossen!«

    »Habe ich? Habe ich das?« Uhlig war ganz konfus. »Ich – ich – erinnere mich nicht!«

    Der Junge wandte sich an die Gruppe. »Er hat es doch angeschlossen?«

    »Ja, ja, hat er, hat er!«, rief es von allen Seiten. »Wir haben es alle gesehen!«

    »Du hörst es«, sagte der Junge, »hol' den Schlüssel heraus und schließ auf!«

    Hektisch durchsuchte Uhlig alle Taschen seiner Kleidung und schüttelte unablässig den Kopf. »Wo ist denn der Schlüs – Schlüssel? Ich erinnere mich nicht!«

    Wieder brandete Lachen auf. »Such! Such! Du findest ihn schon!«, rief jemand, und ein anderer fügte hinzu: »Du musst deine Gedanken besser zusammenhalten!«

    »Weiß ich, weiß ich«, antwortete der ratlose alte Mann, dessen Stimme einer heiser spuckenden Flöte glich, und suchte jetzt in seinen Einkaufsbeuteln weiter, wobei er in zittriger Hast die Dinge, die er in der Kaufhalle erworben hatte, ringsum auf dem Boden verteilte.

    An dieser Stelle beschloss ich einzugreifen. Ich verließ die Imbissbude, drängte mich an der Meute vorbei und sagte zu dem Gefoppten: »Ich helfe Ihnen, Herr Uhlig, Ihre Sachen nach Hause zu bringen. Den Rollator holen wir später.«

    »Aber der – der – der Schlüssel! Aber der Schlüssel!«

    »Sie haben keinen Schlüssel und brauchen auch keinen. Wir besorgen Werkzeug.«

    »Das ist aber unfair«, rief einer der Halbwüchsigen, »wir wollen unseren Spaß!«

    »Ihr hattet euren Spaß, jetzt ist es genug.«

    Da begriff Uhlig und schnellte mit unvermuteter Kraft hoch. »Aha! Aha, so ist das also, ihr Lausewänster! Ihr Taugenichtse! Ihr habt mir einen boshaften Streich gespielt!«, schrie er. »Das ist ja zum Läuse melken! Ha! Oh, wisst ihr was? Eigentlich verstehe ich Spaß, aber nur, wenn ich selbst mitlachen kann! Jetzt kann ich aber nicht lachen! Macht meinen Wagen los, aber marsch!« Als sie zögerten, stampfte er mit dem Fuß auf und schrie: »Wird's bald?«

    Ich rechnete mit Protesten, die jedoch ausblieben. Bernhard Uhlig hatte sich unversehens aus einer Karikatur in eine Autorität verwandelt. Er war sehr zornig, wirkte auf seltsame Weise gestrafft, stand so hochgereckt da, wie seine kleine Gestalt, sein altersschwacher Körper es zuließ. Sein Gesicht glühte, die Augen blitzten, der Haarflaum wölbte sich wie elektrisiert über seinen Kopf. Er hatte sich selbst mitgerissen und flüssig und ohne zu stocken gesprochen; es funktionierte, es machte seine halbwüchsigen Gegner verlegen. Der Junge, der das Ganze verursacht hatte, entfernte verstohlen und kleinlaut das Schloss von Uhligs Rollator.

    »Und jetzt verschwindet«, rief der Empörte, »und lasst alte, gebrechliche Leute in Ruhe! Seid froh, dass ihr noch jung seid und Energie und ein gutes Gedächtnis habt!«

    Beschämt zerstreuten sich die Gemaßregelten, erst zögernd, dann immer geschwinder; sie waren sichtlich frustriert, aber nur wenige murrten und stöhnten oder drückten ihren Verdruss durch Schulterzucken oder andere Gesten des Unmuts aus. Lediglich einige Kinder tollten noch in der Nähe herum und schnitten Fratzen oder trieben ähnlichen Ulk, bis auch sie nach und nach gelangweilt verschwanden.

    Ich hockte mich auf den Boden und packte Uhligs verstreute Dosen, Tüten und Packungen wieder in die Plastikbeutel zurück.

