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Lord Geward
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eBook866 Seiten11 Stunden

Lord Geward

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Über dieses E-Book

Lord Geward ist ein rasanter Fantasy Abenteuerroman vor durchaus realistischer Kulisse, auch wenn sich das dem Leser erst nach und nach erschließt. Der Roman ist spannend, böse, realistisch und zeigt mitunter, in brutaler Deutlichkeit, das schwarze in der Seele der Menschen, aber auch die Wünsche und Sehnsüchte nach einer anderen, einer besseren Welt.

Anmerkung des Autors:
Die anfängliche Verwirrung, die den Leser empfängt, ist nicht zufällig und durchaus gewollt. Die Geschichte ist durchgängig aus der Sicht der Hauptperson und in der Gegenwart geschrieben. Die üblichen Spannungselemente durch Vorschau, oder Vorgriffe, wie sie in erzählenden Romanen üblich sind fallen damit aus. Die Spannung entsteht ausschließlich aus der aktuellen Handlung und den Gedanken der Hauptperson.

Handlung:
Ein Mann bricht nach einer durchzechten Nacht in einer Tiefgarage zusammen. Als er erwacht befindet er sich scheinbar an einem fremden Ort, in einer anderen Welt. Noch bevor er richtig begreift, wandelt sich diese Welt zur tödlichen Gefahr. Nur knapp dem Tode entronnen, findet er sich mit einer Heerschar schwerbewaffneter Ritter konfrontiert. Mit List, aber ohne zu verstehen was vorgeht, meistert er die Herausforderung und steigt zum obersten Kriegsherrn auf. Er findet die Liebe seines Lebens, aber um diese Liebe zu behalten, ist er gefordert, eine Welt zu ändern, die ihm fremd und unheimlich ist. Er wird zum Rebellen in einem Spiel um Macht Gier und Einfluss. Sein größter Feind aber sind seine Alpträume, die ihn immer häufiger quälen und an den Rand des Wahnsinns treiben.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Okt. 2014
ISBN9783847617402
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    Buchvorschau

    Lord Geward - Peter P. Karrer

    Dieses Buch widme ich:

    Meiner treuen Freundin Paddy, ohne die ich die Welt Lord Gewards nie gefunden hätte und ohne die ich auch nie darüber schreiben hätte können.

    Meinem Freund Elvis, ohne den ich nicht bis zum Ende durchgehalten hätte und der immer ein offenes Ohr für meine Sorgen und Probleme hat.

    Meinem Sohn Tom, der mir nicht nur Sohn, sondern immer auch mein bester Freund ist. Der mich nie im Stich gelassen hat und immer auch wie ein Bruder hinter mir steht.

    Meiner Frau Elisabeth, die auch nach fast dreißig Jahren Ehe immer noch meine Traumfrau ist und auch immer bleiben wird.

    Alle Rechte beim Autor Peter P. Karrer

    1. Freiheit und Abenteuer

    Der Morgen beginnt wie auch Hunderte davor.

    Ein Morgen vor einem endlosen Tag im Büro. Saubere, klimatisierte Tage, aber doch im Büro.

    Eingesperrt zwischen Arbeitsbeginn und Feierabend, Erfolg und Niederlage, Neidern und Spöttern, Kollegen nennt man sie wohl.

    Der tägliche Kampf im Büro. Ach nein, Erfolg wird er genannt.

    Ein Morgen, der bereits im Bett seinen ganzen Schrecken entfaltet. Der fahle Geschmack nach Nikotin und Alkohol: Zigaretten und Biere, die am Abend zuvor nicht genug sein konnten.

    Ein unerträglicher Durst beherrscht mein Denken. Nicht einmal die Leere in meinem Magen kann stärker sein. Ich begreife meine Eingeweide nicht mehr als die meinen, nur noch als einen rumorenden, sich sträubenden Fremdkörper.

    Der Schlauch, der durch unzählige Zigaretten und Unmengen kalten Pils ausgetrocknet und für immer geschädigt ist: nicht mehr weich und geschmeidig, nicht mehr Teil meines Körpers. Nein, diese Speiseröhre gehört nicht mir, kann nicht mir gehören!

    Vielleicht hat mein Hausarzt, der Gott in Weiß, doch Recht. Bestimmt hat er Recht... leider.

    Weniger Alkohol und keine Zigaretten mehr. Nie mehr! Heute höre Ich auf.

    Ein verstohlener Blick zum Wecker, ein Ungetüm aus Blech und Messing. Wer hat den wohl erfunden? Ein Folterknecht, mindestens aber ein Sadist, wahrscheinlich aber doch nur ein penibler Mechaniker, Tüftler und genialer Erfinder.

    Lieber Gott, lass es erst 7:00 Uhr sein oder besser noch 6:30 Uhr.

    Aber auch Gott muss wohl ein Frühaufsteher gewesen sein. Es ist schon 7:45 Uhr.

    Ich muss raus, Kaffee machen.

    Mein klebriger, nach Schweiß und Rauch stinkender Körper, kaum zu bewegen und nur schwer zu steuern, ekelt mich an.

    Die Dusche ist garstig nass. Kaltes Wasser lässt mich frösteln, warmes Wasser regt meine verstopften Schweißdrüsen an, weiter zum Himmel zu stinken. Das seit Tagen nasse und muffige Handtuch birgt auch keine Erfrischung.

    Kaffee, endlich Kaffee!

    Kaffee, welch eklige Brühe, heiß nicht runter zu bekommen, kalt ungenießbar. Mediziner machen das Koffein für die belebende Wirkung verantwortlich, sicher ist es aber nur der unendliche Ekel vor dem mit verbrannten oder besser gebrannten Bohnen, gefärbten heißem Wasser.

    Gestern war noch alles gut. Ja gestern. Gestern habe ich mich noch auf ein herrliches Frühstück, mit saftigem Schinken, weichen Käse und einem Ei, gefreut.

    Ja gestern, da war die Welt noch in Ordnung: bei Bier und Zigaretten, bei Pizza und späten Pommes. - Ja gestern!

    Aber heute, heute muss ein Marmeladenbrot reichen: Kirsche oder doch Erdbeere? Hauptsache rot und süß!

    Das monotone Glucksen, unterbrochen durch ein bösartiges Fauchen, erinnert mich daran, endlich den erlösenden Entkalker zu kaufen. Aber nicht heute, vielleicht morgen oder - wenn die Faulheit mich übermannt - überhaupt nicht. Meine treue Kaffeemaschine, kaffeeverklebt und ungepflegt, hat es unter größten Anstrengungen auch heute wieder geschafft.

    Treue Kaffeemaschine, kämpfst klaglos jeden Tag deinen kleinen Krieg und wirst doch nie siegen, wirst nie den Genuss des Gewinnens ernten und nie den Lorbeerkranz des Siegers tragen. Arme kleine Kaffeemaschine.

    Ich wusste es doch, der Kaffee ist zu heiß! Verdammte schwarze Brühe!!!

    Die erste Marlboro schmeckt widerlich, aber vertreibt die Zeit, bis der Kaffee genießbar wird.

    Rauchen aufhören. Ja natürlich, aber nicht jetzt. Nicht jetzt, nachdem der widerliche Geschmack nach Tod und Verwesung, Pommes und Bier in meinem geschwollenen Mund endlich verschwindet und das Nikotin seine Wirkung entfaltet.

    Marlboro, der Geschmack von Freiheit und Abenteuer.

    Ja, Freiheit. Ich nehme mir die Freiheit und entscheide mich gegen das so aufwendig zu bestreichende Marmeladenbrot; Butter oder Margarine habe ich sowieso wieder vergessen einzukaufen und entscheide mich für eine zweite Marlboro.

    Jetzt ist der Kaffee kalt, ungenießbar: als hätte ich es gewusst! Diese garstige braune Brühe, will mich wie jeden Morgen triezen.

    Der Weg in den Ausguss ist unausweichlich. Ein unanständiges Gurgeln und Glucksen in meinem Spülbecken, das seit Jahren keinen Glanz mehr kennt, beendet ein erst so junges Kaffeeleben.

    Ein Kaffeeleben wird durch Glucksen geboren und durch Glucksen beendet!

    Eigentlich ein ganz vernünftiger Kreislauf.

    Finde Ich heute einen Parkplatz? Bestimmt nicht, es ist schon 8:15 Uhr.

    Freiheit und Abenteuer, wer hat sich den Slogan wohl ausgedacht?

    Sicher ein hochbezahlter Werbeprofi mit nach dem neuesten Trend gestylten und gegelten, tief schwarz gefärbten Haaren.

    Ob der auch täglich eine Stunde auf Parkplatzsuche ist? Eher stellt er seinen Porsche wohl auf einen eigenen Parkplatz, gekrönt durch eine weiße Tafel mit dem Kennzeichen des ach so edlen Fahrzeuges. Dann schmettert er dem Pförtner ein überhebliches »Ich grüße Sie!« zu, versteckt sich möglichst schnell im nächsten Fahrstuhl, um die Reste, unter seinen ansonsten makellos manikürten Fingernägeln mit den Schneidezähnen, zu beseitigen und mit deutlicher Freude in die Ecke zu spucken.

    Ein Mann, der sich in letzter Sekunde bis sich die Aufzugtüren öffnen schnell den auf Maßanzug getrimmten Anzug, der doch nur von der Stange ist, glatt streicht und jedem einen Vortrag über die ausgezeichnete Qualität hält: »So eine Qualität gibt es bei uns gar nicht und Falten kennt so ein Material sowieso nicht!«, während er sich selbstverliebt im Spiegel betrachtet.

    Egal, es ist 8:20 Uhr. Ich muss los.

    Im Lift empfängt mich der vertraute Geruch nach Schweiß, Parfüm und nassen Hundehaaren. Warum müssen nasse Hunde eigentlich immer so stinken? Nasse Katzen stinken doch auch nicht.

    Mir ist flau, ich hätte doch frühstücken sollen!

    Der grüne Knopf mit dem unverkennbaren Lüftersymbol grinst mich an: „Drück mich, drück mich!" aber ein merklicher Ruck zeigt mir an, dass die Tiefgarage erreicht ist.

    Die Aufzugtüren gleiten, wie durch wundersame Magie, mit einem leichten Summen zurück.

