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Pit Summerby und die Magie des Pentagramms: Teil 1 Die Clique und das Schulfest
Pit Summerby und die Magie des Pentagramms: Teil 1 Die Clique und das Schulfest
Pit Summerby und die Magie des Pentagramms: Teil 1 Die Clique und das Schulfest
eBook447 Seiten6 Stunden

Pit Summerby und die Magie des Pentagramms: Teil 1 Die Clique und das Schulfest

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Über dieses E-Book

Ein Vierzehnjähriger mit indianischen Wurzeln wächst wohlbehütet von der Familie in dem kleinen und ehemaligen Grenzort Burgroda und im Umfeld einer Dorfgemeinschaft, die eigentlich keine ist, auf. Aberglaube sowie Mysterien aus der Vergangenheit trennen die Gemüter. Zudem gibt es eine von Sagen umwobene und vom Grundriss her ungewöhnliche Burgruine in der Nähe, die nach einem Schulausflug in den Fokus seiner Überlegungen und Handlungen rückt. Zu seinem Freundeskreis, der Clique, gehört auch ein hübsches, Literatur begeistertes Mädchen, das sich anfänglich aus einem völlig anderem Motiv zu ihm hingezogen fühlt. Doch plötzlich wird daraus Liebe. Pit, so möchte der Junge von Allen genannt werden, stürzt von der unerwarteten Zuneigung überrascht, in einen Strudel verwirrender Gefühle. Obwohl er sie schon lange verehrt, sie heimlich sogar vergöttert, kommt er zu Anfang nicht mit dieser heftigen Regung klar. Er beginnt im Widerstreit von Realem, Wunschträumen, Übersinnlichem und überlieferten Regeln nach dem Grund für seine Liebe, die auch ihn einfängt, zu forschen. Am Treffpunkt der Clique, der Alten Eiche, findet er zufällig ein verkrustetes Amulett mit einem integrierten Pentagramm, von dem er glaubt, dass es ihn mit magischen Kräften manipuliert. Es ergeben sich folgenschwere Entwicklungen, die bis nach Frankreich und ins Mittelalter reichen. Seine Liebe wird auf dem Weg der Selbstfindung mehreren harten Proben unterzogen. Was dabei passiert und wie alles endet, erfahren die Leserinnen und Leser in drei fesselnden Teilen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum27. Nov. 2014
ISBN9783738000382
Pit Summerby und die Magie des Pentagramms: Teil 1 Die Clique und das Schulfest

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    Buchvorschau

    Pit Summerby und die Magie des Pentagramms - Hans Günter Hess

    Der Freundeskreis

    Pit lag im Gras und starrte missmutig in den Himmel. Die anderen der Clique hatten ihn heute versetzt. Eigentlich wollte er mit seinen Freunden im Baggersee baden gehen. So jedenfalls war es in der Schule ausgemacht worden. Zuerst sagte Fauli ab. Weil er in der letzten Zeit nur noch schlechte Noten nach Hause brachte, hatten ihm seine Eltern Stubenarrest verordnet. Da er mit dem Lernen sowieso auf Kriegsfuß stand, konnte es dauern bis er wieder Freizeit bekam. Auch Dicki fehlte. Als das einzige Kind der hiesigen Bäckerfamilie wurde er nach Strich und Faden verwöhnt. Erst kürzlich erhielt er einen neuen Laptop. Seit dieser Zeit hockte er nur noch vor diesem Ding und zog sich irgendwelche Spiele ein. Dabei mampfte er Unmengen von süßem Backwerk. Sein Körperumfang nahm dementsprechend zu. Lust auf Bewegung und Schwimmen überkam ihn nur selten. Stinki wollte kommen. Wie so oft hatte es wahrscheinlich Zoff zu Hause gegeben. Sein Vater soff in regelmäßigen Abständen und brachte zurzeit wieder einmal das ohnehin schon knappe Geld der Familie durch. Wenn er betrunken heim kam, musste Reinhard, so dessen Rufname, seiner Mutter beistehen. Die Familie wohnte in einem heruntergekommenen alten Haus hinter der Kirche. Man erzählte im Dorf, das hätten sie mal vor vielen Jahren von einem alten kauzigen Sonderling geschenkt bekommen. Seit Urzeiten war nichts an dem Gebäude verändert worden. Neben der Küche gab es nur noch einen beheizbaren Raum mit einem über hundert Jahre alten Kachelofen. Stinkis Lieblingsplatz lag unter dem Dachboden. Hier, in einer kleinen Kammer, konnte er träumen, fern vom ständigen Streit seiner Eltern. Aus dem kleinen Fenster des Raumes hatte man einen wunderschönen Blick auf die Umgebung östlich des Dorfes. Da lag der Burgberg inmitten der Flussschleife, rechts davon erhob sich aus der Aue ein kleiner Hügel mit einer mächtigen Eiche. Unter ihrer Krone lag der Lieblingsplatz der Clique. Dicki nannte ihn Thing-Platz. Das Wort hatte er im Internet ausgegraben. Die Bedeutung konnte er aber nur unzureichend oder gar nicht erklären, wie Vieles, was er aus dem Netz zum Besten gab. Ihm ging es einzig und allein darum, sich wichtig zu machen.

