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Felsenmond: Roman
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eBook259 Seiten3 Stunden

Felsenmond: Roman

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Über dieses E-Book

Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an die jemenitische Frau. An ihren Mut zu träumen, ihren Willen zu kämpfen, ihre Bereitschaft Kompromisse zu schließen und ihre erschreckende Leidensfähigkeit.
Erzählt wird die Geschichte von fünf jungen Frauen, die beispielhaft veranschaulicht, wie in einer traditionell islamischen Gesellschaft die existenziellen Fragen nach der eigenen Identität, der Rolle innerhalb der Gesellschaft und dem Stellenwert der Liebe durchlebt und durchlitten werden: Sausan wird zum Studienabbruch gezwungen, weil sie einen Kommilitonen liebt, Latifa wird gegen ihren Willen verheiratet und Malika gerät in Gefahr, weil sie es wagt, staatliche und religiöse Instanzen zu hinterfragen. "Felsenmond" gibt tiefe Einblicke in die jemenitische Gesellschaft, fordert zum Mitbangen und Mithoffen auf, entlarvt Formen individueller und kollektiver Schuld und zeichnet doch zarte Hoffnungsspuren.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum11. Dez. 2018
ISBN9783742711908
Felsenmond: Roman

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    Buchvorschau

    Felsenmond - Jasmin Adam

    Zum Buch:

    Jemen, kurz vor dem Arabischen Frühling: Fünf junge Frauen träumen von einer besseren Zukunft, doch die Herausforderungen scheinen unüberwindbar. Sausan wird zum Studienabbruch gezwungen, weil sie einen Kommilitonen liebt, Latifa wird gegen ihren Willen verheiratet und Malika gerät in Gefahr, weil sie es wagt, staatliche und religiösen Instanzen zu hinterfragen. Felsenmond gibt tiefe Einblicke in die jemenitische Gesellschaft, fordert zum Mitbangen und -hoffen auf, entlarvt Formen individueller und kollektiver Schuld und zeichnet doch zarte Hoffnungsspuren.

    Leider haben sich auch im Jemen die großen Erwartungen auf Wandel nicht erfüllt und die Hauptleidtragenden des anhaltenden Krieges sind Kinder und Frauen. Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an die jemenitische Frau: An ihren Mut zu träumen, ihren Willen zu kämpfen, ihre Bereitschaft Kompromisse zu schließen und ihre erschreckende Leidensfähigkeit.

    Zur Autorin:

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    Jasmin Adam hat als Islamwissenschaftlerin zehn Jahre mit ihrer Familie im Jemen gelebt und gearbeitet. Seit 2010 wohnt sie wieder in der Nähe von Freiburg, wo sie in ihrer Freizeit als Autorin und Dolmetscherin tätig ist.

    Mondsüchtig

    Hast du den Mond gesehen?

    Er scheint so seltsam nah.

    Als könnt ich zu ihm gehen,

    als wär ich fast schon da.

    Spürst du den Zauber nicht,

    in dieser stillen Nacht?

    Mondschein im Angesicht,

    rings her der Sterne Pracht.

    Die Luft ist süß und mild

    und schmeckt nach Sommertraum,

    das Dunkel wie ein Schild,

    gibt den Gedanken Raum.

    Als ob sie Flügel hat,

    schwebt meine Seele fort,

    ist weder müd noch matt,

    schwingt sich von Ort zu Ort.

    Ach, blieb die Zeit doch stehen!

    Sonne, was brauch ich dein?

    Kann ich den Mond nur sehen,

    bin ich nicht mehr allein.

    Kaktusfeigen

    „Latifa! Latifa, komm! Schnell!" Die grelle Stimme ihres Bruders riss Latifa aus ihrer Versunkenheit. Seufzend löste sie ihre Augen vom Horizont und zwang ihre wild streunenden Gedanken in die Gegenwart zurück. Latifa konnte es sich selbst nicht erklären, aber immer wenn sie auf das Flachdach hinaus trat, wanderten ihre Blicke unwillkürlich zu dem einen markanten Felsen, der sich schroff von der Bergsilhouette am Horizont abhob. Als ob ein Zauber von dort ausginge und ihr irgendwann ein geheimes Zeichen geben müsse. Ein Zeichen nur für sie, das alles schlagartig verändern würde. Etwas Erhabenes, Unwiderrufliches, etwas, das sie aus der Eintönigkeit ihres Daseins herauszuholen vermochte. Latifa wusste selbst nicht, auf wen oder was sie wartete – sie wartete einfach. Meist unbewusst und selbstverständlich, manchmal bewusst und ungeduldig. Diese undefinierbare und doch alles bestimmende Sehnsucht war ein untrennbarer Teil ihrer selbst, war ihr engster Vertrauter geworden.

