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Paradoxe Gerechtigkeit
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eBook838 Seiten11 Stunden

Paradoxe Gerechtigkeit

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Über dieses E-Book

Wie gerecht hätten Sie es denn gern? Knallhart oder auch mal Fünf gerade sein lassen? Was ist überhaupt gerecht und was nicht? Paradoxe Gerechtigkeit ist weit mehr als nur ein Thriller. Hier treffen drei Menschen mit völlig verschiedenen Lebenskonzepten und Biographien aufeinander, so verschieden, wie sie nur immer sein könnten. Allein schon deshalb haben sie ein sehr unterschiedliches Gerechtigkeitsempfinden. Und plötzlich stehen sie - ziemlich wider Willen - gemeinsam vor einer großen Herausforderung: Sie müssen beweisen, dass einem von ihnen so großes Unrecht geschehen ist, dass es ihn das Leben kosten kann. Denn wenn sie es nicht beweisen können, ist zumindest ein weiterer von ihnen mit dran.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Aug. 2015
ISBN9783738037500
Paradoxe Gerechtigkeit

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    Buchvorschau

    Paradoxe Gerechtigkeit - Stefanie Hauck

    Widmung

    Für Mama,

    ohne die ich gar nicht angefangen hätte,

    dieses Buch zu schreiben

    Teil 1 – Kapitel 1

    Achtung, er kommt!

    Richter Dr. Philip Banks steckte seinen Kopf grinsend zur Tür herein, weil er genau wusste, was jetzt passieren würde.

    Sally und Maggie zuckten zusammen, als hätten sie ein Kapitalverbrechen begangen und wären dabei auf frischer Tat ertappt worden.

    Die beiden Frauen arbeiteten als Sekretärinnen von Dr. Thomas McNamara, dem Vorsitzenden Richter am Obersten Gerichtshof der Stadt New York, und feierten in ihrer vorgezogenen Mittagtagspause ein bisschen, weil Sally Geburtstag hatte. Zwar hatte ihr Chef den Verzehr von Essen und vor allem den Genuss von Kaffee im Büro strengstens verboten, aber da sie nicht damit gerechnet hatten, dass er heute über Mittag vorbeischauen würde, nahmen sie sich das ausnahmsweise mal heraus. Schließlich hatte er doch heute Morgen nur kurz hereingeschaut, ein paar Anweisungen gegeben und erklärt, er werde den ganzen Vormittag über im Gerichtssaal und ferner über Mittag abwesend sein, weil er zu einem Geschäftsessen wollte.

    Worauf es jetzt ankam, war, so schnell wie möglich alle Beweisstücke verschwinden zu lassen. Und das gestaltete sich gar nicht so einfach, denn das Geschirr hatten sie sich bei den Kollegen nebenan ausgeliehen, konnten es also nicht zurückbringen, und wo um Himmels willen sollten sie die Thermoskanne unauffällig verstauen? Vielleicht in einem der Aktenschränke? Wenn man nun einfach ein paar Ordner herausnehmen, sie auf die Fensterbank oder an einen anderen provisorischen Platz stellen würde und dann die Kanne und das Geschirr darin verstecken?

    Oh mein Gott!, jammerte Sally, während sie hektisch die Schrank­türen öffnete, heute Morgen hat er mir noch ‘alles Gute zum Geburtstag und Gottes Segen’ gewünscht, und nun wird er mich bestimmt verfluchen und unangespitzt in den Boden rammen, weil ich gegen sein Verbot verstoßen habe.

    Hey, Sie haben Geburtstag, meinte Philip, da kann man doch mal ein Auge zudrücken.

    Aber nicht Dr. Gnadenlos!, knurrte Maggie, der drückt eher seinem Gegenüber ein Auge zu, und zwar, indem er ihm bzw. ihr ein Veilchen verpasst.