    Links vom Burgberg ragte das Gerippe einer verfallenen alten Windmühle empor. Sie bot den einzigen Schandfleck in der sonst so lieblichen Landschaft. Stinki störte dieser Anblick schon lange. Er mochte den normalerweise ungetrübten Blick auf die Harmonie seiner Umgebung. Im Übrigen gab es in seinem Elternhaus wenig Angenehmes. Weder Wasserleitung noch Bad waren vorhanden. Er hatte deshalb über Jahre ein gestörtes Verhältnis zu allem entwickelt, was mit Waschen in Verbindung stand. Weil er so unangenehm roch, machten die Meisten in der Schule einen Bogen um ihn. Trotzdem war er ein Bombenkumpel, auf den man sich verlassen konnte. Pit mochte ihn besonders,

    Meli stellte das einzige Mädchen in der Clique. Als Klassenbeste wurde sie von einigen Mädchen als Streberin und überhebliche Ziege verunglimpft. Sie pflegte mit ihnen keine Freundschaften. Sie hielt es mehr mit den Jungen, denn mit denen hatte sie weniger Probleme. Die mochten ihr natürliches Wesen. Meist teilte sie auch deren Interessen, war bei Streichen und Abenteuern immer dabei, oft wort- und sogar federführend. Pit verehrte sie heimlich. Mit allen Finessen versuchte er, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie bemerkte es scheinbar nicht und behandelte ihn wie die Anderen. Sich ihr zu offenbaren, dazu fehlte ihm der Mut. Weil Meli heute ihrer Mutter helfen musste, konnte sie auch nicht zum Baden kommen.

    Eine Lerche trällerte ihr Lied. Hoch oben am Himmel direkt über Pit schwirrte sie. Plötzlich verstummte das Tirili und sie fiel wie ein Stein nach unten. Er erschrak. Erleichtert stellte er fest, dass sie kurz über dem Boden wieder flatterte und im Gras verschwand.

    Die angenehme Wärme der Sommersonne wich zunehmend einer lästigen Schwüle. Am Horizont entdeckte Pit erste Wolkenfetzen, die sich eilig in Richtung Osten verzogen. Sie wechselten laufend ihre Gestalt, und es sah aus, als wären sie im Streit. In der Ferne warfen sie sich kurz danach übereinander und balgten sich weiter.

    In der Krone der mächtigen Eiche wurde es plötzlich still. Das lustige Zwitschern der Vögel war verstummt. Nur das leichte Rauschen des Blattwerks ließ auf den aufkommenden Wind schließen. Einer seiner Lieblingsplätze befand sich in der Nähe der Eiche, da wo er lag. Ganz langsam schob sich der Schatten der gewaltigen Baumkrone an sein Lager heran. Der Missmut war verflogen. Sollte es ein Gewitter geben, wäre es mit dem Baden sowieso nichts geworden. In diese Stimmung hinein pfiff ein Star mit Inbrunst seine Regenmelodie.

    Er sprang auf. Am Burgberg stauten sich die ersten Wolken bedrohlich an. Auch der Wind trieb zunehmend sein Spiel. Böen artig wirbelte er altes Laub und Sand auf. Seine Nahrung holte er sich immer wieder aus der Sandkuhle nahe der Eiche. Ein Sandkorn verfing sich in Pits rechtem Auge. Beim Wegwischen verschleierten Tränen seinen Blick. Dabei stolperte er über eine der riesigen Wurzeln, mit denen sich der mächtige Baum im sandigen Boden festhielt. Er fiel hin und lag wie benommen sekundenlang am Boden. Ein kurzes gurgelndes Raunen und Grummeln vermeinte er in diesem Moment im Erdreich zu hören. Doch noch machte ihm sein Auge zu schaffen. Dem seltsamen Geräusch aus der Tiefe maß er deshalb keine weitere Bedeutung zu. Schließlich konnte er mit dem Taschentuch den sandigen Störenfried entfernen. Er raffte sich zusammen und begab sich im Laufschritt auf den Heimweg.

    Pit galt als ein sportlicher Typ, und er liebte die Natur. Zu Hause wollte er eigentlich heute nicht rumhängen. Das Wetter machte ihm aber einen Strich durch die Rechnung. Er beschloss, etwas für die Schule zu tun. In Mathe stand er auf einer wackligen Zwei. Schon in Kürze begannen die Sommerferien. Für die Chance, auf eine Zwei zu kommen, standen ihm nur noch wenige Tage zur Verfügung.

    Zu Hause begrüßte ihn freudig bellend Boldi. Eigentlich war es der Hund seiner Schwester Jule. Die hatte ihn als Welpen von einem Nachbarn geschenkt bekommen. Das lag fünf Jahre zurück. In seinen Adern flossen das Blut einer Foxterriermutter und das eines Kurzhaarspitzvaters. Pit, dessen Blut sich auch aus einem Mix sehr unterschiedlicher Vorfahren zusammensetzte, mochte diesen quirligen und fröhlichen kleinen Kerl deshalb besonders. Wie immer hüpfte er nun um ihn herum. Boldi kannte keine schlechte Laune. Mit seinen Grimassen und ulkigen Sprüngen brachte er ihn immer wieder zum Lachen. Jetzt setzte er sich auf die Hinterpfoten und kräuselte sein Schnäuzchen. Mit der rechten Vorderpfote gab er Pit ein Zeichen, ihn auf den Arm zu nehmen. Herrchen verstand, nahm ihn hoch und verschwand mit ihm im Haus.