    „Latiiiifa!" Nur ein leichtes Zucken um ihre Mundwinkel verriet Latifas Unwillen, als das schlanke Mädchen ihr Wäschebündel mit einem geschickten Handgriff zusammenschnürte, den Gesichtsschleier gekonnt über die Nase hochzog und mit behänden Schritten die unebene Treppe vom Dach des Hauses hinunter sprang.

    „Ich komme ja schon!", antwortete sie und verschwand im Dunkel des Wohnturms, wo sie, aus dem grellen Licht der Mittagssonne kommend, zunächst nichts mehr sehen konnte. Aber das musste Latifa auch nicht, kannte sie doch jede der eigenwilligen Stufen, jeden Vorsprung der Lehmmauer, jeden herausragenden Balken selbst im Schlaf.

    Unten empfing ihr jüngerer Bruder Ahmed sie mit strengem Gesicht. „Wo bist du bloß gewesen? Der Vater kommt gleich! Wir haben das Auto schon im Wadi gesehen und die Mutter braucht dich, du musst doch noch die Hilbe zubereiten!" Zufrieden, eine Rüge ausgeteilt zu haben, wartete Ahmed keine Antwort ab, sondern zog sich in den Diwan zurück, wo er am Fenster sitzend ungeduldig die Ankunft des Vaters erwartete. Wie die meisten Jungen aus den Bergen war auch Ahmed klein und drahtig, seine glänzenden schwarzen Locken waren kurz geschnitten und seine sanften braunen Augen passten nicht so recht zu dem herrischen Auftreten, das er den Frauen der Familie gegenüber so gerne an den Tag legte. Doch der ganze Stolz des Vierzehnjährigen war der kleine schwarze Flaum, der sich seit Kurzem auf seiner Oberlippe zeigte. Seitdem fühlte er sich erst recht als der Mann im Haus und Latifa musste oft insgeheim über den einen Kopf Kleineren lachen, wenn er sich ihr gegenüber mal wieder als Vormund aufspielte.

    Sie hatte das Wäschebündel im Vorbeigehen in eine der kleinen Schlafkammern geworfen und trat jetzt, den Kopf duckend, durch eine niedrige Tür in die Küche des Hauses. Der Qualm des offenen Reisigfeuers war so stark, dass Latifa sofort die Tränen in die Augen schossen. Amina, ihre Mutter, war gerade damit beschäftigt, dünnflüssigen Hirseteig auf die flache Pfanne über dem Feuer zu gießen. Hirsepfannkuchen gab es fast täglich und sie waren frisch gegessen eine Köstlichkeit. Heute aber standen auch noch verschiedene andere Töpfe auf dem kleinen Gasbrenner und das Pfeifen des Schnellkochtopfs verriet ebenso wie der Duft in der kleinen verrußten Küche, dass es sogar etwas Fleisch geben würde! Eines der schmächtigen Hühner, die sowieso fast nie Eier legten, hatte wohl daran glauben müssen.

    „Latifa, endlich. Wo hast du nur gesteckt? Wir sind doch noch gar nicht fertig, Kind! Schnell, die Tomaten müssen gerieben werden, die Hilbe ist noch nicht geschlagen und dein Vater wird jeden Augenblick eintreffen!" Die Mutter zeigte mit hochgezogenen Augenbrauen auf die Tomaten, wischte sich mit dem Handrücken rasch den Schweiß von der Stirn wandte sich dann gleich wieder dem Brot zu.

    Latifas Vater kam stets nur an den Wochenenden nach Hause und dann musste alles perfekt sein. Er war ein angesehener Mann im Dorf, da er als stolzer Besitzer eines kleinen Geländewagens Lebensmittel, Menschen und Tiere vom Dorf in die Stadt transportierte und umgekehrt. Außerdem hatte der Vater einen Teil seiner Jugend in der Provinzhauptstadt bei Verwandten verbracht und dort sogar ein paar Jahre die Schule besucht. Weil er deshalb nicht nur eine ganze Reihe von Koransuren auswendig konnte, sondern auch ein wenig zu lesen und schreiben verstand, hatte man ihn im Dorf sogar zum Vorbeter erkoren.