    Der alte Mann war immer noch aufgewühlt, allerdings war an die Stelle der Wut hilflose Erregung getreten. »So vergesslich und so – so – äh – begriffsstutzig war ich nicht immer. O nein! Nein, nein, nein! Ich war nicht immer so gebrechlich und schwach und so anders, äh, so – als ob es nichts Vertrautes mehr für mich gibt.« Er hob die Arme in der Geste der Resignation und schüttelte ratlos den Kopf. »Ich hatte ganz und gar den Überblick verloren, war vollkommen irritiert, konnte die Lage nicht einschätzen. Es ist schlimm, wenn man alt und kraftlos und ohnmächtig ist und Situationen nicht – nicht mehr begreift.« Er wirkte auf bemitleidenswerte Weise verletzlich und ausgelaugt, sein Gesicht zuckte, sein Mund bewegte sich mümmelnd und schmatzend.

    »Jetzt haben die mich auch noch ins Heim gesteckt, die von den Behörden.« Darauf deutete, wie mir schien, seine ordentliche und saubere Kleidung hin, die sich aus einem braunen Pullover, einer Jeans und einer grauen Latzschürze zusammensetzte.

    »Die sagen, ich wäre eine Gefahr für mich und die – und die Allgemeinheit. Nun, kann ja sein, geb' ich ja zu – äh – aber«, er lächelte spitzbübisch, »für heute bin ich denen entwischt, denen vom Heim. Ich habe die Wärter geschmiert. Geld habe ich nämlich wie Heu und noch soviel Grips, dass ich weiß, was man mit Geld anfangen kann, so schlau bin – bin ich schon noch, haha!«

    Dann wurde er wieder ernst. »Trotzdem, ich weiß – weiß manchmal nicht mehr, was ich – was ich von der ganzen Welt halten soll.« Er zeigte ringsum auf den Supermarkt, die Häuser, die Stadt. »Ich traue den Menschen – den Menschen nicht mehr«, zischelte er und setzte ein schlaues und zugleich kindliches Lächeln auf. »Man kann leider nicht alle schmieren. Nein, ich traue den Menschen nicht. Sie zu schmieren würde – würde nicht helfen. Und mir selbst – mir selbst traue ich auch nicht – mir selbst auch nicht. Es würde auch nichts helfen, wenn ich – wenn ich mich selbst – mich selbst schmieren würde, ich könnte nicht reicher werden, wenn ich mir mein eigenes Geld schenkte, haha! Aber so seltsam es ist: Ihnen traue ich – irgendwie – Ihnen ja – Sie sind anders. Kommen Sie, ich will Ihnen was zeigen!«

    Bevor ich antworten konnte, griff er nach seinem Rollator und zuckelte weiter.

    »Sind Sie wirklich sicher, was mich betrifft?«, fragte ich, während ich ihn begleitete. »Ich meine, sind Sie sicher, dass Sie mir trauen können?«

    »Lassen Sie – ähm - lassen Sie das getrost meine Sorge sein!«

    Sonderbare Gedanken wandelten mich im Hinblick auf Uhlig an. Je winziger er mir nämlich erschien, je deutlicher ihn sein körperlicher und geistiger Verfall von dem blühenden Leben, das ihn vielfältig umgab, abhob, desto stärker spürte ich das Monströse und Rätselhafte, das dennoch auf unerfindliche Weise mit seiner Person verbunden war.

    Uhlig galt nicht nur einfach als Witzfigur, er hatte längst den Status einer unfreiwilligen Kultikone des Lächerlichen erreicht. Als er noch nicht im Heim gelebt hatte und überall frei herumlief (was noch gar nicht so lange zurücklag), konnte man ihm auf Schritt und Tritt überall in der Stadt begegnen. Sein bloßes Erscheinen rief schnell diejenigen auf den Plan, die stets bereit sind, sich auf Kosten anderer zu belustigen.

    Es war aber auch wirklich urkomisch, ihn trippelnd und wackelnd dahin tappen zu sehen, extrem vorgebeugt, mit schlenkernden, weit nach hinten ausschwingenden Armen, den Kopf, auf dem der Flaum wie eine erlöschende Flamme schwelte, eifrig und emsig einem imaginären Ziel entgegengestreckt. Dabei strahlten die bohrenden Blicke seiner wässerigen Augen, die aus dem teils babyhaft rosigen, teils von Altersflecken übersäten Gesicht funkelten, eine bizarre, wesenlose Besessenheit aus.