    Sein Zimmer lag im Erdgeschoss. Es bot nicht ganz so viel Platz wie das seiner Schwester. Ihres befand sich eine Etage höher. Ein Grund dafür, dass sie sich manchmal nur beim Abendbrot sahen. Jule war mit elf Jahren die Jüngere. Pit, demnächst vierzehn, liebte sie und trat in allen Notlagen als ein besorgter Beschützer auf. Trotzdem verzichtete er gerne auf ihre Gesellschaft. Sie nervte ihn mit den unmöglichsten Fragen, und immer sollte er ihre Spielwünsche erfüllen, falls sie zusammen waren. Wenn es um ihren Vorteil ging, spann sie oft Intrigen, um ihn auszubooten oder ihn bei den Eltern ins falsche Licht zu setzen. Gott sei Dank konnte er heute unbemerkt in sein Zimmer entkommen. Der Hund sprang von seinem Arm auf die Liege. Das Bettzeug lag unordentlich herum. Überhaupt sah es in seiner Behausung liederlich aus. Klamotten, Schuhe, Bücher und vieles mehr bildeten ein chaotisches Durcheinander. Auf seinem Schreibtisch, der auch einem alten Computer beherbergte, stapelten sich CDs, Stifte, Schulbücher sowie Chiptüten und vereinten sich zu einem wilden Haufen.

    Pits Mutter hatte es schon seit Langem aufgegeben, Ordnung zu schaffen. Selten und nur bei dringendem Bedarf betrat sie das Zimmer und kümmerte sich um das Notwendigste. Vorhaltungen wegen der Unordnung quittierte Pit stets mit der Bemerkung: „Nur das Genie beherrscht das Chaos."

    An der Wand des Zimmers hing ein Bild, darauf war ein amerikanischer Jagdfliegerpilot zu sehen, der auf der Tragfläche eines der legendären P 51 „Mustang"- Jäger saß. Es handelte sich um seinen Großvater. Er streifte das Foto mit einem kurzen Blick. Ehrfurcht und Respekt kamen hoch, wenn ihm Dinge begegneten, die Pit an ihn erinnerten. Auch jetzt grübelte er darüber nach, wie wohl sein Opa reagiert hätte, wenn er sich nicht auf den morgigen Matheunterricht vorbereiten würde. Er wollte und konnte es ihm nicht antun, mit einer Drei in Mathe das Schuljahr zu beenden.

    Die Herleitung der binomischen Formeln gehörte zum letzten Thema in Mathe bei Lehrer Berg. Es fiel nicht schwer, ihre Nützlichkeit zu begreifen, wenn man aufmerksam seinen Erklärungen gefolgt war. Pit hatte in der abschließenden Zusammenfassung alle drei Formeln rot eingerahmt in sein Heft übertragen. Die Hausaufgabe bestand darin, selbige auswendig zu lernen. Nach Bergs Auffassung sollte sie jeder Schüler zu jeder Tageszeit ohne Stottern und Fehler aufsagen können. Pit fand das reichlich übertrieben. Wenn er sie bis zur nächsten Mathestunde beherrschte, würde das reichen. Er setzte sich aufs Bett und begann seine Aufzeichnungen mehrmals durchzulesen. Boldi machte es sich auf seinem Schoß gemütlich. Aufmerksam schaute er in das Heft, so als verstünde er auch etwas von der Materie.

    Pit versuchte sein Glück mit geschlossenen Augen. Es hakte, deshalb las er sie erneut durch und versuchte, sie gedanklich zu speichern. Schließlich, nach mehreren Fehlversuchen, konnte er sie im Kopf erstmalig fehlerfrei aufsagen. Als er sie danach vorsprach,

    (a +b)² = a² + 2ab + b²

    (a - b)² = a² + 2ab - b²

    (a +b) (a - b) = a² + b² ,

    merkte er beim Blick ins Heft, dass etwas nicht stimmte. Ein falsches Rechenzeichen! Irgendwann klappte es aber doch noch. Froh und unverkrampft registrierte er, fit zu sein und schloss erleichtert das Heft.

    Das Geheimnis

    Ein Blitz, gekoppelt an einen gewaltigen Donnerschlag, verscheuchte Boldi augenblicklich von seinem Schoß. Jaulend und mit eingeklemmtem Schwanz verkroch er sich unter der Liege. Es begann heftig zu regnen. Pit packte seine Schultasche für morgen. Eigentlich wollte mit dem Fahrrad noch eine Runde drehen. Das musste er wohl jetzt verschieben. Plötzlich klopfte es an der Tür. Gedankenverloren rief er: „Herein!"

    In der Tür stand seine Großmutter Gretel. Sie schlug die Hände bestürzt über dem Kopf zusammen, als sie das Chaos sah.

    „ Das ist ja ein gewaltiger Saustall",

    rief sie entrüstet. Doch kurz darauf sagte sie in liebevollem Ton:

    „Peterle, du solltest mit deinen Sachen ordentlicher umgehen. Viele Menschen haben sich bemüht, dir diese Dinge zu geben. Du weißt, sie wären sehr enttäuscht, wenn sie sehen würden, wie du sie behandelst."

    Pit stutzte einen Moment und beschämt antwortete er:

    „Omi, ich werde mir Mühe geben. Gleich nachher räume ich auf, das verspreche ich dir." Versöhnt setzte sie ich auf den Stuhl. Um ihr zu zeigen, dass er auch anders konnte, bot er ihr an, das Gelernte aufzusagen. Aufmerksam hörte sie ihm zu, was er ziemlich fließend vortrug.

    „Das klingt gut, und ich glaube auch, dass es richtig ist",

    lobte sie.

    „Weißt du, Peterle, früher haben wir auch mit Buchstaben in der Schule gerechnet. Wir nannten es auch das ‚Buchstabenrechnen'. Eine Formel weiß ich sogar noch. Sie heißt a² + b² = c²."

    „Oma, das ist der Satz des Pythagoras, und das Buchstabenrechnen heißt heute Algebra."

    „Da bin ich aber froh, dass ich jetzt nicht mehr zur Schule muss. Das moderne Zeug würde mich verrückt machen",

    entgegnete sie und lachte. Pit erwiderte zustimmend:

    „Das moderne Zeug brauche ich auch nicht, aber in der Schule wird uns immer was anderes eingeredet."

    Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann nahm er seine Schultasche, um sie in den Flur zu stellen. Doch er hielt inne. Seine Oma hatte doch einen Grund, wenn sie ihn allein aufsuchte.

    „Was hast du auf dem Herzen, Omi?"

    fragte er neugierig gweworden.

    „Setz dich, Peter!",

    sagte sie feierlich.

    „Du weißt, dass die ganze Verwandtschaft deines Großvaters im Süden der USA lebt. In meinem Alter hat man nicht mehr viel Zeit, um Versäumtes nachzuholen. Man braucht auch Hilfe, wenn man ein großes Vorhaben plant. Ich möchte im nächsten Jahr zu ihnen reisen und dich deshalb fragen, ob du mich begleiten würdest."

    Erschrocken und gleichzeitig hoch erfreut jubelte Pit:

    „Selbstverständlich, mit dem größten Vergnügen, Omi. Ich werde mich gleich an die Vorbereitungen machen."

    Sie winkte beschwichtigend ab.

    „Das hat noch Zeit, und außerdem überlasse mir alles, was nötig ist. Zunächst wollte ich nur deine Zustimmung. Ich bitte dich aber, vorläufig mit Niemandem darüber zu sprechen."

    Aufgeregt versprach er, nicht eine Silbe zu verraten. Beim Weggehen legte sie nochmals den Finger symbolisch auf den Mund. Pit konnte nur überglücklich nicken. Seine Oma war die Einzige, die ihn Peter oder Peterle nennen durfte. Für alle anderen hieß er Pit, einschließlich seiner Eltern samt Schwester, da blieb er kompromisslos. Mit ihr konnte er auch über alles reden. Seine Sorgen und Probleme, aber auch die fröhlichen und schönen Dinge besprach er oft mit ihr. Er wusste, dass er immer auf ihr Verständnis stieß und sie ihm häufig auch nützliche Ratschläge gab. Besonders liebte er ihre Geschichten von früher. Entschlossen nahm er sich vor, endlich sein Zimmer aufzuräumen, denn seine Oma schien über die herrschende Unordnung sehr enttäuscht zu sein. Sofort, bevor sein Entschluss kalte Füße bekam, begann er mit der Umsetzung. Da es draußen in Strömen regnete, gab es sowieso nichts Besseres zu tun. Als Erstes rückte er das Bettzeug zurecht, danach beabsichtigte er den Schreibtisch aufräumen.

    Zunächst sortierte er aber die herumliegenden Klamotten nach Gutdünken. Was nach seiner Meinung schmutzig war, warf er auf einen Haufen. Die anderen Sachen versuchte er in seinem Kleiderschrank zu verstauen. Verwundert folgte der Hund dem Treiben. Er hüpfte hin und her, begriff offenbar nicht, was sich hier abspielte. Mit einem Packen zusammengeraffter Schmutzwäsche verließ Pit seine Bude und beförderte das Bündel stöhnend ins Bad. Seine Haare föhnende Mutter unterbrach interessiert ihr Vorhaben. Die seltsamen Aktivitäten ihres Sohnes erregte sichtliche Aufmerksamkeit. Sie lobte ihn vorsichtshalber.

    „Ist doch selbstverständlich, Mutz",

    entgegnete er, als täte er das Normalste in seinem Leben. Das erstaunte sie noch mehr, aber sie schwieg.

    „Ich will nachher eine Runde mit dem Fahrrad drehen, wann gibt es denn Abendbrot? „Wie stets um sechs Uhr,

    erwiderte sie stotternd. Der aufgeflammte Ordnungssinn ihres Sohnes hemmte zunehmend den Sprachfluss. Pit, noch immer euphorisch, verschwand wieder in seinem Zimmer. Dort gab es noch viel zu tun, das schwächte plötzlich seine Lust. Boldi zog auch lieber die Gesellschaft von Omas Katze vor, die sich im Hof langweilte. Mit einem Rest der verbliebenen Initiative wischte er noch den Staub von Opas Bild, dann beendete er die begonnene Aufräumaktion. Das Abendessen lockte.

    Seine Mutter deckte gerade den Tisch. Sonntags wurde immer gemeinsam im Wohnzimmer gespeist. Sein Vater saß schon auf seinen Stammplatz und las in einer Zeitung. Pit ließ sich neben ihm nieder. Der Stuhl an der Stirnseite gehörte seiner Oma. Ihr gegenüber saß immer seine Mutter. Jule beanspruchte mit der anderen Längsseite des Tisches auch den meisten Platz. So sah es jedenfalls die Sitzordnung neuerdings vor. Pit verspürte Hunger und griff nach dem Brot. Noch waren nicht alle anwesend. Es fehlte auch Wurst und Butter. Dem Vorwitz begegnete diesmal seine Mutter mit einem strafenden Blick. Zur Verwunderung aller tat er zum ersten Mal etwas, womit niemand in der Familie gerechnet hatte. Er stand auf und half ihr.

    Oma erschien stets pünktlich. Nur seine Schwester ließ sich wie immer Zeit. Kaum erschienen, quengelte sie. Sie wolle keine Salami sondern nur Nutella aufs Brot haben. Sonst würde sie gar nichts essen, drohte sie. Sie wagte aber nicht, gegen den eindeutigen Blick ihres Vaters aufzubegehren. Endlich kehrte Ruhe ein. Oma saß still auf ihrem Stuhl mit gefalteten Händen. Sie betete. Das tat sie vor jeder Mahlzeit. Die anderen aßen bereits. Beleidigt tuend, holte Jule die Nusscreme selber und schmierte sich auch das Brot. Schweigend kauten jetzt alle still vor sich hin, diesmal aber gepaart mit einer gewissen Spannung.