    Und obendrein haben wir noch die Unverfrorenheit besessen, fügte Sally an, im Vorzimmer zu seinem allerheiligsten Büro Kaffee zu trinken. Das ist wahrscheinlich für ihn die achte Todsünde. Dieser fanatische Teetrinker, der tickt doch nicht mehr ganz richtig. Raten Sie mal, Philip, was er mir zum Geburtstag geschenkt hat?!

    Tee?!, entgegnete Philip mit einem naiven Augenaufschlag.

    Allerdings, murrte Sally, während sie prüfend die Ordnerrücken überflog, ehrlich, ich habe grundsätzlich nichts gegen Tee. Aber wenn ich mir überlege, dass dieser Kerl schon seit Jahren versucht, die gesamte Behörde zum Tee trinken zu bekehren, dann frage ich mich ernsthaft, ob unser allseits verhasster Dr. Thomas McNamara schon mal auf die Idee gekommen ist, dass es durchaus legitim ist, wenn andere Leute nicht seiner Meinung sind und seine Vorlieben nicht teilen.

    Noch ist das legitim, befand Philip mit einem ironischen Grinsen, aber wenn er erst mal Bundesrichter ist, wird er bestimmt dafür sorgen, dass Gesetze erlassen werden, die es unter Strafe stellen, dass jemand eine andere Meinung hat als die seine.

    Sie sind unmöglich, Philip, meinte Maggie im Scherz und schüt­telte den Kopf, wie gut, dass Sie hier sowas wie ein Licht in dunkler Nacht sind. Ich frage mich oft, wie Sie es mit Dr. Gnadenlos aushalten können, ohne dauerhaft depressiv zu werden.

    Nun, wir sind ja Kollegen, auch wenn er der Vorsitzende ist, aber seinen Kollegen sollte man sich warmhalten. Offenbar hält er große Stücke auf mich, entgegnete Philip achselzuckend, aber jetzt müssen Sie beide sich beeilen, er ist nämlich im Anflug. Ich höre ihn schon. Allerdings werde ich versuchen, ein wenig Zeit für Sie zu schinden.

    Danke, Philip, Sie sind wirklich ein Schatz, bemerkten die Frauen.

    Philip lächelte den beiden Vorzimmerdamen aufmunternd zu und schloss die Tür hinter sich. Gerade noch rechtzeitig, denn kaum dass er die Türklinke losgelassen hatte und sich zum Gehen wandte, hörte er seinen Kollegen die letzte Treppenstufe erklimmen, während der auf einen Staatsanwalt einredete. Der Staatsanwalt sagte immer nur ja, ja und schien froh zu sein, dass Thomas Philip entdeckte und sich hastig verabschiedete.

    Hallo Philip, gut, dass ich Sie treffe, ließ sich Thomas vernehmen, Sie waren eben so schnell aus dem Gerichtssaal verschwunden, dass ich gar nichts mehr mit Ihnen bereden konnte. Philip, bitte kommen Sie doch gegen 14.00 Uhr in mein Büro. Es ist extrem wichtig.

    Klar, kein Problem.

    Fein, dann werde ich mich jetzt in die Arbeit stürzen, nachdem wir wieder ein zweifelhaftes Subjekt hinter Gitter gebracht haben. Schließlich sind wir nicht zum Spaß hier. Und wer weiß, vielleicht wartet ja schon eine positive Überraschung auf mich.

    Damit wandte sich der Jurist um und ging forschen Schrittes auf die Vorzimmertür seines Büros zu.

    Oh weh, dachte Philip, hoffentlich waren Sally und Maggie schnell genug. Sonst wird es wirklich eine Überraschung für Dr. Gnadenlos geben, allerdings eine negative. Leider konnte ich ihn im Prinzip ja gar nicht aufhalten. Es ist schon ein Kreuz, dass dieser Mann absolut keinen Spaß versteht und seiner Umgebung so verbiestert seine Regeln aufdrückt. Da entsteht bei mir manchmal der Eindruck, dass es unserem allseits verhassten Dr. McNamara nicht nur eine Genugtuung bereitet, Verbrecher ins Gefängnis zu bringen, sondern auch seine Untergebenen zu drangsalieren.

