Holderhof: Ein Eifel-Krimi
Von Georg Schmuecker
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Buchvorschau
Holderhof - Georg Schmuecker
Prolog
Vor ihr - ihr kleiner Junge. Sie ruft, ruft lauter. Er dreht sich nicht um. Sie versucht zu rennen, kommt nicht vom Fleck. Nebel zieht auf. Sie sieht ihn kaum noch. Dann ist er weg. Panik steigt in ihr auf. Kurz ist er wieder zu sehen. Sie will ihn rufen, will schreien, aber sie kann nicht.
Nun ist sie in einem leeren Raum. Sie fröstelt. Ein Mann kommt herein. Er kommt auf sie zu. Sie kennt ihn nicht. Er hebt den Kopf und schüttelt ihn langsam. Alles zerbricht in ihr. Sie fällt und fällt.
Dann wird sie wach. Die Zeit kennt sie, bevor sie auf die Uhr schaut. 4.45 Uhr. Wieso immer um diese Zeit? Wieso geht es jetzt wieder los? Dann fällt es ihr ein. Er würde wieder frei kommen.
Sie steht auf und zieht ihr Nachthemd aus. Sie hasst den kalten Schweiß auf ihrer Haut. Um diese Zeit kommt kein warmes Wasser aus der Dusche, also reibt sie sich nur mit dem Handtuch ab und zieht ein frisches Nachthemd an. Sie weiß, es wird mindestens eine Stunde dauern, bis sie wieder schlafen kann.
Sie fragt sich, wie lange es noch dauern wird, bis er merkt, dass es wieder begonnen hat. Und wie er diesmal damit umgehen wird.
März 2007, Köln
Die Stahlspitze blieb knapp oberhalb der linken Augenbraue stecken. Mario Blaschek lächelte zufrieden.
Er stand von seiner Pritsche auf, streckte sich und zog den Dartpfeil aus dem Foto. Mörtel rieselte auf den Boden.
Drei Monate noch, Riemke
, sagte er leise, dann wird abgerechnet.
Sein Blick wanderte auf einen vergilbten Zeitungsausschnitt, der neben dem mit Löchern übersäten Foto hing.
Kindesentführer gefasst
Kölner Stadtanzeiger 08.06.1992
Der als „Viper" bekannte, mutmaßliche Entführer von Lukas Sandel konnte verhaftet werden.
Der Leiter der SoKo Viper, Kriminalkommissar Karl Riemke, konnte in den frühen Abendstunden den seit fünf Jahren gesuchten Mario Blaschek verhaften. Wie es Riemke gelang, den Mann, der die Polizei so lange zum Narren hielt, und der seit zwei Jahren zu den meistgesuchten Verbrechern des Landes gehörte, zu fassen, ist bisher unbekannt. In einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz teilte der Polizeisprecher lediglich mit, dass der unermüdlich Einsatz und die Beharrlichkeit von Riemke zu der Verhaftung geführt haben."
Zwei zu eins, Arschloch
, murmelte Blaschek aber dat Spiel ist noch nit zu Ende.
Dann betrachtete er einen weiteren vergilbten Zeitungsausschnitt.
Kindesentführer verurteilt
Kölner Stadtanzeiger 24.11.1992
Landgericht verurteilt „Viper" Mario Blaschek wegen Kindesentführung mit Todesfolge sowie räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren.
Knapp fünf Monate nach seiner Verhaftung verurteilte das Landgericht Köln Mario Blaschek zu einer Strafe von 15 Jahren und folgte damit dem Antrag der Staatsanwaltschaft. Blaschek wurde für schuldig befunden, an der tragisch geendeten Entführung des Industriellensohns Lukas Sandel maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Obwohl ihm zuvor nie etwas nachgewiesen werden konnte, waren die zahlreichen anderen Straftaten, mit denen er in Verbindung gebracht wird, sowie die mangelnde Reue des Angeklagten ausschlaggebend für das Strafmaß. Überschattet wurde der Prozess von Drohungen Blascheks gegen Kriminalkommissar Karl Riemke, der maßgeblich zu seiner Verhaftung beitrug und die Beweise erläuterte. Wegen der Zwischenrufe und Wutausbrüche wurde der Prozess teilweise in Abwesenheit des Angeklagten geführt. Die Anwälte der Eltern von Lukas Sandel zeigten sich zufrieden mit dem Urteil."