    Oma glaubte nämlich, ihr Enkel würde nicht dicht halten. Pits Mutter, noch immer verwundert über sein Verhalten und verärgert über die Launen der Tochter, schwieg vorsichtshalber. Sein Vater, dem offensichtlich eine Neuigkeit auf der Zunge lag, hielt sich auch zurück. Und Pit, noch immer aufgeregt darüber, dass er mit seiner Oma nach Amerika fahren sollte, muffelte schmatzend an seiner dritten Stulle.

    Schließlich unterbrach der Vater die lähmende Schweigsamkeit.

    „Wie ihr wisst",

    begann er,

    „war ich heute Morgen mit einigen Leuten bei der alten Windmühle. Wir haben uns das Gerippe gründlich angesehen und beschlossen, sie wieder herzurichten. Zunächst wollen wir den Bock und das Dach in Ordnung bringen und noch Verwertbares bergen. Ein Fachmann aus der Kreisverwaltung will sie als Denkmal schützen lassen. In der nächsten Zeit werden wir einen Interessenverein gründen und dann das gemeinsame Vorgehen bei der Rekonstruktion festlegen."

    Pit hörte mit offenem Mund zu. Diese Neuigkeit musste er erst verdauen. Galt doch die Mühle als verwunschen, und niemand wollte bisher etwas mit ihr zu tun haben. Wind und Wetter hatten sie arg gebeutelt, und ihre Nähe bildete eine unabwägbare Gefahr. Ein Schild wies darauf hin. Groß war dort vermerkt: ‚Das Betreten ist streng verboten!’

    „Ich werde nachher mal mit dem Rad hinfahren",

    beschloss er, um sich das angeblich Fluch belastete Bauwerk möglichst nahe ansehen. Seine Mutter äußerte Skepsis.

    „Seid ihr sicher, Jens, dass es sich lohnt, diese Ruine wieder aufzubauen? Wäre es nicht gescheiter, sie ganz abzureißen?"

    „Keine Sorge, Babs, wir haben uns das Ganze gründlich angeschaut. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Zum anderen hätten wir am Radwanderweg der Werla ein attraktives Ziel. Es könnte sich eine interessante Perspektive entwickeln."

    Pits Mutter Bärbel schien nicht besonders überzeugt zu sein. Sie wechselte das Thema. „Ich habe heute einen glücklichen Moment erlebt. Unser Sohn hat seine Schmutzwäsche ins Bad geräumt und beim Decken des Tisches geholfen. Ich kenne nicht den Grund seiner Wandlung, aber ich bin froh, dass noch nicht ganz Hopfen und Malz verloren ist. Ich wäre glücklich, ihn öfter so zu erleben."

    Pit errötete leicht, und Oma Gretel lächelte ihm verschmitzt zu. Ihr gemeinsames Geheimnis sollte vorerst keiner erfahren.

    „Da können wir ja froher Hoffnung sein",

    bemerkte sein Vater. Er vertiefte sich wieder in seine Zeitung.

    Pit bot sich an, auch beim Abräumen behilflich zu sein. Eine ungewöhnliche Geste. Seine Oma drängte ihn aber mit den Worten weg:

    „Geh nur!"

    Der Regen hatte die Luft abgekühlt. Er streifte deshalb die Jacke über. Plötzlich verstellte ihm seine Schwester demonstrativ den Weg.

    „Ich will mit!"

    Er sah keine Chance, ihr den Wunsch abzuschlagen. Sie stürmte in Garage, um ihr Bike zu holen, doch das hatte einen Plattfuß.

    „Los, pumpe mal Luft auf!"

    Diese fordernde Tonart konnte er absolut nicht leiden. Er schwang sich auf seinen Drahtesel und fuhr davon, mit einem keifenden Wesen im Nacken.

    Wundersame Geschichten

    Draußen in der Natur fühlte er sich frei, und es machte ihm Spaß, auf dem Feldweg Kurvenlinien zu fahren. Nach einer Viertelstunde stand er vor dem alten Windmühlenwrack. Neugierig aber auch ängstlich trat er vorsichtig näher. Offenbar war der mittlere Balken des Bockes gebrochen, der Grund für die Schieflage des Mühlenhauses. Das Gerippe ermöglichte einen Blick ins Innere. Oben im Dach konnte man ein großes Rad erkennen, das sich auf einer hölzernen Welle befand. Das mächtige Rundholz besaß außen noch drei Stümpfe, wohl die Reste der Flügel.