    Endlich, der befreiende kühle Geruch nach Gummi, Benzin und Abgase. Ich atme tief durch. Wenigstens nicht mehr der nasse Hundegeruch und das süße Parfüm meiner Nachbarin, die heute scheinbar wieder ein Bad in der süßen Gemeinheit genommen hat.

    Endlich frei!

    Wie immer, das vertraute Bild, Auto an Auto, jedes der Stolz seines Besitzers und doch nur rostende Statussymbole: »Freiheit und Abenteuer.«

    Und doch, heute ist etwas anders, oder ich bin anders!

    Endlose Reihen stolzer Automobile. Warum steht gerade mein Stolz am Ende der Tiefgarage? Ja ich erinnere mich an die Worte des Maklers. »Wenn sie den hinteren Platz neben der Gitterbox des Hausmeisters nehmen, kann ich ihnen noch etwas nachlassen.«

    Jetzt! Da: endlich, mein Stolz: mein Daimler!

    Mir ist übel, unendlich übel. Die Leere in meinem Magen bläht sich zu einem Inferno gigantischen Ausmaßes auf.

    Nie wieder Alkohol, nie wieder!

    Wie groß kann so ein Magen eigentlich werden? Wie ein Handball, ein Fußball, oder noch größer?

    Mein Gott, mein Magen kann diesem Druck nicht mehr lang standhalten. Der Brechreiz wird übermächtig.

    Oh Gott, die Stoßstange, nicht auf die Stoßstange, das herrliche Stück Chrom, nicht auf meinen Daimler, nicht auf meinen ganzen Stolz.

    Zu spät, das Überdruckventil ist gebrochen.

    Dieses Fassungsvermögen ist nicht zu begreifen. Unglaublich! Nach zehn Stunden im Magen grinsen mir immer noch riesige Pizzastücke entgegen, oder sind es nur die Oliven? Auch die Erdnüsse scheinen die langen Stunden der Verdauung unbeschadet überstanden zu haben. Wie kleine Schiffchen treiben die Hälften in einem See aus Erbrochenem.

    Endlich lässt der Druck nach.

    Ein Geräusch, ein bekanntes Geräusch, das schlimmste Summen, das ich mir jetzt vorstellen könnte, lässt mich erstarren. Der Lift, der verdammte Lift.

    Mein Gott, die Türen öffnen sich schon.

    Jetzt nur keinen Fehler machen: kein Geräusch verursachen, gebückt bleiben, langsam hinters Auto kriechen. Nur nicht entdeckt werden! Der See aus Bier, Pizza und Erdnüssen ist kaum zu überwinden.

    „Freiheit und Abenteuer", was für ein Witz!

    Die Lücke hinter meinem Daimler, natürlich zu klein. Warum muss Ich nur immer so knapp an der Wand parken? Klar, mein Stolz. Ich parke auf den Zentimeter genau ein. Mein Stolz, mein verdammter Stolz.

    Der Druck in meinem Magen baut sich schon wieder auf. Mein Gott, endet der Terror in meinen Eingeweiden denn nie mehr?

    Ein Inferno wie Tausend Feuerwerkskörper tobt in meinem Magen.

    Nicht jetzt, bitte nicht jetzt!

    Oh, ist mir schlecht.

    2. Land der Träume

    Die Luft hat sich verändert und ist jetzt frisch und klar. Das Licht ist hell, angenehm und auch mein malträtierter Magen kann sich an keine Krämpfe mehr erinnern.

    Der Himmel, in einem hellen Blau verziert, mit zarten, weißen Kumulus Wolken, wirkt friedlich und sauber. Ich atme tief durch. Hungrig saugen meine Lungen den lebensspendenden Sauerstoff ein. Gierig nimmt mein Blut den Sauerstoff auf und verteilt ihn geschickt im ganzen Körper. Jeder Muskel entspannt sich.

    Meine Muskeln entspannen sich, die Atmung wird flacher und ruhiger. Nie in meinem Leben war ich so gelöst, so glücklich. Eine riesige Wolke der Zufriedenheit nimmt mich gefangen.

    Ich rieche das frische, noch vom Morgentau nasse Gras. Es ist herrlich.

    Aber wo bin ich?

    Ich fühle den groben Umhang aus schwerer Wolle und die hohen, bis über die Knie reichenden Stiefel aus dickem, aber weichem Leder, vermutlich Rindsleder, verziert mit goldenen und silbernen Stickereien und seitlich mit festem Garn verschnürt.

    Ich betaste den schweren Ledergürtel, an dem ein unendlich langes Messer, oder doch eher Schwert hängt. Der kalte Stahl muss von minderwertiger Qualität sein, die Oberfläche ist rau und narbig, aber zweifellos ist dieses Schwert im Kampf eine tödliche Waffe und wurde sicher schon oft zum Töten verwendet. Der Griff ist lederbesetzt und mit Edelsteinen und Goldeinlagen verziert.

    Aber wer bin ich?

    Die warme Morgensonne streichelt meine gequälte Seele.

    Moment mal! Wo ist mein Daimler?

    Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

    Was ist ein Daimler?

    Ich kann mich genau daran erinnern: er war etwas wunderbar Schönes. Ich war stolz darauf einen Daimler zu besitzen. Aber was ist ein Daimler?

    Wieder genieße ich das Gefühl der absoluten Zufriedenheit. Meine Gedanken treiben in das unendliche Blau des Himmels.

    Frei, unendlich frei.

    Ich träume in den Tag hinein. Träume von längst vergangenen Zeiten. Zeiten, die mir als Kind durch die Finger rannen, wie Wasser durch ein Sieb. Die endlosen Ausritte mit meinem Onkel, dem Großherzog und meinem Paten, der so stolz auf sein langes Haar war.

    Das wunderbare Gefühl, das erste eigene Pferd zu besitzen.

    Ich spüre die unsichere, nervöse Angst, sich bei der Krönungsfeier König Artus falsch zu verhalten. Nie in meinem Leben sah ich so viele, festlich gekleidete Menschen.

    Eine Krönungsfeier, die an Größe sicherlich einmalig war. Alleine die Umhänge der unzähligen Besucher hätten die ganze Welt bedeckt. Die Edelsteine, sicher mehr als Sterne am Himmel. Die Menge an ausgeschenktem Wein hätte sicher einen See gefüllt. Tagelang wurden ganze Herden an immer wieder frischem Fleisch serviert.

    Eine unbeschreibliche Demonstration der Macht und des Überflusses.

    Und doch kann ich mich an das Gesicht König Artus nicht mehr erinnern und auch Gwennifer ist nur noch eine blasse Erinnerung. Wie ist es nur möglich, solche Menschen einfach zu vergessen?

    Wie wunderbar frisch die Luft jetzt im Frühling ist. Das Gras noch jung, weich und saftig. Die Sonne um die Mittagszeit anschmiegsam und warm. In ein paar Monaten wird die Mittagssonne unbarmherzig, heiß und schattenlos sein.

    In einer anderen Welt, in einer anderen Zeit wird den Kindern die Mittagssonne verboten. Ozonloch und Krebsgefahr wird man den Horror benennen.

    Hier und Heute besitzen diese Worte keinen Inhalt. Niemand würde sie aussprechen, niemand könnte sie verstehen.

    Aber warum verstehe ich sie? Warum kenne ich solche Worte? Worte, die keiner kennt und keiner spricht.

    Ich versuche mich zu erinnern.

    Auch der Blick auf meine billige Roleximitation, die ich für zwölf Dollar in Hongkong, auf einem meiner gehetzten und überflüssigen Kurzurlaube - Shoppingtouren genannt - erstanden hatte, bringt mir keine Erinnerungen, sondern nur die Trauer über den Tod der geliebten Rolex.

    Der Sekundenzeiger steht still und auch heftiges Schütteln hilft nichts. Meine Rolex wird nie mehr die endlosen Runden seines unruhigen Geistes drehen, nie mehr den Wochentag zeigen, nie mehr die endlosen Stunden zum ersehnten Feierabend verkünden, nie mehr, nie mehr.

    Der Batterietod hat sie jäh eingeholt.

    Vielleicht habe aber auch ich selber meinem chinesischen Begleiter das Lebenslicht ausgeblasen, während ich hinter meinen Daimler, vor den Augen meines Nachbarn, flüchtete?

    Mein Daimler, was war mein Daimler?

    Ich kann mich nicht erinnern. Aber der Gedanke daran erfüllt mich mit Wärme und Zufriedenheit. Daimler, es muss etwas Wunderbares sein.

    Die Erinnerung daran ist wie ausgelöscht.

    Meine Eltern erklärten mir einmal, »Großvater hat Alzheimer, er vergisst alles.«

    Habe auch ich Alzheimer, die Geißel des Vergessens und der Einsamkeit?

    Mein Großvater, ein hünenhafter Mann, fast ein Riese. Als Kind glaubte ich immer, er sei ein König, da er in einem riesigen Schloss wohnte.

    Später verstand ich, dass er nur als Verwalter täglich mit offenen Rechnungen und schlampigen Handwerkern zu kämpfen hatte, oder bei Bedarf, gleich Klempner, Gärtner und Fremdenführer für Touristen ersetzte.

    Touristen, Touris nannte er sie, die alle nur das „wunderbare Schloss bestaunten und er dagegen nur über die schier unlösbare Aufgabe nachdachte, weitere staatliche Zuschüsse für das „wunderbare Schloss zu bekommen, um wenigstens die Kreditzinsen für die letzte Fassadenrenovierung begleichen zu können.

    Touristen, die jeden Stuhl mit Hochachtung umkreisten und er, der nur die nächste Inventur mit über zehntausend einzelnen Positionen sah.

    Touristen, die jedes Bild mit einem »Oh!« und einem »Ah!« belegten und Großvater nur daran erinnerten, dass die Rechnung des Restaurators auch seit über zwei Monaten fällig ist. Touristen, die jede Tischplatte mit ihrem Zeigefinger auf Ebenheit und Rauhigkeit überprüften, mit der gleichzeitigen und lautstarken Ermahnung an ihre Kinder: »Nichts berühren, nur mit den Augen schauen.«

    Einen Verwaltungsbeirat, dem er jährlich Rechenschaft schuldig war und der ihn in jährlicher Tradition, zu mehr Sparsamkeit ermahnte.