Im Januar 2001 hatte Blaschek begonnen, das Ende seiner Gefangenschaft vorzubereiten. Dass er keine Aussicht auf vorzeitige Entlassung haben würde, hatte ihm sein Anwalt schon kurz nach der Urteilsverkündung klar gemacht. Dafür waren die Drohungen gegen Riemke zu heftig ausgefallen. Dank einer langen Karriere als Verbrecher und einem hohen Maß an Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen Opfern galten die Chancen auf eine Resozialisierung Blascheks als gering.
Für ihn ging es nur darum, eine Sicherheitsverwahrung im Anschluss an seine Haftstrafe zu vermeiden. Also hielt er sich an die Anstaltsregeln, begann in der Bibliothek zu lernen und ließ sich zum Erst-Helfer ausbilden. In 2002 stellte Blaschek einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung. Er wusste, dass dies keinen Erfolg haben würde, aber er wollte sicher sein, dass sein gutes Verhalten dokumentiert würde. Und so kam es auch.
Blaschek zerlegte den Dartpfeil in vier Teile und verteilte sie auf gut gewählte Verstecke. Dann zog er den Heftzweck aus der Wand und legte das Foto von Riemke unter seine Matratze. Nur ab und an holte er es heraus. Der Hass auf Riemke hatte ihm ein Ziel gegeben, seinem Leben einen Sinn. Jetzt fragte er sich manchmal, ob Riemke es wert war, ein weiteres Mal im Knast zu landen, und dann für immer. Zehn Jahre hatte er gebraucht, bevor er sich zum ersten Mal fragte, ob Riemke vielleicht nur seinen Job getan hatte.
Doch Riemke hatte mehr als seinen Job gemacht. Er hatte sich in die Verhaftung Blascheks hineingesteigert, seine Familie vernachlässigt, Tag und Nacht gearbeitet und keine Verbindung ungenutzt gelassen, zusätzliche Ressourcen für die SoKo Viper zu beschaffen.
Wie erwartet, war auch das zweite Gesuch auf vorzeitige Entlassung abgelehnt worden. Der Bewilligungsausschuss hatte alles noch einmal durchgekaut und am Ende war es die persönliche Aussage Riemkes gewesen, der, seit sieben Jahren in Pension, nochmals die Drohungen darstellte, die Blaschek gegen ihn und seine Familie ausgestoßen hatte. Blaschek hatte erreicht, was er wollte. Sie hatten zwei Mal seine vorzeitige Entlassung abgelehnt, trotz nachweislich guter Führung. Das bedeutete aber auch, dass es keinen Grund geben würde, ihn in Sicherheitsverwahrung zu nehmen.
Jetzt war die Zeit gekommen, die Früchte der letzten Jahre zu ernten. Auf ihn wartete die Freiheit und die Rache. Es hatte ihn viel Kraft gekostet, sich an die Regeln zu halten und keine Aggressionen zu zeigen.
März, Iversheim/Eifel
Karl Riemke saß im Lehnstuhl auf der Veranda vor seinem Wochenendhaus. Tief eingemummelt in eine Decke genoss er die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Von Zeit zu Zeit schob er seine Hand unter der Decke hervor und griff nach der großen henkellosen Teetasse. Er hielt sie einige Sekunden mit beiden Händen umschlungen und genoss den Duft von Rum. Er blies in den Tee und seine Brille beschlug. Dann neigte er den Kopf etwas nach vorne und blickte über die Brillenränder in die Ferne. Doch er erkannte nicht viel mehr, als er durch die beschlagenen Gläser gesehen hätte. Obwohl er die Aussicht seit fast 50 Jahren kannte, konnte er nicht genug davon bekommen. Er hatte sich oft gefragt, was diese Aussicht ausmachte. Der Hartenberg erhob sich auf gerade einmal 350 Meter, war also eher ein Hügel als ein Berg. Es gab auch keinen Blickfang in dieser Aussicht. Aber die Proportionen, die räumliche Tiefe, entstanden durch die Abfolge der ersten unterhalb des Hauses liegenden Schafwiese, eines mit Sträuchern bewachsenen Hügels und den sich dahinter erstreckenden Wiesen mit vereinzelten Obstbäumen, die bis zum Saum des noch nicht ergrünten Waldes reichten, dies alles hätte ein Landschaftsmaler des 18. Jahrhunderts nicht schöner erschaffen können. Wenn er nach links blickte, konnte er die letzten Häuser von Arloff sehen. Der Wald war ein Buchenmischwald mit einzelnen Parzellen Kiefernwald. Den Waldrand säumten Brombeerbüsche. Die Wiesen vor dem Wald wurden durch einen Bach, der rechts dem Wald entsprang und sich in Richtung Arloff schlängelte und einen Schotterweg, der in sanften Serpentinen zum linken Waldrand führte, in drei Flächen geteilt.