    Eine wundersame Geschichte, die ihm Oma in seiner Kindheit oft erzählt hatte, fiel ihm jetzt ein. Die Mühle sollte früher einmal einem Müller namens Heinrich gehört haben. Sie könne sich auch erinnern, dass man in ihrer Kindheit noch von der Heinrichsmühle sprach. Da der Klapperkasten, wie sie besonders erwähnte, immer im Wind stehen musste, hatte er auf der Rückseite einen langen Balken, auch Stert genannt, mit dem der Müller unter großem Kraftaufwand das Mühlenhaus samt Flügel in die richtige Lage drehen konnte. Dieser brach einst, zermürbt durch die ständige Benutzung. Ein neuer, geeigneter musste her. Der Müller hatte in der ‚Alten Eiche' einen leicht gebogenen kräftigen Ast ausgemacht. Weil die Menschen in der damaligen Zeit ohne eine Getreidemühle vor Ort nicht auskamen, erteilte der Dorfschulze die Genehmigung, diesen Ast herauszuschneiden, um damit den Stert zu ersetzen. Doch der Einbau brachte kein Glück. Die Mühle wurde danach ständig durch Unwetter beschädigt, bis der Müller aufgab und sie wegen der hohen Reparaturkosten nicht weiter betrieb. Die Bauern nutzten in ihrer Ausweglosigkeit wieder eine der geschmähten Wassermühlen. Auch die ‚Alte Eiche' rächte sich. Über Jahre kümmerte sie dahin und brachte keine Früchte hervor. Die Ärmsten im Dorf, die mit den Eicheln ein Schwein fütterten, litten danach große Not. Die vielen Überschwemmungen der Werla, zwei Dürrejahre und ein fürchterlicher Hagelschlag, der damals die gesamte Ernte vernichtete, wurden ihr deshalb angelastet. Jemand wollte seinerzeit eine Stimme nahe des Standortes gehört haben, die verkündete: „Fünf Jahre sollt ihr für den Frevel an meiner Krone büßen. Danach sei euch verziehen!" Später wagte niemand mehr, den geschändeten Baum anzurühren. Er erholte sich wieder. Die Lücke in der Baumkrone aber blieb bis heute. In den fünfziger Jahren wurde der knorrige Riese zum Naturdenkmal erklärt. Er stand jetzt unter amtlichem Schutz, und niemand durfte sich an ihm vergreifen. Soweit die Überlieferung.

    Pit umkreiste das sagenumwobene Bauwerk. Er suchte den Balken, den man Stert nannte. Er fand nur ein abgesplittertes Stück Holz unterhalb der Öffnung, die wohl mal eine Tür gewesen sein musste. Die Geschichte über die Mühle und ‚Alte Eiche' gab ihm zu denken. Er beschloss, diesem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Irgendetwas Unbekanntes trieb ihn plötzlich, sich dieser Aufgabe zu stellen. Er erinnerte sich auch an einem Sturz in der Nähe, wo er glaubte, eine Stimme gehört zu haben, die zusätzlich seine erwachende Entdeckungslust anstachelte. In den Sommerferien wollte er diesen Rätseln nachgehen, vorläufig war aber Schweigen angesagt. Er schwang sich wieder aufs Rad und fuhr in Richtung Werla. Den vor ihm liegenden Burgberg hatte die Abendsonne in eine rot leuchtende Glocke gehüllt. Nur zweimal war er bisher dort oben gewesen, fiel ihm ein. Außer Gestrüpp und ein paar Mauerresten gab es nach seiner Meinung nichts Lohnenswertes zu sehen. Die Burg, die dort gestanden haben sollte, wurde in der hiesigen Gegend als ‚Fünf-Ecken-Burg' bezeichnet. Den Grund für diese ungewöhnliche Bezeichnung kannte er nicht. Doch bald schon sollte sich das ändern.

    Er bog rechts zum Fluss ab und hielt an. Am anderen Ufer standen einige Betonpfosten. Sie trugen noch immer ein verwittertes Fischgrätenmuster aus schwarz-rot-goldenen Streifen. Dort verlief vor Jahren die innerdeutsche Grenze, über die nichts Gutes erzählt wurde. Seine Mutter Bärbel stammte von drüben. Noch während der ersten Grenzöffnung vor der Wiedervereinigung hatte sie seinen Vater kennen gelernt. Ein halbes Jahr später waren sie verheiratet. Seine Verwandten im Osten besuchte er öfters. Mit dem Rad war es leicht, denn es gab inzwischen wieder eine Brücke über den Fluss. Drüben hatte er unter den Mädchen und Jungen seines Alters neue Freunde gefunden. Sie verstanden sich prima. Meistens verbrachte er aber seine Freizeit mit denen hiesigen im Ort. Es dunkelte bereits, als Pit zu Hause ankam. Sein Fahrrad ließ er einfach am Hofeingang stehen und verschwand sofort in seinem Zimmer. Eine gesunde Müdigkeit drängte ihn ins Bett. Doch vorher quälte er sich nochmals die zu lernenden Formeln ab. Es klappte noch halbwegs. Danach zog er sich aus, warf seine Sachen in alter Manier auf einen Haufen und legte sich hin. Wenig später schlief er tief und fest. Seine Mutter überzeugte sich später besorgt von seiner Anwesenheit. Kopfschüttelnd registrierte sie den neuerlichen Klamottenberg.

    Schulalltag

    „Pit, du musst aufstehen, es wird Zeit!, klang eine ferne Stimme. Der nächste Morgen verschlang die Minuten seiner Mutter im Eiltempo. Jule, die auch zum Unterricht musste, ließ ihr kaum Zeit für ihn. Gehetzt klopfte sie noch kurz an die Tür bevor sie ging. Als gelernte Kindergärtnerin betreute sie die Kinder in dieser Woche vormittags. Vorher ließ sich seine Schwester noch zur Schule bringen. Sein Vater bekam meist von all dem nichts mit. Er arbeitete in einem Forschungslabor der Kreisstadt und musste früh los. Der morgendliche Stress blieb deshalb an ihr hängen. Das Pochen rüttelte Pit endgültig wach. Er hatte fast verschlafen. Gerade noch rechtzeitig verließ er das Bett, duschte sich kurz ab und sprang in seine Klamotten. Mit zerknittertem T-Shirt und ungekämmtem Haar stürmte er in die Küche, trank einen Schluck Apfelmost, griff sein Frühstück und im Flur seine Schultasche. Dann schlüpfte er in seine ausgetretenen Turnschuhe. Boldi kam und zog Aufmerksamkeit heischend am Schnürsenkel. „Das fehlt gerade noch!,

    fuhr er den Hund an und verscheuchte ihn mürrisch. Gott sei Dank hatte sich das Band nicht gelöst, denn das Auf- und Zubinden betrachtete er nur als lästige Mühe. Die nächste Hürde erwartete ihn im Hof. Das Rad, wo hatte er es abgestellt? Vorsorglich von seinem Vater noch am Abend zuvor in der Garage eingeschlossen, konnte er es nirgends entdecken. Ihn juckten meist solche Vorkehrungen weniger, es handelte sich schließlich nicht um sein Geld, das man für so einen Renner aufbringen musste. „Verdammt, jetzt ist die Karre auch noch weg.",

    schimpfte er entmutigt. Im letzten Moment dachte er an die Garage. Glücklicherweise war sie nicht verschlossen. Die Tür ließ er danach einfach offen.