    Latifa hatte ihren Vater jedoch noch nie lesen oder schreiben gesehen. Was sie sah, war der strenge Blick, mit dem er die Mutter tadelte, wenn das Essen nicht rechtzeitig fertig wurde. Und was sie sah, war der Beutel voller Qat, den er ihr wortlos zuwarf, damit sie die Blätter gründlich reinige, bevor er sie am Nachmittag in der Runde der Männer einzeln vom Stängel pflückte, zusammenrollte und in seine Backe schob, um sie dann stundenlang zu kauen, hin und wieder den bitteren grünen Speichel in einen der bereitstehenden Spucknäpfe spuckend – welche wiederum Latifa später am Abend zu reinigen hatte.

    Die Woche über arbeitete der Vater als Taxifahrer in der Stadt, von wo aus er dann Donnerstagmittags mit voll beladenem Pick-up-Truck hupend ins Dorf zurückkam. Ungeduldig erwartet von einer bunten Horde kleiner Kinder, die aufgeregt um das Auto herum wuselten und mit großem Hallo die mit den Wocheneinkäufen nach Hause kommenden Väter begrüßten. Jede der kleinen Hände wollte helfen etwas zu tragen, um irgendwie dem Reichtum nahe zu kommen, der in Säcken, Tüten und dreckigen Tüchern verpackt zwischen den Männern auf der Ladefläche gestapelt war. Nicht selten stellte jemand dann zu Hause fest, dass etwas, von dem er sicher war, es gekauft zu haben, sich einfach nicht mehr in der Tasche finden ließ. Und manchmal bekam eine der vielen Tüten plötzlich einen Riss und im Nu hatten die kleinen schmutzigen Kinderhände die Bananen, Tomaten oder Gurken aus dem Staub gefischt und kleine nackte Füße waren triumphierend hinter dem nächsten Felsen verschwunden.

    Felsen, die gab wahrlich es genug in Latifas Dorf. Wie ein Adlerhorst klebte es hoch oben an der Flanke einer der vielen schroffen Berggipfel, welche diese Gegend prägten. Ein trockener Wind fegte den Staub durch die schmalen Pfade zwischen den kleinen aus roh behauenen Natursteinen gemauerten Häusern, aus deren windschiefen, aus alten Brettern oder flach gehämmerten, aneinander genagelten Blechbüchsen zusammen gezimmert Türen, Esel oder Schafe hinaus blickten. Dieses Dorf war arm, genauso wie alle anderen Dörfer in der Umgebung auch. Jedes ohne Strom, ohne Wasser, ohne Laden, ohne Schule. Die ganze Woche über gab es hier nur Frauen, viele barfüßige kleine Kinder, ein paar alte Leute und nur ab und zu einen verlorenen Mann, der ohne Arbeit und Würde so unsichtbar war, dass es keinem Risiko gleichkam, ihn mit all den Frauen alleine zu lassen.

    Wie die meisten anderen Frauen aus Sharqi war auch Latifas Mutter Amina schon in eben diesem kleinen Adlerhorst aufgewachsen. Sie hatte als junges Mädchen Ziegen gehütet, Wasser in Kanistern aus dem Tal herauf geschleppt, im Sommer mit einer Sichel das dürre Gras von den steilen Hängen geschnitten, trocknen lassen, zu Heuschnüren geflochten und nebenbei ihre vielen Geschwister versorgt. Nach ihrer frühen Heirat ging es gerade so weiter, mit dem kleinen Unterschied, dass sie nun nicht mehr im Elternhaus, sondern in dem der Schwiegereltern lebte. Und, worin die wesentliche Veränderung bestand, dass sie nun abends nach getaner Arbeit nicht mehr einfach müde auf die dünne Matratze sinken konnte, sondern ihrem Mann noch zur Verfügung zu stehen hatte. Damit dieser, wie es schon im Koran heißt, seinen Acker bestellen konnte.

    Latifa war das dritte von acht Kindern. Ihre beiden älteren Schwestern waren mit Cousins aus einem Nachbardorf verheiratet, und auch für sie hatte der Vater schon mehrfach Heiratspläne geschmiedet. Bisher waren seine Pläne jedoch stets daran gescheitert, dass die Mutter dann immer gerade wieder schwanger gewesen war, und auf Latifas Hilfe nicht verzichten konnte.