    Mein Großvater, der König eines Reiches aus Kontoauszügen, Mahnungen und Kostenvoranschlägen, die sowieso nie eingehalten wurden.

    Ein König mit einem Volk, das nur daran dachte, Unmengen an Kaugummipapieren und Schokoladenresten hinter Schränken und Leuchtern verschwinden zu lassen, aber penibel darauf bedacht war, ihre Kinder ordentlich zu kleiden und sie, um Rechtschaffenheit zu präsentieren, im Minutentakt ermahnten: »Mach Deine Hose nicht dreckig! Pass doch auf Dein Kleid auf! Finger aus der Nase! Mach den Mund zu, wenn Du kaust! Hample nicht so rum! Du benimmst Dich wie ein Baby!«

    Ein König, der mich immer daran erinnerte, niemals Betriebswirtschaft zu studieren: »Lerne was vernünftiges!«

    Ein König in der Gefangenschaft der tödlichen Krankheit.

    Aber ich habe kein Alzheimer.

    Ich kann mich erinnern! Erinnern an meine Kindheit. Erinnern an die tagelangen Fahrten mit meinem Vater durch das ewige Eis Grönlands. Die Robbenjagd war nicht Vaters Leidenschaft, aber überlebenswichtig! Auch wenn Vater es nicht zugab, er war der beste Robbenjäger in der ganzen Umgebung, wahrscheinlich im ganzen Land.

    Die Gedanken an die tagelange Jagd im unendlichen Eis lassen mich noch heute erstarren. Die Angst und die Flucht vor dem riesigen Gebiss des Eisbären werde ich nie vergessen. Flucht, die einzige Möglichkeit zu Überleben. Feuerwaffen oder gar Hubschrauber gab es nicht, nicht in dieser Zeit, nicht in dieser Welt.

    Erst dreihundert Jahre später werden eine Elite von Entwicklern und Tüftlern - finanziert durch mächtige Unternehmen - den ersten serientauglichen, zivilgenutzten Hubschrauber der Öffentlichkeit präsentieren.

    Auch der Schutz durch gemauerte Häuser oder feste Stahlcontainer war unvorstellbar.

    Die Flucht: einzige Chance zum Überleben für einen einsamen Vater mit seinem Sohn auf einem Kontinent, der noch auf keiner Karte lückenlos erfasst war. Der Eisbär, der den Vater schlagartig vom Jäger in den Gejagten verwandelte.

    Nur die gesamte Dorfgemeinschaft konnte einem so verschlagenen, wie auch gefährlichen Gegner trotzen und nur mit Geschick, List und Mut die Trophäe, das Fell, erobern. Ein Fell, das nicht nur wärmte, sondern auch jedem Besucher stolz präsentiert wurde.

    Mein Vater, der nach tagelanger Wanderung zielsicher die richtige Stelle im Eis wiederfand. Ein stiller Jäger, ein gefährlicher Jäger, der nie ohne eine ausreichende Anzahl Robben nach Hause kam. Ein Mann, der nicht viel redete, der tagelang kein Wort mit mir wechselte. Oft dachte ich mir, er hätte mich vergessen und doch lehrte er mich alles Notwendige zum Überleben im ewigen Eis.

    Mein Vater blieb zu Lebzeiten ein Fremder für mich. Unnahbar, stumm und meist unendlich weit weg.

    Ursache war sicher die Kälte, der ständige Kampf ums Überleben, die Bürde der Verantwortung, in einer Hölle aus Schnee und Eis.

    Manchmal, glaube ich, war er auch ein wenig stolz auf mich. Wie damals, als ich meine erste Robbe erlegte. Gesagt hat er das nie, aber stolz war er doch. Als wir nach vier Tagen Robbenjagd zurückkamen und er glaubte, ich schlief, erzählte er stolz meiner Mutter, wie geschickt ich vor zwei Tagen meine erste Robbe zur Strecke gebracht hatte.

    Meine Mutter schwieg, aber ich wusste: auch sie war stolz und zufrieden. Eigentlich war meine Mutter mit allem zufrieden oder sie hat sich mit allem abgefunden.

    Oft vermisse ich sie. Ihre Ruhe, ihre Stille, die unausgesprochene Liebe und Geborgenheit. Nie mehr werde ich ihre Güte spüren, nie mehr.

    Sie ist jetzt über dreihundert Jahre tot und bis auf mich hat sie sicher auch jeder längst vergessen.

    Der Gedanke an meine Mutter treibt mir dicke Tränen ins Gesicht. Ich spüre das warme Brennen in meinen Augen und schmecke die salzigen Tränen in meinen Mundwinkeln.

    Schlagartig erwache ich aus meinen Tagträumen.

    Der Himmel strahlt immer noch sein wunderbares Blau und auch die Luft ist immer noch rein und frisch, kein Smog stört den süßen Geruch, kein Lärm bricht die Ruhe.

    Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. Meine Mutter, über dreihundert Jahre tot, mein Großvater Hausverwalter.

    Nein, nein! Werde ich verrückt? Oder bin ich es schon?

    Wer bin ich? Wo bin ich? Was geschieht hier? Wo ist mein Daimler? Was ist mein Daimler?

    Ich versuche mir alles ins Gedächtnis zu rufen, aber irgend etwas zwingt mich zu vergessen. Aber ich will nicht vergessen, nicht meinen Daimler, nicht meinen Großvater und nicht meine Mutter. Ich will nichts vergessen, will mich erinnern, muss mich erinnern.

    Mein Magen mischt sich wieder in meine Gedanken. Diesmal ist es nicht das Gefühl der Übelkeit, nicht der unerträgliche Überdruck, nur der sanfte Druck des Hungers.

    Mein Bruder, glaube ich, war es einmal - in einer anderen Welt, in einer anderen Zeit - der mir zeigte das Wild zu beobachten, die Windrichtung zu berücksichtigen, den Takt und die Stärke der Atmung zu kontrollieren, Kimme und Korn in Einklang zu bringen, das Gewehr fest an die Schulter zu pressen und im richtigen Moment das Wild mit nur einem Schuss zu erlegen.

    Mein Bruder war es, der mir alles über die Jagd beibrachte. Die Jagd, die überlebenswichtig für die ganze Familie war, in den weiten Tälern Usbekistans, lebensnotwendig für den Wintervorrat.

    Eine Jagd, die nicht dem Vergnügen, wie in späteren Zeiten diente, sondern einfach nur zum Überleben, zum Stillen des täglich wiederkehrenden Hungers.

    In einer Zeit, in der Hunger nicht die Lust am Essen war, nicht die Lust, die durch hochbezahlte Werbeagenturen und ihren hochdekorierten Werbestrategen erst geboren wurde, ein Hunger, der sich in verkauften Einheiten und bunten Umsatzstatistiken wiederspiegelte, ein Hunger, der entschied, wer Verkäufer des Monats wurde und dessen Bild vier Wochen lang die Verkaufstheke zierte und jedem Kollegen den Neid in den Rücken drückte.

    Nein, dieser Hunger war anders: Ein unaufhaltbarer, Urgewalten weckender, immer wiederkehrender Hunger! Der, wenn er nicht gestillt wurde, ganzen Familien den Tod brachte. Zehn Kilo Fleisch am Tag, damals für eine Familie überlebenswichtig.

    Diese Menge purer Energie wird man später als Völlerei verdammen. Es wird die Zeit kommen, in der Gemeinschaften, Krankenkassen wird man sie nennen, Milliarden dafür ausgeben, die Folgen des künstlichen Hungers zu kurieren. Es wird tausende Bewegungsstätten geben, die Milliarden verdienen, um den unnötigen Speckvorrat zu bekämpfen. Ein findiger Unternehmer, oder nur eine, des natürlichen Lebens überdrüssige Gesellschaft, wird sie Fittnesstudios taufen.

    Nicht Tag und Nacht werden den Alltag bestimmen, Diätpläne werden unseren Tagesablauf entscheiden, Kalorientabellen werden zum ständigen Begleiter, Therapiegruppen werden die Familie ersetzen, Diätärzte werden unsere besten Freunde.

    Nicht Gott wird verehrt, sondern makellose, computerretuschierte Supermodels werden vergöttert und Schönheitschirurgen werden diese neuen Götter erschaffen.

    In einer Zeit, in der eine erfolgreiche Jagd überleben bedeutet, haben Kalorientabellen keine Bedeutung.

    Jedoch in keiner Zeit füllen Träume hungrige Mägen.

    Jetzt ist auch das wohlige Hungergefühl in meinem Magen einem galoppierenden Mustang gewichen. Ein Gurgeln und Grollen - ähnlich dem Glucksen und Fauchen meiner alten, nach Entkalker schreienden Kaffeemaschine aus einer anderen Welt. Einer Welt, in der ein Daimler mehr bedeutet, als das Gefühl seine erste Robbe zu erlegen, mehr als das Gefühl in frischem, süß duftendem Gras zu träumen. Eine Welt in der „Freiheit und Abenteuer" ganze Generationen veränderte. Eine Zeit, in der das Absolute gilt und die Zukunft, bestimmbar, in jede Richtung steuerbar erscheint.

    Eine Zeit, die nichts weiß von mächtigen Wesen deren Gedanken Welten erschaffen und Welten zerschlagen.

    Die älter sind als alles Vorstellbare, älter als jede Galaxie und älter als das Universum. Wesen, die alle Zeiten überdauern werden, denen man mehr Namen geben wird, als es Sterne am Firmament gibt. Namen wie Zeus, Apoll, Shiva, Osiris und Tausend weitere.

    Oder einfach nur Gott.

    Wesen die auf Ungehorsam mit Sintfluten und Dürre antworten, Hochmut mit Heuschreckenplagen bestrafen und doch den gewaltsamen Tod von Millionen dulden. Die allmächtig, allwissend und doch oft blind zu sein scheinen.

    Wesen, deren Existenz nie zu beweisen sein wird und ihre Gegenwart doch allgegenwärtig ist.