    „Mist! Heute ist ja Sport, da brauche ich mein Sportzeug",

    fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein. Er rannte zurück ins Haus, holte den Beutel, sprang aufs Rad und raste davon. So wie heute Morgen bestritt er schon seit geraumer Zeit sein Dasein, leichtfertig und wenig rücksichtsvoll.

    Da Burgroda etwas abseits lag, gab es nur eine schmale asphaltierte Zugangsstraße von Neuburgroda. Als der jüngere Ort, stellte er aber den größeren von beiden Gemeinden. Er lag an einer alten Handelsstraße und verfügte seit 1915 über einen Bahnanschluss. Die Bevölkerung entwickelte sich aufgrund der günstigeren Verkehrslage und der damit verbundenen wirtschaftlichen Entwicklung schneller und besaß deswegen die vierfache Einwohnerzahl gegenüber ihrem älteren und kleineren Nachbarn. Heute befanden sich dort auch das Verwaltungszentrum und die Albert-Schweitzer-Gesamtschule. Burgroda gehörte jetzt nur als ein Ortsteil zum Gemeindeverband.

    Pit trat in die Pedalen. Wenn er Pech hatte, würde er sich verspäten. Er fuhr als Einziger nicht mit dem Schulbus, auch nicht bei schlechtem Wetter. Trotz häufiger Spötteleien seiner Schulfreunde ließ er sich nicht davon abbringen. Schließlich gab es Prinzipien. Der Schulhof empfing ihn mit gähnender Leere. Er schloss sein Fahrrad an einen Zaunpfosten, denn im Fahrradständer gab es keinen Platz. Dann hastete er ins Schulhaus. Vor dem Klassenzimmer im Erdgeschoss stand zu allen Übeln auch noch Rektor Hirschwald. Er hatte die offene Tür noch in der Hand.

    „Na, Pit, hast du verpennt?",

    empfing er ihn und stellte sich in den Weg.

    „Stimmt, Herr Hirschwald. Entschuldigung. Soll nicht mehr vorkommen!".

    stammelte er verlegen.

    „Los, rein!",

    kommandierte der Rektor ärgerlich und gab den Weg frei. Pit stürzte in die Klasse. Fast wäre er gestolpert. Alle lachten. Leicht verwirrt nahm er auf seinem Stuhl neben Fauli Platz. Da erst bemerkte er, dass vorn am Lehrertisch eine junge Frau saß. Sie trug ein rosa T-Shirt. Das passte zu ihrer Gesichtsfarbe. Auf ihrer Nase ruhte eine schmale Brille. Das Haar trug sie streng nach hinten gekämmt. Fauli flüstert, als er Pits verdutzten Blick bemerkte:

    „Das ist Frau Seidenfad, die neue Referendarin. Sie soll heute Berg vertreten, der hat was in der Stadt zu tun ".

    Jemand hinter ihnen kicherte.

    „Miss Piggy" stand auf einem Zettel, der rumgereicht wurde. Das Kichern und Lachen hörte man noch öfter. Die junge Frau schaute ins offene Klassenbuch und machte Anwesenheitskontrolle. Einige hatte sie schon abgehakt. Pits Erscheinen quittierte sie mit einem strengen Blick, unterließ es aber, etwas zu sagen. Der Rektor hatte ja schon seinen Segen gegeben.

    „Martin Faulstich",

    fuhr sie fort. Fauli sagte:

    „Ja!"

    und hob dabei die Hand. Sie blickte kurz auf und musterte ihn. Der nächste Aufruf galt Giuseppe Fellini, er drehte als Sitzenbleiber eine Ehrenrunde in der 7 b. Jetzt schoss er in die Höhe und antwortetet mit singender Stimme „Jaaaa". Wieder lachten viele. Irritiert schaute die junge Frau zu ihm hin. Vor ihren Augen posierte ein hoch gewachsener Junge mit langen dunklen Haaren und einem ausgesprochenen südländischen Teint. Obwohl erst vierzehn Jahre, sah er aus wie siebzehn. Er besaß den Ruf, der größte Casanova an der Schule zu sein und hatte in den oberen Klassen schon vielen Mädchen erfolgreich den Hof gemacht. Triumphierend checkte er die Runde. Doch die Referendarin beachtete ihn nicht weiter. Sie rief den Nächsten auf.

    „Reinhard Katzmann",

    so lautete Stinkis richtiger Name, wurde aufgerufen. Er saß hinten allein auf der Bank.

    „ Hier!" rief er, meldete sich aber nicht. ‚Miss Piggy‘ sah sich suchend um.

    „Bist du das da hinten?",

    fragte sie.

    „Warum meldest du dich nicht?"

    Er zuckte mit den Schultern.

    „Komm vor und setz dich neben das Mädchen in der zweiten Reihe!"

    „Iiih";

    schrieen Einige,

    „der doch nicht, der stinkt!"

    Am lautesten protestierte Locke. Zu ihr sollte er sich nämlich setzen.