    Mit flinken Händen nahm Latifa jetzt einen großen flachen Stein zwischen den Blechnäpfen und Schalen hervor, ging in die Hocke, spülte den Stein rasch mit etwas Wasser ab und begann dann geschickt, Tomaten, Knoblauchzehen, etwas Salz und ein Stück Chilischote mit Hilfe einer zweiten Steinwalze zu zerdrücken und miteinander zu vermengen. Das so entstandene Sahawiq, eine fruchtig scharfe Tomatensoße, wurde in kleinen Mengen mit dem Reis und den in Sauermilch eingelegten Hirsepfannkuchen gegessen. Oder man tunkte einfach frisches Brot in die würzige Tomatensoße hinein. Lecker!

    Jetzt ertönte draußen das erwartete Hupen und Latifa vernahm zeitgleich ein Trappeln vieler kleiner nackter Füße. Sie lächelte. Ob der Vater diesmal wohl etwas Besonderes mitgebracht hatte? Zum Beispiel Trauben? Die Traubenzeit sollte doch allmählich begonnen haben! Latifa liebte es, diese kleinen grünen oder blauen Bällchen in den Mund zu schieben, sie dort zwischen Zunge und Gaumen genüsslich zu zerdrücken und ihren süßen Saft die Kehle hinunter rinnen zu lassen! Inzwischen hatte sie das Sahawiq in kleine Blechschüsseln gefüllt und war nun dabei, mit kräftigen Handbewegungen aus dem gequollenen Pulver der Bockshornkleesamen einen festen gelblich-weißen Schaum zu schlagen. Dieser bittere Schaum, die Hilbe, würde dann zum Schluss auf die mit etwas Gemüse angereicherte Fleischbrühe gegeben und als letzter Gang mit Brot gegessen werden. Ohne Hilbe war eine Mahlzeit hier in den Bergen des Nordjemen undenkbar!

    So, die letzten Handgriffe waren getan. Mutter und Tochter, die in ihren schwarzen, oben eng anliegenden und unten weiten Kleidern und der ebenso schwarzen Kopf- und Gesichtsverschleierung kaum voneinander zu unterscheiden waren, warteten in der Küche, während die Stimmen und das Gepolter im Treppenaufgang verriet, dass der Vater Besuch mitgebracht hatte. Fragend schauten die Frauen einander an. Ob die Menge des vorbereiteten Essens für Gäste reichen würde?

    Da kam auch schon Ahmed hereingestürmt, diesmal nicht als würdevolle Autorität, sondern ganz kindlicher Enthusiasmus: „Papa hat Onkel Hussein mitgebracht und Tante Fatima! Sausan und Hanna sind auch dabei, außerdem noch drei andere Männer und eine alte Frau. Und sie haben ganz viele große Taschen!" Ahmed strahlte und war schon wieder verschwunden, bevor Mutter oder Schwester noch etwas hätten fragen können.

    „Oh Allah!, stöhnte die Mutter besorgt, „woher sollte ich das nur wissen? Für so viele Leute reicht unser Essen doch nie! Latifa, du musst sofort zu Aischa hinüberlaufen und sie bitten, uns zu helfen! Nimm den Hinterausgang, damit dich keiner sieht! Und beeile dich! Yalla – mach schon!

    Latifa nickte und eilte davon. Die Freude ihres Bruders hatte sie angesteckt: Tante Fatima und die Cousinen! Wie lange war es schon her, seitdem sich die Verwandtschaft auf den beschwerlichen Weg in ihr Dorf gemacht hatte! Wahrscheinlich hatte sie ihre Cousinen das letzte Mal bei der Hochzeit ihrer Schwester gesehen, und die hatte inzwischen schon zwei Kinder! Wie Sausan und Hanna jetzt wohl aussahen? Und was sie für Kleider trugen? Ob sie sich noch immer so gut verstehen würden? Und wie lange sie zu bleiben gedachten? Ruckzuck hatte Latifa ihrer Freundin Aischa die Situation geschildert, die kurzerhand ihr eigenes Brot und ihren Topf Reis mitnahm und wiederum ihre Schwägerin losschickte, um noch mehr Nachbarfrauen zu verständigen. So viel war klar: Heute würde das Haus aus allen Nähten platzen! Denn wenn auch alle Nachbarinnen bereitwillig kamen, um zu helfen, so kamen sie doch auch, um mitzuessen, zu bleiben und teilzuhaben an der Abwechslung, die ein Besuch aus der Stadt mit sich brachte.