    Eine Macht, die anleitet, Wege bereitet und doch den Ablauf der Dinge nicht beschränkt. Jene Wesen, die Hass und Zorn beschreiben und doch Güte und Verständnis fordern. Kreaturen, aus Himmel oder Hölle, die den Besitz eines Daimlers beschwören und doch die Zufriedenheit darüber versagen.

    Meine Tagträume reißen mich immer tiefer in ihren Schlund, ich muss mich von ihnen befreien, muss aufstehen, weg von meinem wohligen Himmelbett aus weichem Grass und warmen Moos. Muss mich erinnern, muss erwachen, einige Schritte gehen und mich befreien.

    Die Ruhe und Zufriedenheit greift wie eine riesige Hand nach mir und will mich wieder ins Land der Träume reißen.

    Langsam, einem vom Tode erwachten Zombie gleich, stehe ich auf.

    Zum erstenmal erfasse ich bewusst meine Umgebung: Nicht nur das herrliche Gras, das mich mit seiner Ruhe verschlingen will, nicht nur den Himmel, der mich mit seiner Zartheit verwirren will, nicht nur die reine, saubere Luft, die mich benebelt.

    Nein, ich bin in einem riesigen, menschenleeren Tal, das sich neben mir unendlich bis zum Horizont ausdehnt. Vor mir sehe ich Berge, riesige Berge, mit weißen gezuckerten Gipfeln und grünen Tälern.

    Während ich einige Schritte wage - auf Füssen, die sich anfühlen, als hätten sie seit Jahrhunderten keinen Körper mehr getragen - verändert sich meine Umgebung, langsam, unmerklich; aber ich bin sicher, sie verändert sich!

    Ganz nah, nur wenige Meilen entfernt, entdecke ich einen kleinen Laubwald. Eigentlich hätte ich ihn auch im Liegen sehen müssen!

    Jetzt im Stehen - mit meinen fremden Füssen - einige weitere Schritte wagend, erkenne ich immer mehr: Ein stiller See, eingerahmt von mächtigen Birken, die sich rhythmisch im Wind wiegen und von hohem Schilf am Ufer begleitet werden. Eine steht direkt im Wasser und ihre tiefhängenden Äste streicheln die glatte, tiefblaue Wasseroberfläche.

    Mit jedem Schritt erkenne ich mehr und jeder Meter weiter führt mich langsam aus meinen Tagträumen zurück ins Leben.

    Langsam verblassen die Visionen und geben den ersten Erinnerungen Raum. Mit dem Erwachen der klaren Gedanken kehrt auch die Angst zurück, wieder in die Traumwelt abzugleiten. Ich gehe schneller, immer schneller, beinahe laufe ich, um der Traumwelt zu entfliehen, um die Bilder abzuschütteln, die mich nicht loslassen wollen. Wie Spinnenbeine greift die Welt der Träume nach mir, wie Peitschenschläge fühle ich die Verfolgung, aber ich gebe nicht auf, nicht hier und nicht heute.

    Mit jedem Schritt nach vorne eilen mir die Erinnerungen entgegen und die Visionen verblassen. Immer schneller, ich renne, stolpere, überschlage mich, richte mich wieder auf und renne weiter, immer Richtung See, auf der Flucht vor den Träumen. Der See wird zum einzigen Gedanken, zum einzigen Ziel. Der See bedeutet Freiheit. Ja, „Freiheit und Abenteuer".

    Nein, jetzt ist es kein Traum. Ich weiß es wieder, kann mich genau erinnern, „Freiheit und Abenteuer", der Werbeslogan meiner Lieblingszigaretten. Ich träume nicht, ich kann mich an alles erinnern, der Bann des Wahnsinns ist gebrochen.

    Ich renne und renne, jetzt sind die Füße, die mich tragen, wieder die meinen. Ich erinnere mich an meine Kaffeemaschine, an meinen Daimler, an den Fahrstuhl. Ich rieche den See und laufe, laufe ins flache Wasser, kämpfe gegen meine eigene Welle, spüre das kühle Nass im Gesicht und als der Widerstand zu groß wird, lasse ich mich flach auf das aufgewühlte Wasser fallen.

    Erlebe wie mein Umhang sich füllt, rieche das Wasser, den feinen torfartigen Geruch nach Moor und Leben.

    Frei von Träumen, endlich frei.

    Langsam wate ich zurück ans Ufer, spüre den weichen Boden, sehe den aufgewirbelten Grund.

    Am sandigen Ufer streife ich meinen mittlerweile bleischweren, vollgesogenen Umhang ab, ziehe meine Stiefel aus und laufe sofort zurück ins befreiende Wasser, das Symbol der Freiheit und Erlösung.

    Schwimme, spüre das vorbeigleitende Wasser - Wasser, das mich am ganzen Körper umspült und streichelt.

    Wasser, das mich befreite!

    Mein Retter, mein Erlöser!

    Wie lange ich schwimme, weiß ich nicht. Als meine Kräfte nachlassen, kraule ich zurück, lege mich unter die Birke, welche mir den Weg in die Freiheit wies und schlafe in Minuten ein.

    3. Go to the West

    Das Erwachen nach einem traumlosen, tiefen Schlaf ist erleichternd und befreiend. Nackt und doch ohne Unterkühlung spüre ich den kühlen Morgen und das feuchte Gras und sehe die noch nieder stehende Sonne. Ich schätze, oder besser vermute, nach dem Sonnenstand, ungefähr zwanzig Stunden geschlafen zu haben.

    Mein Umhang und besonders meine Stiefel sind natürlich immer noch tropfnass. Anstatt sie achtlos hinzuwerfen, hätte ich sie gestern aufhängen sollen. Aber wie hätte ich auch noch daran denken sollen?

    Der erste Versuch meine tropfende Kleidung, möglichst in Richtung der noch schwachen Sonne, aufzuhängen, scheitert kläglich an der Auswahl eines zu schwachen Astes. Es ist unglaublich, wie schwer dieser nasse Umhang ist. Ich versuche erneut den Umhang über drei starke, parallel in Hüfthöhe gewachsene Äste zu spannen und zwei weitere Versuche später hängt er leidlich gegen die warme Sonne. Die hohen, von Nässe dunkel gefärbten Stiefel drapiere ich, beinahe kunstvoll, über einen kleinen Felsen.

    Langsam wird mir bewusst: mein gestriges Hungergefühl war keine Träumerei, sondern die harte Wirklichkeit. Ernährung ist das wichtigste meiner unzähligen Probleme, um das ich mich kümmern muss.

    Keine fünfzig Meter rechts neben mir entdecke ich einen dicht mit dunkelblauen, fast schwarzen Beeren bewachsenen Strauch. Der über zwei Meter hohe Busch ist dicht mit den beinahe kirschgroßen, exakt runden Früchten besetzt.

    Ich gehe auf den Strauch zu; erst jetzt überfällt mich die Angst, die Beeren könnten giftig sein. Im Kampf gegen die aufkeimende Panik, ich könnte verhungern, versuche ich mich an eine alte Fernsehsendung von Malcolm Douglas, den Abenteurer und Überlebenskünstler, zu erinnern.

    Wie war das noch?

    Dann sehe ich Malcolm Douglas vor meinem inneren Auge und mache es ihm gleich.

    Ich pflücke eine der saftigen Beeren und zerquetsche und zerreibe sie auf der unempfindlichen Außenseite meines Unterarmes. Nachdem sich nach mehreren Minuten, die mir wie Stunden erscheinen, keine Rötung zeigt, wiederhole ich den Versuch an der beträchtlich empfindlicheren Innenseite meines Unterarmes, nachdem ich auch hier nach einigen weiteren Minuten keine Hautreizung entdecke, verschärfe ich, wie im Fernsehen gezeigt, mein Experiment, indem ich eine neue Beere zerquetsche und diese unter meiner noch wesentlich empfindlicheren, linken Achsel verteile.

    Auch die neue Wartezeit will nicht vergehen. Immer und immer wieder bin ich versucht, hilfesuchend auf meine längst zerstörte, ach so geliebte Rolex Imitation zu starren.

    Da auch dieser Test hoffnungsvoll verläuft, entscheide ich mich jetzt zum Äußersten.

    Ich lege mir, wie ein Zirkusartist, eine aufgeplatzte Beere auf meine weit ausgestreckte Zunge und balanciere sie einige Sekunden. Starr vor Anspannung, warte ich auf ein verräterisches Brennen, aber nichts geschieht bis ich schließlich, die Ewigkeit nicht mehr ertragend und voller Heißhunger, die Frucht ohne zu kauen, gierig hinunterschlucke. Gelähmt durch ängstliche Panik, sie könnte doch giftig sein, spüre ich erst nach einer Pause den vollsüßen saftigen Geschmack.

    Welch ein Erfolg!

    Guter, alter Malcolm Douglas, Du hast mir das Leben gerettet.

    Die Beeren schmecken beinahe wie Brombeeren im Kleid einer Blaubeere. Die Struktur und das Fruchtfleisch erinnern mich an eine übergroße Johannisbeere, jedoch ohne Kerne, aber ihren Namen kenne ich nicht.

    Gierig schlinge ich sicher Hunderte der kleinen Lebensretter in mich hinein. Später wasche ich mich, Saft- und Fruchtfleisch verschmiert, im nahen See. Satt und frei fühle ich mich, wie Adam im Paradies.

    Langsam, mit dem gestillten Hungergefühl, konzentrieren sich meine Gedanken wieder auf andere Dinge.

    Wo bin ich? Was ist geschehen? Was soll ich tun?

    Mit immer höher steigender Sonne erwärmt sich auch die Umgebung merklich und meine Lebensgeister melden sich langsam zurück.

    Nach einem abkühlenden Bad im See überprüfe ich meine zwischenzeitlich leidlich getrocknete Kleidung und schon stellen sich die nächsten Fragen:

    Woher kommt diese Kleidung, die zweifelsfrei meiner Körpergröße entspricht, aber doch nicht die meine sein kann?

    Was soll das riesige Schwert, das mich brutal aus seiner Scheide anstarrt und mir das Gewicht meines Umhanges nach dem Erwachen erklärt?

    Trotz größter Mühen kann ich mich nicht mehr daran erinnern, ob das Schwert auch mein Begleiter im See war. Ich tröste mich damit, es könnte wohl so gewesen sein... Oder auch nicht.