Riemke trug sein dichtes graues Haar streng nach hinten gekämmt. Die neue Brille mit dem eckigen schwarzen Gestell verlieh ihm einen Hauch von Künstler.
Noch immer war es für ihn das Wochenendhaus, obwohl er hier fast so viel Zeit verbrachte, wie in Köln. Eigentlich war er als Pensionär nicht mehr an Wochenenden gebunden. Doch Riemke hatte seine Gewohnheiten und so verbrachte er vor allem verlängerte Wochenenden im Grünen.
Trotz seiner 72 Jahre hätte er noch Chancen bei Frauen gehabt, doch er hatte nach dem Tod von Christa mit keiner Frau etwas angefangen. Das war jetzt 5 Jahre her.
Kein Tag war vergangen, an dem er sich nicht gefragt hatte, wieso ausgerechnet sie Krebs bekommen hatte. Wenigstens war es schnell gegangen. Das hatten die Ärzte angekündigt: „Bauchspeichelkarzinom, wir geben ihr noch 6 Wochen". Ihm wäre es lieber gewesen, er wäre der Erste von beiden gewesen, der ging, und er musste sich eingestehen, dass er fest davon ausgegangen war. All die Statistiken über die höhere Lebenserwartung von Frauen hatten ihn in falsche Sicherheit gewiegt. Und plötzlich hatte er für sich selber sorgen müssen.
Als die Teekanne leer war, stand er mit einer Leichtigkeit auf, die einen Fremden überrascht hätte, und ging mit raschen Schritten ins Haus.
An diesem Morgen hatte er einen Anruf des Leiters seiner früheren Dienststelle erhalten. Der Gutachter hatte die vollständige Resozialisierung Blascheks festgestellt. Dies bedeutetet, dass der Mann, dessen Verhaftung seiner Karriere auf die Sprünge geholfen, aber seine Familie fast zerstört hätte, in drei Monaten wieder auf freiem Fuß sein würde. Eigentlich hatte nicht Blaschek seine Familie fast zerstört, wie er sich eingestehen musste, er selbst war es gewesen.
Zwei Jahre hatte er sich in Blascheks Kopf gedacht und seine Familie fast vergessen. Als Blaschek dann endlich gefangen war, der Medienrummel begann und Blaschek Drohungen gegen ihn und seine Familie ausstieß, war seine Frau kurzerhand mit den Kindern ausgezogen.
Es war ein Warnschuss, und er verstand ihn. Danach hatte es in ihrer Ehe die üblichen Höhen und Tiefen gegeben, aber alles in allem war es eine erfüllte Zeit.
Riemke bezweifelte, dass Blaschek wirklich keine Gefahr mehr darstellte. Plötzlich sah er seine Augen wieder vor sich, den hasserfüllten Blick, mit dem Blaschek ihn angesehen hatte, während sein Mund die Worte dat zahl ich dir heim
formten. Riemke fielen die anonymen Briefe ein, die ihn nach der Verurteilung erreicht hatten. Er war nie dahinter gekommen, wie Blaschek es anstellte, aber die Briefe kamen unzweifelhaft von ihm. Riemke zwang sich, nicht an die Briefe und deren kranken Inhalt zu denken.
Janson, der jetzige Leiter der Abteilung für