    Nicht selten sprach er bei derartigen Stadtgängen spontan beliebige Passanten an und schwärmte von seiner stürmischen Jugend, seinen unvergesslichen Erlebnissen mit den schönsten, begehrenswertesten Frauen, oder er brüstete sich seiner grandiosen wissenschaftlichen Leistungen. Dabei konnte es vorkommen, dass er den Faden verlor und sich ausweglos in seinen eigenen Schilderungen verfing. Manchmal fragte er dann die jeweiligen Zuhörer, wovon er denn gerade eben gesprochen habe. Wenn er tatsächlich die erbetene Auskunft erhielt, führte ihn dies in seine bizarren Gedankenlabyrinthe zurück, bis ihm wiederum alles, was er mitteilen wollte, entglitt und er nur noch hilflos zu stammeln vermochte.

    Aber nicht nur seine Person und sein extravagantes, grimassierendes Auftreten, nicht nur seine lächerlichen, von unfreiwilligen Verwirrungen durchkreuzten Angebereien waren spektakulär; seine krassen Fehlhandlungen waren es in noch viel größerem Maße.

    Ich greife aus einer Reihe von derartigen Vorfällen drei charakteristische Episoden heraus, die sich alle im Supermarkt abspielten und vielfach zuverlässig bezeugt sind:

    Einmal war Uhlig nahe daran gewesen, Essigessenz oder Spülmittel zu trinken, weil er, so erklärte er später, plötzlich höllischen Durst hatte, und die »leuchtenden Flaschen«, vor denen er stand, mit Flaschen voller Limonade verwechselte; buchstäblich im letzten Moment, als er gerade den ersten Schluck nehmen wollte, konnte man ihn davon abhalten.

    Ein anderes Mal ertappte man ihn dabei, wie er sich das Gesicht mit Schuhcreme vollschmierte, um, wie er sagte, »diese neue Hautcreme« auszuprobieren.

    Der spektakulärste Fall jedoch war, als Uhlig seinen Einkaufswagen mit Spielzeug vollgepackt hatte und sich anschickte, ihn an der Kasse vorbeizuschieben, ohne bezahlen zu wollen. Er hole sich nur sein Eigentum, das ihm bei einem Einbruch vor einigen Tagen gestohlen worden sei, zurück. Als man ihn dann mit sanfter, aber bestimmter Gewalt von dem Wagen mit den Spielsachen löste und aus der Kaufhalle drängte, schrie er, das Unternehmen könne mit einer Klage wegen Diebstahl und Hehlerei rechnen.

    Natürlich war an der Sache nichts dran. Weder hatte er jemals Spielzeug besessen, zumindest nicht solch modernes, das erst kürzlich hergestellt worden war, noch hatte man zu irgendeiner Zeit bei ihm eingebrochen.

    Einige Leute äußerten jedoch die Vermutung, dass Uhlig diese und viele weitere Anfälle seniler Verwirrtheit nur gespielt und sich dabei heimlich ins Fäustchen gelacht habe, denn für ähnliche und noch viel bizarrere Streiche, um die Leute zu foppen und seinen Sinn für Selbstironie zu zeigen, sei er in früheren Jahren bekannt gewesen. Aber wie dem auch sei – ob es die unbewusste und unfreiwillige Schöpferkraft eines zerbrechenden Geistes oder die bewusste, hämische Kreativität eines tückischen Greises war, der gelangweilt und hinterhältig mit seiner Umgebung spielte – die Folge derartiger Handlungen, nämlich die Einweisung ins Heim, blieb für ihn gleich.