    Dunkle Gedanken lassen mich noch zögern meinen Umhang mit der schweren Waffe, einem römischen Gladiatoren gleich, zu tragen. Das ganze Bild erscheint mir als zu barbarisch.

    Nach weiteren Minuten des Zweifelns entscheide ich mich schweren Herzens dann doch, mich vom nackten Adam zum furchteinflössenden Römischen Krieger zu verwandeln.

    Wie zum Trotz ziehe ich die Waffe - kampfbereit - aus der dunklen erdfarbenen, zierlosen Scheide. Eine Scheide, die sich so unterscheidet von den goldbestickten, mit Edelsteinen besetzten Hollywood-Requisiten, die ich als Kind im Kino so fasziniert bestaunte.

    Zum ersten Mal wage ich es, das Schwert genauer zu betrachten. Sitzend, es auf beide Beine legend, untersuche ich Zentimeter für Zentimeter den kalten Stahl. Ich ertappe mich bei dem lächerlichen Gedanken, ein Firmenemblem und den dazugehörigen Strichcode zu suchen, suche das Made in... und wundere mich über den dumpfen Glanz des tödlichen Stahls.

    Das einzige, was es zu entdecken gibt, sind unzählige Riefen und Einschlagspuren. Diese barbarische Waffe hat sicher schon oft getötet oder einen Feind verstümmelt, um ihn dem langwierigen Tod durch Verbluten, oder Wundbrand preiszugeben.

    Vor meinem inneren Auge laufen grausame Gemetzel, Ströme von Blut, schreiende Opfer, riesige Schlachtplätze, in bester Hollywood-Manier in Szene gesetzt, ab.

    Da ist es wieder. Das Gefühl der Angst, wieder in endlose Tagträume, aus denen es kaum ein Entrinnen gibt, abzugleiten. Auch hier bin ich nicht sicher vor den Träumen, ich muss weiter!

    Weiterziehen, ja - aber wohin?

    Mit Schrecken erinnere ich mich an meinen mangelnden Orientierungssinn und meine Unfähigkeit, mich außerhalb einer ständig beschilderten Großstadt zurechtzufinden.

    Bitter gestehe ich mir ein, gerade noch die vier Himmelsrichtungen zu kennen und bereits die Richtungsbestimmung stellt eine aufwendige Denksportaufgabe dar. Wie war das, die Sonne geht im Westen - nein im Osten auf, dann ist hier Süden. Erleichtert drehe ich mich im Kreis und zeige auf die Himmelsrichtungen, oder wo ich sie vermute.

    Stolz wie ein Schüler nach einer gelungenen Schulaufgabe griene ich einsam vor mich hin und warte auf die Belobigung eines Lehrers, den es hier nicht gibt und wahrscheinlich auch nie gab.

    Meine Marschrichtung ist damit immer noch ein Geheimnis. Ich überlege, welcher Richtung ich einfach folgen könnte und entscheide mich für Westen. Zugegeben, entscheidend waren die Amerikanischen Einwanderer, die ihre neue Heimat auch im Westen suchten.

    Aber Westen ist gut.

    Zur Proviantierung fülle ich meine Taschen randvoll mit saftigen Beeren, die mich, wie ich hoffe, auch genügend mit Flüssigkeit versorgen werden.

    4. Der Fremde

    Mein Entschluss der Sonne zu folgen, erweist sich als weitaus schwieriger, als ich dachte.

    Morgens hatte ich die Sonne im Rücken. Aber die Idee, am Vormittag meinem eigenen Schatten zu folgen, war nicht praktikabel und ab der Mittagszeit ist entgültig keine Orientierung mehr möglich.

    Nach und nach lerne ich nicht nach der Sonne zu gehen, sondern mir einen Punkt am Horizont, einen Hügel, Baum oder Felsen, in westlicher Richtung zu suchen und diesem unerbittlich zu folgen.

    Eine Sorge erweist sich als grundlos: Wasser und süße Beeren gibt es zu jeder Zeit reichlich. Nur meine Verdauung sorgt in peinlicher Regelmäßigkeit für Probleme: wegen den Bergen von Früchten, die ich in mich hineinstopfe und nur mit Wasser verdünne.

    In den nächsten Tagen beschleicht mich immer öfter die Angst, was in ein paar Tagen oder Wochen sein wird, wenn die Beeren ausgereift sind und vertrocknet vom Strauch fallen.

    Das Abschätzen der eigenen Leistungsfähigkeit und die dadurch optimierten Pausen und Marschzeiten werden immer effizienter. Zu meiner eigenen Überraschung gewöhne ich mich schnell an die monotone Regelmäßigkeit der Rast und Marschzeiten und Tag für Tag wächst die zurückgelegte Wegstrecke.

    Auch meine roh und grob aussehenden Stiefel erweisen sich als ausgezeichnete Wanderwerkzeuge. Sie sind weich, aber auch außerordentlich griffig, und der hohe Schaft schützt mich vorzüglich vor niederen Dornen und scharfen Grashalmen.

    Das schwere, unhandliche Schwert, das mich anfangs beim Gehen sehr behinderte, das ich bisweilen verzweifelt mit beiden Armen über dem Kopf, fluchend im Nacken trug, stellt kein Problem mehr dar. Der entscheidende Trick ist, den Takt beim Gehen, einem Betrunkenen gleich, dem Pendeln des Schwertes anzupassen.

    Die Angst vor den gefürchteten Tagträumen wird Tag für Tag schwächer. Jedoch achte ich in den Marschzeiten peinlichst genau darauf, nicht in Gedanken abzuschweifen und mein ausgesuchtes Peilobjekt fest im Auge zu behalten. Nach und nach entwickle ich mich zum wahren Meister im Nichtdenken.

    Nach wie vor habe ich nicht den Hauch einer Ahnung, wo ich mich befinde oder was ich hier soll. Ein Tal reihte sich an das andere. Jedes Tal gleicht dem vorigen; bisweilen glaube ich, im Kreis zu gehen.

    »Dieses Land muss wohl endlos sein.«, spreche ich laut zu mir selbst.

    Am sechsten Tag oder ist es erst der fünfte, versuche ich meine Schrittlänge zu schätzen und zähle meine Schritte. Am Abend erreiche ich wieder einen See, der sich, wie nicht anders erwartet, nur unwesentlich von den Gewässern der Vortage unterscheidet. Ich rechne mir aus und stelle erschreckt fest, dass ich bereits über zweihundert Kilometer in diesem seltsamen Land zurückgelegt haben muss, und das ganze ohne ein Anzeichen von Menschen, Zivilisation oder anderem Leben. Nicht einmal die immer lästigen Fliegen gibt es hier, die sonst jede Gelegenheit wahrnehmen, auf Rücken und Stirn ihre Schweißmahlzeiten einzunehmen. Keine Straßen, keine Wege. Auch die vertrauten Kondensstreifen der Flugzeuge in tausenden Meter Höhe sind nicht auszumachen. Dieses Land ist friedlich und wunderschön, und doch irgendwie leer und tot.

    Eine neue Angst reißt mich mit sich: Wenn ich der einzige Mensch, das einzige Lebewesen in diesem unendlichen Land bin, der einzige Mensch auf der Welt??? Was dann?

    Bin ich der erste Mensch? Aber wo bleibt Eva? Oder bin ich der letzte Mensch?

    Ja, ein Atomschlag, das Gleichgewicht der Kräfte, gegenseitige Abschreckung durch totale gegenseitige Vernichtung hatte versagt.

    Ja, so muss es sein! Die Menschheit ist ausgerottet und alles Leben ist tot.

    Ich bin der Einzige, der Letzte, der Verdammte, verurteilt als mahnendes Beispiel zu wandern bis ans Ende aller Zeiten.

    Welches Ende? Was ist am Ende? Wie ist das Ende?

    Verdursten und Verhungern, wenn keine Beeren mehr reif sind! Steht der Wahnsinn am Ende, wartet er schon auf mich? Lauert er im nächsten Tal, am nächsten See?

    Alleine, der Einzige, der Letzte.

    Am Ende, zerfressen von tödlicher Strahlung.

    Nicht der Wanderer, nicht der Römische Krieger, nur das radioaktiv verseuchte Mahnmal des Schreckens.

    Stop, Stop, Stop!!!

    Tagträume, nur Tagträume, das Land der Tagträume hätte mich beinahe wieder eingeholt.

    Nein, ein Atomschlag ist unmöglich. Ich betrachte meine Kleidung, die mir längst nicht mehr fremd ist. Auch mein Schwert, der bleischwere Begleiter, für den ich keine Verwendung habe, gehört genauso wenig zu mir wie die handgenähten Stiefel. Nein, nein, kein Atomschlag könnte meine Kleidung so verändern!

    Es muss etwas anderes geschehen sein.

    Vorsichtig, um nicht wieder in Tagträume abzugleiten, versuche ich meine Gedanken, die in alle Winkel meines Gehirns verstreut sind, zu sortieren, versuche mich zu erinnern.

    Ich habe Kaffee gemacht und mich für ein Marmeladenbrot entschieden, der Aufzug, mein Daimler, habe stolz meine erste Robbe erlegt und meinen Großvater im Büro besucht, der mir erklärt hat, Hausverwalter sei der undankbarste Job der Welt...

    Unsinn!

    Ich wollte mit meinem Daimler zur Arbeit fahren, mir wurde übel und ich musste mich übergeben, dann wachte ich auf einer mit Morgentau benetzten Wiese in dieser archaischen Kleidung auf.

    Bin ich tot?

    Das Paradies habe ich mir anders vorgestellt. Ein Paradies ohne Menschen, sogar ohne Leben. Ein „vegetarisches" irgendwie steriles Paradies und ich als einziges fleischliches Lebewesen?

    Auch meine stählerne, tödliche Waffe am Gürtel spricht dagegen.

    Was, wenn die Religion sich irrt, das Leben nach dem Tod eine unendliche Wanderung bis zum Ende aller Tage, bis zum Jüngsten Gericht bedeutet?