    „Wenn der vor kommt, haue ich ab",

    drohte sie. Ihr blonder Lockenschopf hatte ihr zu dem Beinamen verholfen. Eigentlich hieß sie Floriane Dietzel. Sie war nicht nur hübsch sondern auch gut entwickelt. Das wusste sie und betonte ihre körperlichen Reize mit entsprechenden Klamotten. Die Ohren und den Bauchnabel schmückten Piercings. In der Klasse suchte sie keine Freundschaften. Anscheinend legte sie auch keinen Wert darauf. Das Hauptfeld ihrer Aktivitäten lag bei den Jungen der Zehnten. Ihren Zwillingsbruder Florian, auch Flori genannt, mochten dagegen alle. Sein Herz gehörte dem Fußball. Er spielte in der hiesigen A-Jugend. Aufgebracht herrschte er seine Schwester an:

    „Sei nicht so zickig, Locke, sonst gibt es Stress!"

    Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, hielt aber den Mund. Ratlos verfolgte die Referendarin dem Geplänkelt. Für eine derartige Situation besaß sie kein Rezept. Im Studium wurden solche Probleme nicht besprochen. Mit der Fortsetzung der Anwesenheitskontrolle wollte sie jetzt ihre Unsicherheit überdecken. Deshalb rief sie Pit auf:

    „Peter Summerby!"

    Der saß geistesabwesend da, reagierte nicht. In Gedanken wiederholte er nämlich die Binomischen Formeln. Es klappte noch, das machte ihn froh. Fauli knuffte ihn in den Arm:

    „Alter, du bist dran!"

    Pit schaute verwundert auf. Er sollte gerade einen Abwesenheitsstrich bekommen.

    „Hier bin ich",

    protestierte er,

    „aber ich heiße Pit und nicht anders."

    „Gut",

    entgegnete sie,

    „ich werde es mir merken."

    Nach einer Viertelstunde schloss sie endlich die Kontrolle ab. Die dadurch ausgelöste Unruhe in der Klasse steigerte sich inzwischen so, dass kaum einer merkte, wie eine Überschrift an die Tafel geschrieben wurde. Die junge Frau versuchte händeringend, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Jetzt, wo sie stand, wurde noch deutlicher, wie treffend die Bezeichnung ‚Miss Piggy‘ zu ihr passte. Nicht besonders groß, mit einer molligen Figur, ergänzte sie diesen Eindruck. Bei Sprechen schob sie ihren Mund vor. So hätte sie auch gut in die ‚Muppet- Show‘ gepasst. Irgendwie spürte man das auch. Plötzlich forderte sie mit schriller Stimme Ruhe ein. Erschrocken folgte ein Großteil der Klasse, und es wurde danach merklich leiser.

    „Euer Klassenlehrer hat euch aufgetragen, die Binomischen Formeln übers Wochenende zu lernen ",

    begann sie und schaute ins Klassenbuch.

    „Giuseppe, wie lautet die Erste?"

    „Pech für Fellini",

    dachte Pit,

    „warum benimmt er sich immer so auffällig?"

    Selbstgefällig tönte selbiger:

    „Ich kann sie nicht, weil ich diesen Quatsch sowieso nicht brauche, wenn ich Schlagersänger werde."

    „Du musst es ja wissen. Dafür gibt es nur ein ‚ungenügend‘ ",

    lautete die Konsequenz. Meli meldete sich. Miss Piggy, der Spitzname hatte inzwischen die Runde gemacht, hörte sie ab und lobte die fehlerfreie Ansage. Mia, ihre Banknachbarin, sollte sie an die Tafel schreiben. Nur zögernd, fast ängstlich bewegte sie sich nach vorne. Körperlich konnte sie mit den anderen Mädchen nicht mithalten. Klein und durch eine Krankheit geschwächt, litt sie fürchterlich unter diesem Makel. Das prägte auch ihr Selbstbewusstsein. Sie reichte kaum an die Stelle auf der Tafel, wo sie die Formel hinschreiben sollte. Meli sprang nach vorne, zog die Schreibfläche runter und blieb neben ihr stehen. Sie nickte und ermutigte ihre Banknachbarin mit einem aufmunternden Blick. Erst jetzt schrieb Mia die Gleichung sauber und einwandfrei an. Gleichzeitig senkten einige ihre Köpfe in der Hoffnung, nicht dran zu kommen. Pit meldete sich. Die Referendarin missachtete seinen erhobenen Finger und forderte stattdessen Stinki auf, die zweite Formel aufzusagen. Der trug sie fließend vor, er hatte ja die Tafel als Vorlage, ersetzte nur Plus durch Minus.

    „Es gibt einen Fehler, denke nach!"

    Der Erwähnte, überzeugt alles richtig gemacht zu haben, schaute verlegen auf seine Bank. Pit und Meli meldeten sich. Diesmal bekam er den Vorzug und sollte die Formel entsprechend berichtigen. Unbeholfen, ganz gegen seine Gewohnheit, hechtete er an nach vorne und wäre beinahe gestürzt. Mit krakeliger Schrift schrieb er die zweite an. „Richtig",

    lobte Miss Piggy,

    „und nun du da hinten, hast du den Fehler erkannt?"

    Stinki knurrte so etwas wie „Ja". Er hätte auch gerne mal ein Lob kassiert. Die dritte Formel musste Anne ansagen. Weil sie richtig geantwortet hatte, durfte sie sie auch gleich anschreiben. Der Unterrichtsablauf normalisierte sich wieder. Offenbar übertrug sich das auch auf die junge Anwärterin, die wieder sicherer wurde. Sie ließ noch von Anne die Tafel schließen, um so den Anschrieb zu verdecken.

    „Jetzt bin ich gespannt, wer die drei Formeln fehlerfrei zustande bringt",

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