    Allerdings sagte man Uhlig auch Verfehlungen, wenn nicht Verbrechen nach. Es hieß, er habe früher wirklich wissenschaftlich experimentiert, natürlich erfolglos, und dabei seien einige Leute auf geheimnisvolle Weise ums Leben gekommen. Auch hieß es, er habe in jungen Jahren mit einer bildschönen Frau zusammengelebt, die zum Leidwesen vieler Verehrer irgendwann spurlos verschwunden und nie wieder aufgetaucht sei, über deren möglichen Verbleib Uhlig auf die hartnäckigen Fragen interessierter Personen nur ausweichend reagiert hatte. Ob sie gestorben sei (und wenn ja, durch welche Ursache: Krankheit, Unfall oder Mord?) oder ob sie mit ihm gebrochen und ihn verlassen habe, konnte allerdings niemand sagen. Je weniger Informationen es gab, je weniger vor allem Uhlig selbst dazu sagte, um so mehr wurde in dieser Sache gerätselt. Man habe jedoch niemals ernsthafte Ermittlungen durchgeführt, weil es zu keiner Zeit genügend Verdachtsmomente für ein mögliches Verbrechen und damit einen stichhaltigen Grund für eine Anklageerhebung gegeben habe.

    Solche und ähnliche Gerüchte kursierten, aber es gab auch eine rührende Legende, die den alten Mann, der sonst als pure Kuriosität galt, zum fühlenden, ja leidenden Menschen machte. Ernstzunehmende Leute wollten gehört haben, Uhlig habe so intensiv um seine Frau getrauert, dass sein Geist lange Jahre umnachtet gewesen und der Verfall seines Körpers rapide beschleunigt worden sei. Er besitze eine unvergleichliche Skulptur seiner Frau, angeblich von ihm selbst geschaffen in einem Anfall genialen Wahnsinns, aufgestellt im würdigsten Raum seines Hauses wie zu fortwährender Verehrung und Anbetung.

    Als wir Uhligs hoch ummauertes Anwesen durch eine winzige Seitenpforte betraten, empfing uns als erstes die leuchtende Pracht eines wohl gepflegten Gartens, wo irgendwo im Hintergrund eine gebückte Gestalt arbeitete. Auf einem gewundenen Pfad, an rot und violett blühenden Rosenbüschen und Rhododendrensträuchern vorbei, führte mich Uhlig zu seiner Villa, die sich weiß und sehr mediterran inmitten einer Gruppe uralter Bäume erhob. Er ließ die Veranda mit dem Haupteingang links liegen, bog um die rechte Ecke der Villa und schloss einige Meter weiter eine unscheinbare Nebentür auf. Wir gelangten in einen dämmrigen Korridor, der zu verschiedenen, aufeinanderfolgenden Räumen führte, die ich durch offenstehende Türen hindurch als Wirtschaftsräume identifizierte. Der Alte schob sein Gefährt in einen dieser Räume hinein, wo er die Beutel und Packungen seines Einkaufs in einem Kühlschrank verstaute. Als dies erledigt war, kam er sogleich wieder heraus, winkte mir, ihm weiter zu folgen, öffnete am Ende des Flurs eine letzte Tür und stieg, immer mit mir im Schlepptau, über eine gewundene Treppe in den Keller hinab.

    Dieser Keller war weitläufig und labyrinthisch, seine Gewölbe, Wände und Pfeiler, sorgfältig aus Backsteinen gemauert, erwiesen sich als ein Werk soliden Handwerks und inspirierter Architektur, seine Hallen und Säle waren wie eine exotische Industrieanlage mit absonderlicher Technologie angefüllt. Komplizierte Maschinen und Aggregate bildeten einen technischen Organismus, dessen Funktionen und Zwecke mir unbekannt waren. In Nebenräumen, die chemische Laboratorien zu sein schienen, gab es weitere Anlagen, zusammengesetzt aus Rohrleitungen, Kolben und Trichtern, Zylindern und Reagenzgläsern, Ballons und Retorten, aus Brennern, Zentrifugen und sonstigen Apparaturen aus Glas und Metall. Inmitten all dieser Geräte, an Schlüsselpositionen innerhalb der Gesamtmaschinerie, waren Computerterminals mit flimmernden Monitoren aufgestellt, die, wie ich annahm, den Zugang zu einem Großrechner ermöglichten, der die Anlage steuerte.

    Wie eine seltsame Symphonie umbrauste uns die Geräuschkulisse dieses Maschinenparks. Ich vernahm vielstimmiges Brummen und Vibrieren, ein untergründiges Rumoren, in dem sich das Dröhnen von Kompressoren, das Zischen von Pumpen und das Fauchen von Gebläsen behauptete. Schwere Düfte, teils aufreizend, teils in diffuser Mischung zwischen bitter und süß changierend,

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