    Habe ich mir etwas vorzuwerfen? Wer wird mich richten und nach welchen Maßstäben, nach welchen Gesetzen? Wer wird mich verteidigen, meine teure, noch nie benötigte Rechtsschutzversicherung wird mir hier sicher nicht helfen. Wer wird für mich sprechen? Ist das Jüngste Gericht überhaupt ein Gericht, oder nur ein Gerücht, oder einfach die Erfindung der Kirche, um ihre Schäfchen, ihre vielleicht dummen Schäfchen, gefügig zu machen?

    Vielleicht urteilt man nur über mich, hört mich gar nicht an, aber ich habe ein Recht auf Verteidigung! Mein Gott, welches Recht?

    Meine Kirchenbesuche waren zugegebenermaßen sehr selten und das letzte Mal zur heiligen Kommunion.

    Abgesehen vom verhassten Klosterkindergarten - in dem wir Kinder, wie hilflose Schäfchen, mit nach vorne auf dem Tisch, auf unseren verschränkten Armen gebeugten Köpfen, unsere Mittagsruhe verbringen mussten und die strengen Augen der schwarzen Schwestern fürchteten - war ich ein schlechter Kirchengänger. Ach, wie hasste ich die selbstherrlichen, selbstgerechten und ungerechten, alles besserwissenden, schwarzen Schwestern. Noch lange, bis zu meinem zwölften Lebensjahr, träumte ich von ihren geröteten, alten, bösen Augen und an Spinnenbeine erinnernden faltigen Händen.

    Mein Kirchenaustritt - mit zweiundzwanzig Jahren, um letztendlich nur Steuern zu sparen - wird meine Lage vor dem Jüngsten Gericht sicher auch nicht verbessern, aber wenigstens konnte ich mit dem Austritt ein dunkles Kapitel meiner Kindheit abschließen.

    Ansonsten war ich aber doch ein ordentlicher Mensch, oder?

    Bis auf ein paar Notlügen - die meisten um die Schule oder später die Arbeit zu schwänzen, um ungeliebte Arbeit einem Kollegen zuzuschieben oder ein paar Biere bei einer Alkoholkontrolle runterzurechnen - habe ich niemanden belogen oder betrogen.

    Wenigstens nicht mit Absicht.

    Absicht, na ja, meinen Chef habe ich, nach durchzechter Nacht schon belogen: Da habe ich mich doch des Öfteren krank gemeldet. Aber krank ist, wenn man sich körperlich gebrechlich fühlt; genau wie eben nach einer Kneipentour. Sich krank zu melden, ist demnach nicht einmal eine Lüge, sondern die reine Wahrheit oder wenigstens beinahe.

    Toll, der erste Teil meiner Verteidigung ist abgehakt.

    Wie ist es aber mit meinen mangelhaften Kirchenbesuchen? Das dürfte kein Problem sein: Kirche ist nicht gleich Glauben!

    Glauben, da ist mein Problem! - Habe ich den richtigen Glauben? Hinduismus, Buddhismus, christlicher Glaube oder der Islam oder doch besser das Judentum. Wie soll man da noch den Überblick behalten und sich richtig entscheiden?

    Genau die große Auswahl hat verhindert, dass ich mich entschieden habe. Für das Thema „mangelnder Glaube" habe ich nun auch die richtigen Argumente oder wenigstens Ausreden.

    Meine Verteidigung steht, wenn, ja wenn, ich mich verteidigen darf.

    Keine schlechte Ausgangsbasis. Außer, Ja... außer, wenn es stimmt, und Gott uns ins Herz schauen kann, dann, ja dann ist meine ganze Notlügenkonstruktion nutzlos.

    Mein Gott, wie soll man sich auf eine Verhandlung vorbereiten, wenn... wenn einem niemand...

    Ein Geräusch, so natürlich wie bedrohlich, wirft mich jäh aus meinen Gedanken zurück in die neue, undurchschaubare Realität.

    Zum erstenmal, seit ich hier bin, höre ich dieses Geräusch: einen Ton, den ich sicherlich schon tausende Male, ohne ihn zu beachten, hörte. Ein Laut, der in meiner Welt keine Bedrohung darstellte, aber hier, in dieser stummen und toten Welt, ist das Geräusch so unnatürlich, so erschreckend.

    Ich umklammere mit übermenschlicher Kraft den Knauf meines Schwertes. In mir explodiert die Angst... Ich habe keine Ahnung und keinerlei Erfahrung - außer den unzähligen Ritterfilmen, die Lieblingsfilme meiner Kindheit - im Umgang mit der mir so fremden Waffe.

    Prinz Eisenherz wäre jetzt der richtige Freund oder König Artus und seine Tafelrunde.

    Wieder das furchterregende Geräusch, das Geräusch von brechenden, zersplitternden Ästen. Äste, die unter dem Druck gewaltiger Füße oder sogar Pfoten zerbrechen.

    Ich ducke mich, wie im Kriegseinsatz, hinter einen der unzähligen niederen Büsche, verfluche das schlagende Geräusch meines Schwertes gegen einen kleinen Felsen und zittere, still der Dinge harrend.

    Die Zeit verrinnt und ich wage nicht zu atmen, spüre die gewaltigen pumpenden Schläge meiner Hauptschlagader am Hals, bewege mich nicht mehr, spüre den Druck in meiner Blase ausgerechnet jetzt urinieren zu müssen und kämpfe gegen den Harndrang an. Erst jetzt erkenne ich das Problem, mein Schwert in gebückter Haltung nicht ziehen zu können.

    Wieder das deutliche Splittern von Holz; immer näher und doch kann ich nichts erkennen.

    Old Shatterhand, der Held meiner Kindheit, hätte sofort erkannt welches Tier, Rothaut oder Bleichgesicht sich ihm näherte, hätte sicher seinen Bruder Winnetou an seinen Schritten erkannt, mir aber drückt die nackte Angst den Adamsapfel gegen den Gaumen. Ich kann nicht einmal erkennen, wie viele Füße - zwei oder vier - das Grauen hat. Die Trockenheit zwischen Zunge und Rachen gleicht der Dürre der Sahara.

    Jetzt glaube ich etwas zu erkennen.

    Mein Rücken verspannt sich und jede einzelne Bandscheibe, geschädigt durch jahrelange Bürofolter, bäumt sich gegen den einseitigen Druck der ziehenden Muskulatur auf.

    Träume ich schon wieder?

    Nein, diesmal ist es kein Traum, die Panik ist begründet, die Angst real.

    Ich kann nichts erkennen. Es ist absolut still, ich spüre oder besser ich höre jeden Pulsschlag in meinen Ohren klopfen und jeder Pulsschlag endet mit einem Paukenschlag auf mein geplagtes Trommelfell.

    Nichts zu hören, absolut nichts!

    Meine Panik weicht langsam einer tiefen, bohrenden Unsicherheit. Habe ich mir alles nur eingebildet, oder werde ich langsam verrückt?

    Robinson Crusoe hielt viel länger in der Einsamkeit durch. Aber Crusoe war nur eine von Daniel Defoe in Worten gefasste Fantasie; nicht real, nicht wirklich.

    Bin ich, überhaupt real, bin ich wirklich?

    Mir fällt ein, Daniel Defoe hat die Geschichte nicht frei erfunden, sondern nur die wahren Erlebnisse eines Fischers ausgeschmückt und ausgezeichnet nacherzählt. Vielleicht entsprechen auch die langen, durchgehaltenen Jahre Robinson Crusoes der Wahrheit und ich werde nicht verrückt, habe noch eine Chance.

    Minutenlang lausche ich und versuche erfolglos die Dunkelheit zu durchbrechen. Im Vollmond könnte ich sehen, aber jetzt? Keine Chance. Der Mond, Neumond, Vollmond, es gibt keinen Mond. Auch die letzten Nächte waren dunkel und tief schwarz.

    Es gibt hier keinen Mond! Die Tatsache erschreckt mich mehr, als die Dunkelheit.

    Phantasiere ich schon wieder? Nein, das Traumland ist weit weg, alles ist echt. Ich höre nur die Stille. Und hier ist nichts!!

    Der Trommelwirbel in meinen Ohren wird langsamer und sachter und auch der Druck in meiner Kehle lässt langsam nach.

    Habe ich mir doch alles nur eingebildet?

    Diese Nacht verbringe ich in leicht gebeugter, angespannter Haltung und auch von meinem Schwert möchte ich mich nicht trennen. Es gibt mir Halt und Sicherheit, auch wenn ich zugeben muss, im Ernstfall wäre es mir sicher mehr hinderlich, als hilfreich.

    Um jederzeit kampfbereit zu sein, lege ich es neben mich und behalte den Knauf fest in der rechten, schweißnassen Hand.

    Mit weiteren Anstrengungen in der Stille doch noch ein Geräusch wahrzunehmen, falle ich in einen unruhigen, durch wirre Phantasien immer wieder unterbrochenen, wenig erholsamen Schlaf.

    Der neue Morgen begrüßt mich mit einem hellen Strahlen. Das Licht ist mein Befreier, mein Retter, nichts Schöneres könnte ich mir nach der schwarzen, nicht enden wollenden Nacht vorstellen.

    Die warmen Strahlen der Sonne pflegen meine gedehnten Sehnen und Gelenke und allmählich schafft es mein starrer, leicht unterkühlter Körper sich von den nächtlichen Strapazen zu befreien und ich bewege mich ein paar Schritte Richtung Wasser.

    Heute fällt mir das tägliche Bad im See schwer und ich überlege schon die Erfrischung ausfallen zu lassen.

    Nach den ersten Schwimmzügen ist dieser Gedanke vergessen: Zug um Zug erholt sich mein Körper, die Gedanken befreien sich von den Fesseln der durchwachten Nacht und das Gefühl der Freiheit und Zufriedenheit scheint alles zu beherrschen.

    Wieder zurück am Ufer, nach meinem obligatorischen Beerenfrühstück, wage ich einen neuen Versuch meine Situation zu analysieren. Ich muss einfach wissen, was hier vorgeht!

    Jeder Tag und jeder Morgen ist gleich. Bis auf wenige Kleinigkeiten gleicht ein Tag dem anderen; ich weiß nicht einmal mehr, wie viele Tage ich bereits durch dieses seltsame Land wandere.

    Geht es mir wie Bill Murray im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier"? Ich habe den Film bestimmt hunderte Male auf Video gesehen, na ja, wahrscheinlich doch nur zehn oder fünfzehn Mal.