    Als Latifa gerade in die Küche zurückhuschen wollte, fing ihr Vater sie ab. Er grüßte kurz, hielt sie am Arm fest und musterte seine Tochter kritisch. Dann sagte er: „Geh und wasch dich, Latifa, du bist ja voller Ruß! Zieh dir etwas Sauberes an und begrüße dann deine Tante und die Frauen, sie warten schon im unteren Diwan auf dich. Und denk daran, dich ordentlich zu verschleiern, es sind fremde Männer im Haus!"

    „Ja, Vater, natürlich! Aber die Mutter braucht mich erst noch in der Küche!", entgegnete Latifa. Sie scheute sich, alleine zu den doch fast fremden Frauen zu gehen und dort die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen.

    Aber ihr Vater erwiderte unwirsch: „Du tust, was ich dir gesagt habe, verstanden?! Deine Mutter wird auch ohne dich zurechtkommen."

    Latifa nickte gehorsam. Sie lief die Treppe hoch zu der Kammer, welche sie sich mit ihren drei kleinsten Brüdern teilte. Schnell verriegelte sie die Tür, stellte sicher, dass der verschossene, einst blau geblümte Vorhang das kleine Fenster auch richtig bedeckte und holte dann einen großen alten Mehlsack hervor, in dem ihre Kleider verstaut waren. Hastig leerte sie den gesamten Inhalt auf den Boden und begann nervös darin zu wühlen. Doch alle Kleider schienen ihr zu alt! Manche waren definitiv zu kurz oder zu eng, andere hatten Risse oder waren vom Kochen angesengt, hier oder da war der Reißverschluss kaputt. Latifa spürte, wie ihr Tränen der Wut in die Augen stiegen. Ihr Vater hatte gut reden! Was sollte sie denn nur anziehen? Jeder wusste, wie kritisch diese Frauen aus der Stadt waren! Konnte sie etwas dafür, dass sie keine angemessene Kleidung besaß? Schließlich stopfte sie trotzig das ganze Durcheinander wieder in den Sack zurück und tauschte nur ihr schwarzes Kopftuch gegen ein dunkelrotes mit Goldfäden aus. Dieses Tuch hatte sie zum letzten Opferfest vom Vater bekommen und seitdem geschont, es sah noch aus wie neu. Dann goss Latifa etwas Wasser aus einer Plastikflasche auf den Zipfel eines der herumliegenden Tücher, wusch sich damit schnell das Gesicht und befreite auch noch ihr schwarzes Kleid vom gröbsten Staub. Schließlich atmete sie tief durch, versuchte sich zu sammeln und ging langsam die Treppe hinunter zum Frauendiwan.

    „Friede sei mit dir, meine Tochter. Bei Allah, wie bist du groß geworden! Wie geht es dir, mein Liebes?, begrüßte Tante Fatima ihre Nichte und küsste Latifa überschwänglich auf beide Wangen und die Stirn, woraufhin diese der Älteren ehrerbietig die Knie küsste. Auch mit den anderen Frauen wurden Küsse getauscht und auf die stets gleiche Frage: „Wie geht es dir? folgte die stets gleiche Antwort: „Al-hamdu li-llah! Allah sei gelobt!"

    Latifa fühlte sich angesichts des Interesses, mit dem die älteren Frauen sie bedachten, unwohl. Wie viel lieber wäre sie der Mutter zur Hilfe geeilt oder hätte ihre Bekanntschaft mit den Cousinen erneuert! Und als bald darauf einige Nachbarinnen auftauchten und sofort in eine rege Unterhaltung mit den Städterinnen verfielen, nutzte Latifa die Gelegenheit sofort und gesellte sich zu den beiden Mädchen, die sie freudig in ihre Mitte nahmen.

    „Latifa, wir haben uns so gefreut, dass wir mitkommen durften und dich endlich wieder sehen können! Aber der Weg hierher ist ja fürchterlich! Ich habe jetzt bestimmt lauter blaue Flecken!, sagte Sausan, die ältere der beiden, lächelnd und ihre Schwester Hanna flüsterte theatralisch: „Mich hat Tante Mariam beinah zerquetscht, sie saß halb auf meinem Schoß, so eng war es im Auto! Mit einem schiefen Seitenblick auf die besagte Frau fügte sie verschwörerisch hinzu: „Und die Gute wiegt bestimmt hundert Kilo!"