    Geht es auch mir so? Drehe auch ich mich im Kreis und ein und der selbe Tag, beginnt täglich neu? Bin ich dazu verdammt oder ausersehen, täglich im See zu baden und mich für immer von den immer gleichen Beeren zu ernähren?

    Es stimmt, jeder Morgen ist gleich, jeder Tag ist gleich. Aber er ist nicht der selbe.

    In den Anfängen der Filmkunst - ohne Blue Box, Videoleinwand und digitaler Nacharbeit am Computer, noch tonlos und in schwarzweiß - erfanden ideenreiche Filmemacher den einfachen, wie effektvollen Trick im Studio einen fahrenden Zug in realistischer Bewegung darzustellen.

    Eine detailgetreu bemalte Leinwand wurde endlos am Fenster abgespult. Somit hatte der Zuschauer den Eindruck von vorbeirasenden Landschaften. Die nach einiger Zeit sich wiederholende Szene bemerkte er nicht.

    Bin auch ich Gast in einem endlosen, sich wiederholendem Film?

    Sicher, täglich wechseln die Landschaften, aber im Grunde sind sie doch immer gleich. Der See, das Ufer, mein Lagerplatz, einmal größer, einmal kleiner: aber doch immer gleich.

    Ich packe, in dem Bewusstsein jetzt keine Antwort zu finden, die Fragen beiseite und konzentriere mich auf die Erlebnisse der letzten Nacht. Ich muss klären, in wie weit ich nur träumte oder mich tatsächlich ein nächtlicher Besucher beobachtete.

    Woher kamen die Geräusche? Ich schließe die Augen und versuche mich zu erinnern. Wie auf Befehl erhöht mein Herzmuskel seine Taktfrequenz, mein Trommelfell beginnt zu pochen und die angespannte Angst ist wieder deutlich zu spüren.

    Jetzt bin ich mir sicher, hinter dem Strauch, den ich gestern systematisch abweidete, waren die Geräusche.

    Ich kämpfe mich durch das Dickicht hinter dem Strauch. Zerquetschte Beeren kleben an mir, obwohl ich sicher bin, den Strauch gestern bis auf die letzte Beere geleert zu haben.

    Diesen Widerspruch verwerfend, oder nur verdrängend, mühe ich mich weiter durch tausende alter, trockener Äste. Das Dickicht stellt sich mir gleich einer mit Stacheldraht geschützten Kasernenmauer entgegen. Ein Schutzwall aus dem Gewirr unzähliger, abgestorbener Äste, mit frischem Holz undurchdringlich verwoben. Eine perfekte Statik der Natur, die jedes Weiterkommen unmöglich macht.

    Enttäuscht trete ich den Rückzug, den einzigen gangbaren Weg, an.

    Ich entscheide, dem Geheimnis aus der anderen Richtung auf die Spur zu kommen.

    Das Umgehen des kleinen Wäldchens bereitet keine Probleme. Ich achte genau darauf, die Orientierung nicht zu verlieren, um exakt hinter der Sträucherwand meine Suche fortsetzen zu können. Eine Suche, deren Ergebnis die Schrecken des Wahnsinns oder die Angst nicht alleine zu sein, bringen wird.

    Ich nähere mich mit größter Vorsicht, um keine Spuren zu vernichten oder wie Robinson Crusoe auf seine eigenen hereinzufallen, suche fieberhaft nach geknickten Zweigen, bis mir einfällt, mein nächtlicher Besucher hätte die Äste sicherlich, wie auch ich, nur gestreift und nicht in Hüfthöhe abgeknickt. Guter alter Karl May, bei Dir gab es immer einen geknickten Strohhalm, oder besser ein verlorenes Taschentuch, das den Weg markierte oder die Spur verriet. Aber ich, ich kann nichts entdecken.

    Meter um Meter mühe ich mich über den durch hohe Bäume in zartes, goldenes Dämmerlicht getauchten Waldboden.

    Wenige Meter vor meinem vermuteten Ziel gehe ich zu Boden, die Augen direkt über dem Waldboden und suche die Umgebung Zentimeter für Zentimeter akribisch ab. Ein Fährtenhund hätte sicher in mir seinen Meister gefunden.

    Da ist er, der Beweis, den ich mit aller Kraft herbeisehnte: Ein kleiner Ast, keinen Zentimeter dick und in der Mitte gebrochen. Ehrfürchtig, mit rasendem Herzen und hämmernden Puls, hebe ich meine Trophäe auf und trage sie aus dem Dämmerlicht ins Freie.

    Mit zitternden Händen betrachte ich meinen Fund. Die Bruchstelle strahlt frisch und saftig in der hellen Morgensonne. Der Fund des Heiligen Grals wäre sicher nichts gegen meinen Schatz. Immer wieder drehe und wende ich meine Kostbarkeit, als wartete ich auf ein Wunder oder einen Geist - einen Gin - der mir alles erklärt und mich fragt, welchen Wunsch ich hätte. Aber die Botschaft ist eindeutig.

    Ich bin nicht alleine!

    Es gibt noch anderes Leben in dieser unendlichen Kulisse, in der Welt der Wiederholungen.

    Ich habe keine Zweifel oder vielleicht auch nur den Wunsch mein nächtlicher Besucher möge auch nur ein friedlicher Wanderer sein.

    Jede Zelle in meinem Körper ist sich sicher: Kein Tier! Ein Mensch, ein Freund, ein Verbündeter.

    Der Gedanke einen Verbündeten zu brauchen, macht mir erneut Angst. Hier gibt es keine Gefahren, alles ist friedlich und ruhig. Im Paradies gibt es nichts gefährliches, rede ich mir ein.

    Mein Schwert, die Verkörperung von Gefahr, lehnt friedlich am Felsen, dicht am Lagerplatz. Wie ist eine so tödliche Waffe im Paradies möglich? Im Paradies der endlosen Kulisse.

    Mich aus meinen Gedanken zwingend, beschließe ich, meinen Marsch nach Westen hier zu beenden.

    Nach einem zweiten Beerenfrühstück, an das sich mein Magen und Darm zwischenzeitlich gut gewöhnt hat, gehe ich zu der mir liebgewonnenen Tagesordnung über.

    Ein ruhiges, aber ausgiebiges Bad im vormittäglichen See belebt mich auf wundersame Weise. Auch dieser See ist - nach Wochen - wie der erste. Ja, eine andere Uferlinie und auch andere Pflanzen am Ufer, der gestrige See hatte sogar eine kleine Insel... und doch irgendwie der gleiche.

    Nach der Seemitte wende ich und begebe mich auf den Weg zurück zum Ufer. Jetzt sind es noch etwas mehr als zweihundert Meter, aber die kleine Bucht vor meinem Lagerplatz hat sich verändert.

    Nein, nicht verändert!

    Irgend etwas, irgend jemand steht unmittelbar am Wasser.

    Explosionsartig überschwemmt mich ein Strom Adrenalin und auch die beginnende Kühle in meinem Körper verwandelt sich in einen blitzartigen Wärmeschub.

    Sofort stelle ich jede Schwimmbewegung ein und beobachte die kleinen, von mir ausgehenden Wellen, bis sie den Strand erreichen und den weichen Sand zart streicheln, aber in Gedanken sehe ich riesige Brecher, die an Land branden und mich verraten.

    Ich weiß, ich wurde längst entdeckt und der Fremde lässt mich nicht mehr aus den Augen. Aus diesem Wasser kann ich ihm nicht entkommen. Trotz größtem Wiederstreben setze ich meine Schwimmbewegungen fort, jedoch noch langsamer und bedächtiger als vorher.

    Mit jeder Bewegung erkenne ich mehr Details des Fremden.

    Ein Mann, der nicht unpassender gekleidet hätte sein können. Deutlich erkenne ich einen riesigen, tiefschwarz glänzenden Zylinder und einen makellos sitzenden Anzug oder Frack, wie ich ihn nur aus alten Filmen kenne.

    Auf den letzten zwanzig Metern entdecke ich einen hageren, großen, aufrechtstehenden, nicht mehr ganz jungen Gentleman - eine andere Bezeichnung fällt mir nicht ein - mit vollem, leicht ergrautem Bart und die Würde dieses Mannes liegt deutlich in der Luft.

    Ich kenne diesen Mann, natürlich kenne ich ihn.

    Ein heftiger Schlag gegen mein linkes Knie zeigt mir schmerzhaft an, ich habe das Ufer bis auf wenige Meter erreicht.

    Der Mann mustert mich ruhig, durchaus nicht unfreundlich, ohne ein Wort zu sagen und ohne eine Bewegung.

    Langsam weicht meine Angst einer panischen Unsicherheit. Splitternackt, bäuchlings, in nur fünfzig Zentimeter tiefen Wasser vor einem Präsidenten zu liegen...

    Vor Abraham Lincoln.

    Meine Scham lähmt mich beinahe bis zur Bewusstlosigkeit. Ich winde mich wie ein Fisch in einem auslaufenden Aquarium.

    Ich kann nicht aufstehen, nicht vor und nicht zurück und mich auch nicht einfach im aufgewirbelten Wasser auflösen. Ich bin gefangen. Ein Gefangener des Präsidenten der Vereinigten Staaten.

    Gefangen wie hinter meinem Daimler, ausgesetzt der Schmach und der Peinlichkeit, harre ich der Dinge, die diese Welt für mich bereithält.

    Die vielen Tage des alleine seins, nahmen mir jede Scham. Jetzt überrollt sie mich wie eine Lawine.

    Nackt vor einem Präsidenten, vor diesem Präsidenten!

    Ich sitze fest in meinem Schlammloch, nackt, nur vom grauen Moorwasser umspült, vor Abraham Lincoln. Mein Gott, lasse es einen Tagtraum sein, lass mich aufstehen und wieder alleine sein. Mein Gott, hilf mir!

    Die Schritte Abraham Lincolns zurück zu meinem Lagerplatz, holen mich in die Wirklichkeit zurück. Nein, das kann nicht sein, ich muss mich irren.

    Ein Mann, der wie kein anderer, gute Geschichte schrieb, die Welt für immer veränderte, ein Mann der... zu meinem Lager geht, meinen Umhang über seinen rechten Unterarm legt, zum Wasser zurückkehrt und ihn in bester Butlermanier vor mir ausbreitet.

    In Sekundenbruchteilen springe ich aus meinem Gefängnis und werfe mir, leicht zur Seite gedreht, den Umhang über.

    Zu mehr als wiederholtes Stammeln, »Sir, Sir«, ist meine, vom Schock gelähmte Zunge und mein ausgetrockneter Gaumen nicht fähig.

    5. Land des Vergessens

    Am Lagerplatz angekommen, versuche ich meine unpassende Kleidung vergeblich durch meine Lederstiefel etwas zu verbessern. Ich unternehme sogar den sinnlosen, wie auch lächerlichen Versuch, die Schnürung besonders gleichmäßig zu binden.

    Wortlos nimmt Abraham Lincoln neben mir auf einem kleinen Felsen Platz, besonders darauf bedacht, die Entfernung zu meinem Schwert so groß wie möglich zu halten.

    Hätte mein Besucher nicht das Wort ergriffen, ich bin sicher, ich hätte bis ans Ende aller Zeiten geschwiegen.

    Formvollendet stellte er sich mit einer leicht erhebenden Bewegung, ohne Titel und Ämter, einfach nur als Rechtsanwalt Abraham Lincoln vor.

    Ich versuche meinen unbedeutenden Namen möglichst unscheinbar, leise zu nuscheln und deute eine leichte Verbeugung an, immer mit der Angst im Kopf unter meinem Umhang noch nackt zu sein.

    Nackt vor dem Präsidenten der Vereinigten Staaten! Ich hoffe oder bete immer noch, nur aus einem peinlichen Traum zu erwachen. Wie schön wäre es jetzt, in meinem Bett aufzuwachen und den Traum mit einem kalten Glas Cola hinunterzuspülen und abends in der Stammkneipe die tolle Geschichte nach einigen Gläsern Bier zum Besten zu geben.

    Welch ein wunderbarer Gedanke, aber ich bin hier, auch wenn ich nicht weiß warum und zittere vor Scham und Unsicherheit.

    Langsam wird mir bewusst, ich trage seit einer Woche keine Unterwäsche mehr und auch den Umhang nur tagsüber zum Schutz vor der Sonne.

    Abraham Lincoln gibt mir ein Zeichen mich zu setzen.

    »Sir, es ist nicht notwendig Euren Namen zu verbergen, der Eure ist sicher nicht weniger ehrenwert, als der meine.«

    Die Blutröte schießt mir ins Gesicht, dieser Mann durchschaut meine Unsicherheit, liest in meinen Ängsten, wie in einem offenen Buch.

    Nein, der Mann ist kein Hellseher, meine Ängste sind nur so offen, es bedarf nichts Übersinnliches, um mich zu durchschauen.

    »Sir ich, ich wollte nicht...«, stottere ich.

    Auch diesen kläglichen Versuch mich zu rechtfertigen, bricht er mit einer beinahe zärtlichen Handbewegung ab. Ein Lächeln blitzt um seinen bartumrundeten Mund und seine Augen verengen sich zu einem freundlichen Großvatergesicht.

    Dieser Mann strahlt ein Gefühl von Stärke und Geborgenheit aus, wie ich es noch nie bei einem Menschen erlebt habe.

    Unwiderruflich spüre ich, dieser Mann ist kein Fremder und auch kein Feind, dieser Mann ist ein Freund, nicht nur der einzige in dieser Welt, sondern auch der beste Freund, den ich je hatte.

    Auf meine Kleidung blickend, fragt er: »Eine interessante Kleidung die Ihr tragt, Sir. Wie lange seid Ihr schon hier? Ich habe Euch erst vor zwei Tagen entdeckt.«

    Ich überlege kurz, dann antworte ich: »Ja Sir, Sir, ähm Sir, ich glaube, ich bin sechs oder sieben Tage oder Wochen hier, Sir oder so, Sir.«

    Mit einem noch breiteren Lächeln erklärt er mir, ich bräuchte nicht nervös zu sein und auch meine Angst vor ihm wäre unbegründet, er wäre auch nur ein Wanderer durch die Welten.

    Ein Wanderer... auch nur... auch nur ein Wanderer durch die Welten, schießt es mir durch den Kopf. Auch er verwendet das Wort, das Wort das mir seit Tagen durch meine armen Gehirnzellen jagt.

    Vielleicht bin ich doch nicht verrückt!

    Außer »Ja, Sir,« und »Selbstverständlich, Sir,«, bringe ich keine weiteren Worte über meine Lippen.

    Mit nachdenklicher Miene, den Kopf leicht nach unten gebeugt, erklärt er mir in beispielhafter Ruhe: »Ihre seltsame Kleidung könnte ich noch verstehen, aber der kurze Aufenthalt, wie Ihr behauptet, passt nicht zu Eurer Kleidung. Ihr müsstet mindestens dreihundert oder besser vierhundert Jahre hier sein und nicht wie Ihr sagt, wenige Tage oder Wochen! - Ich selbst bin über zweihundert Jahre hier.«

    Den Schrecken, der mein Gesicht verzerrt, bemerkt er sofort.

    »Wusstet Ihr das nicht?« fragt er.

    Ich schüttle nur den Kopf. Auf mein unhöfliches, aber verzweifeltes Kopfschütteln reagiert er nur mit einem ebenfalls langsamen Kopfschütteln Richtung Ufer.

    Lange sitzt er nur schweigend, den Blick auf den ruhigen See gerichtet, auf seinem Stein. Von Zeit zu Zeit knetet er gedankenverloren seine Hände, um Augenblicke später wieder zu erstarren und den See weiter schweigend zu fixieren.

    In mir wächst der Verdacht, auch er droht, in die schrecklichen Tagträume zu versinken, doch nach einem endlos tiefen Atemzug, schaut er mich lang an und sagt: »Sir, ich glaube etwas ist schiefgegangen. Ihr gehört nicht hierher. Ich bin schon lange hier oder auch wieder nicht; für mich hat man im Augenblick nur diese Verwendung, aber Ihr seid hier falsch.«

    »Ja Sir, Ihr habt Recht, ich gehöre nicht hierher. Ich weiß nicht einmal, wo ich bin, wer ich bin, oder wann ich bin. Immer wieder träume ich von einer Kindheit, die ich so niemals hatte oder von Verwandten, die nicht einmal in meinem Jahrhundert lebten. Alles ist wie in einem Albtraum«, sprudelt es wie ein Wasserfall aus mir heraus und ich bin froh, meine quälenden Fragen endlich einem Menschen stellen zu können, auch wenn ich mir keine Antworten erwarte. Oder vielleicht doch?

    Lincoln beugt sich zu mir und erklärt mir energisch: «Sir, Ihr hattet keine Albträume! Im Land des Vergessens gibt es keine Albträume. Eure Träume sind nur Eure Erinnerungen.«

    »Das kann nicht sein! Ich träumte von einer Kindheit - vor hunderten von Jahren - im ewigen Eis und als Erwachsener lebe ich dann im einundzwanzigsten Jahrhundert... das kann nicht sein, das gibt es nicht!« falle ich ihm unhöflich und barsch ins Wort.

    »Du hast Recht, es kann nicht sein und doch ist es so. In einer anderen Zeit oder in einer anderen Welt ist es möglich. Du bist im Land des Vergessens, nur... nur... Du dürftest nichts von Deinen anderen Ich’s wissen, Du dürftest Dich nicht erinnern. Warum Du Dich erinnerst, kann ich nicht sagen!« seufzt er, mit echter Anteilnahme.

    »Ich verstehe das nicht, Sir, wollen Sie mir erzählen, ich bin wiedergeboren oder so?« frage ich.

    »Ja, so ähnlich, aber Du bist trotzdem immer Du selbst.«

    »Das begreife ich nicht, Sir: Sind Sie auch wiedergeboren?«

    Lincoln belustigt: »Ja sicher, bestimmt schon tausende Male oder mehr, aber ich kann mich an meine anderen Ich’s nicht erinnern. Ich bin nur Rechtsanwalt Abraham Lincoln, Sohn von Tom Lincoln, am 12. Februar 1809 in Kentucky geboren.«

    »Aber Sir, Sie sind oder waren Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika,« sage ich verzweifelt.

    »Davon weiß ich nichts«, erwidert er ungewöhnlich scharf.

    »Aber Sir, Sie beendeten die Sklaverei. Sie verursachten einen Krieg zwischen dem Norden und dem Süden.«

    Leise füge ich noch »Bürgerkrieg« hinzu, dann schweige ich. Meine Gedanken purzeln durcheinander, was habe ich da gesagt? Mit welchem Recht spreche ich über Dinge, von denen ich nicht einmal ansatzweise eine Ahnung habe. Mein Ton gegenüber dem Präsidenten war so, sicher nicht angebracht.

    Abraham Lincoln richtet sich langsam auf und beginnt langsam, fast wie in Trance, zu sich selbst zu sprechen.

    »Ja, gegen die Ausbeutung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit habe ich gekämpft. Ich erinnere mich dunkel, an einen meiner Sätze:

    „DA ICH KEIN SKLAVE SEIN MÖCHTE; WILL ICH AUCH KEIN SKLAVENBESITZER SEIN. DIES DRÜCKT MEINE VORSTELLUNG VON DEMOKRATIE AUS".

    Ich erinnere mich auch an meinen Vater, ich glaube, er war Schreiner. Seltsam, ich kann mich kaum mehr an seinen Beruf erinnern. Aber von einem Krieg weiß ich nichts! Nein, ich habe noch nie Krieg geführt, ich habe Gewalt immer abgelehnt!« philosophiert Abraham Lincoln, der mir jetzt bedeutend älter erscheint und ich glaube zu bemerken, wie seine Ausdrucksweise immer legerer wird. Ja richtig, er spricht mich seit einigen Sätzen mit „Du" an und nicht mehr mit dem seltsamen Sir. Ich jedoch bleibe bei dem höflichen Sir, nachdem ich mich langsam daran gewöhne.

    »Sir, da müsst Ihr Euch irren« widerspreche ich.

    Abraham Lincoln setzt sich wieder, genauso bedächtig

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