    Latifa hielt sich die Hand vor den Mund, um sich ein Grinsen zu verkneifen. Sie wusste nicht recht, was sie denken sollte. Zwar besaß ihr Vater ein Auto, doch sie kannte den Weg in die Stadt nicht, denn er hatte sie noch nie mit dorthin genommen. Eine Frau aus dem Dorf hatte meistens nur dann eine Chance in die Stadt zu kommen, wenn sie ins Krankenhaus musste, doch Latifa war bisher immer gesund gewesen. Konnte die Straße in die Stadt denn so schlimm sein? Außerdem verunsicherte Latifa der Ton, in dem Hanna über die fremde Frau sprach. Hatte man den Mädchen in der Stadt denn nicht beigebracht, Erwachsenen mit Respekt zu begegnen? Latifa musterte ihre Cousinen verstohlen von der Seite. Nachdem sie nun ihre schwarzen Gesichtsschleier abgelegt hatten, erschienen sie ihr noch fremder, ja, kaum wiederzuerkennen! Und mit diesen Mädchen war sie, Latifa, verwandt? Ihre Haut schien so viel weißer, ihr Auftreten so viel erwachsener und selbstsicherer! Bei Sausan lugte unter dem Kopftuch sogar eine blondierte Haarsträhne hervor!

    Bei ihrem letzten Besuch vor etwa drei Jahren waren sie gemeinsam noch ausgelassen draußen im Dorf herum gesprungen. Sie hatten erst mit den jungen Ziegen gespielt und dann mit langen Stangen, an deren Ende aufgeschnittene Blechdosen befestigt waren, Kaktusfeigen gepflückt, um sich hinterher lachend gegenseitig die Tausende von kleinen Stacheln aus den Fingern zu ziehen. Wie war das schön gewesen! Am Abend hatten sie zu dritt auf dem Dach unter den Sternen gesessen, sich die Hände und Füße mit Henna verziert und von ihren Träumen erzählt. Latifa seufzte leise. Jetzt erschienen die beiden so gepflegt, so fremd!

    Als ob sie Latifas Gedanken lesen könne, stupste Sausan sie an und zwinkerte ihr zu. „Hey, Latifa, fragte sie lächelnd, „können wir vielleicht nachher noch zusammen hinausgehen? Ich erinnere mich an einen bestimmten Felsvorsprung, auf den wir das letzte Mal geklettert sind. Wie gerne würde ich da noch einmal hin!

    „Natürlich!, antwortete Latifa erleichtert. Vielleicht hatte sich zwischen ihnen ja doch nichts verändert. „Ihr bleibt doch über Nacht, oder?

    „Aber sicher! Heute Abend ist doch ...", fing Hanna an, aber Sausan fiel ihr ins Wort.

    „Sollten wir nicht endlich deine Mutter begrüßen, Latifa? Sie freut sich doch sicher, wenn wir ihr helfen!"

    In der kleinen Küche war es jedoch schon so voll, dass niemand mehr hineinpasste. Kurz erhaschte Latifa einen Blick auf ihre Mutter und erschrak. Warum hatte die Mutter geweint? Sicherlich gab es viel zu tun, aber das war bestimmt nicht der Grund für diese Tränen. Hatte der Vater wieder geschimpft? Sie hatte ihn gar nicht brüllen hören! Latifas Magen krampfte sich unwillkürlich zusammen. Was war nur los? Ob vielleicht Aischa Bescheid wusste? Aber vorerst war es Latifa nicht möglich, mit Aischa zu reden, da das Mittagessen nun begann.

    Eine Stunde später waren alle hungrigen Mäuler gestopft. Erst die der Männer, die nun entspannt im obersten Raum des Hauses auf dem Teppich saßen, an bunte, mit Sägespänen gestopfte Kissen gelehnt und rundherum mit einer spektakulären Aussicht aus den fast auf den Boden reichenden Fenstern beschenkt. Doch ihr Interesse galt inzwischen nur noch den Bündeln grüner Qatstängel, die sie behutsam aus Plastiktüten oder Bananenblättern auspackten, fachmännisch beurteilen und hin und her tauschten, um sie dann

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