    Als Thomas jetzt mit Schwung ins Vorzimmer hereinstürmte, zuckten Sally und Maggie unwillkürlich zusammen.

    Ladys, heute ist mein Glückstag!, bemerkte Thomas strahlend, bei der Beweislage brauchten die Geschworenen gar nicht lange zu überlegen, um diesen Halunken schuldig zu sprechen. Und ich konnte die Höchststrafe verhängen. Somit habe ich sogar noch etwas Zeit, mich um das Tagesgeschäft hier im Büro zu kümmern. Maggie, wo ist die Post?!

    Hier, Sir, entgegnete Maggie und reichte ihm einen Stapel Briefe, und ein Anruf kam für Sie heute Morgen rein, kurz nachdem sie zur Verhandlung gegangen sind. Irgendjemand aus Washington. Ein Mr. Smith. Der kam mir ein bisschen komisch vor, weil er mir partout nicht sagen wollte, worum es sich handelte und er nur mit Ihnen sprechen wollte. Er hat auch keine Nummer hinterlassen, damit Sie zurückrufen können und...

    Wann will er wieder anrufen?, unterbrach Thomas sie hastig.

    Gar nicht. Er sagte nur, Sie wüssten schon, worum es sich handelte, deshalb müsste er mir nicht alles erklären.

    Maggie sah ihren Chef ein wenig unsicher an.

    Na ja, schon gut, erwiderte Thomas nicht sonderlich erfreut und beachtete sie dann gar nicht mehr, sondern sichtete die Briefe, die sie ihm gegeben hatte. Weil er auch nach geraumer Zeit keine Reaktion zeigte, fragte Maggie nochmal vorsichtig nach.

    Sir, ist alles okay? Ich meine wegen diesem Mr. Smith und so?

    Thomas murmelte nur: Nein, es ist alles in Ordnung... alles in Ordnung, Maggie..., und ging gedankenversunken auf seine Arbeitszimmertür zu.

    Die beiden Frauen atmeten innerlich schon auf. Aber dann fuhr ihr Chef herum, zeigte auf Sally und ranzte sie an: Okay, Sie werden jetzt dafür sorgen, dass ich von niemandem gestört werde. Keine Telefonanrufe durchstellen, keine lästigen kleinen Wichtigtuer hereinlassen und auch von Ihnen beiden will ich nichts sehen, es sei denn, ich rufe eine von Ihnen in mein Büro. Der Einzige, den Sie zu mir durchlassen, ist Dr. Philip Banks. Alles klar?!

    Ja, hauchte Sally und nickte ergeben.

    Fein, dann wollen wir mal wieder an die Arbeit gehen, entgegnete Thomas und entschwand in sein Büro.

    Puh, hat der eine Laune, meinte Maggie stöhnend, da wollen wir mal hoffen, dass er nicht so oft seinen Glückstag hat, so wie der drauf ist.

    Was soll’s, entgegnete Sally und verzog den Mund, ich bin trotzdem erleichtert, dass wir noch schnell genug waren beim Verstauen unseres kriminellen Handwerkszeugs. Stell dir mal vor, er hätte uns erwischt!

    Das stell ich mir lieber gar nicht vor, weil es einer Apokalypse gleichkäme!

    Die beiden Frauen hatten sich gerade wieder in ihre Arbeit vertieft, als die Tür zum Chefbüro vehement aufgerissen wurde und Thomas wieder herauskam. Die Sekretärinnen zuckten entsetzt zusammen.

    Maggie, ich brauche mal eben einen Kleiderbügel, erklärte Thomas, während er forschen Schrittes auf den Garderobenschrank zuging, an einem meiner Bügel hat sich der Haken gelöst. Jetzt kann ich mein Jackett nicht mehr aufhängen.

    Im nächsten Moment hatte er auch schon die Schranktür geöffnet und fischte sich einen Bügel heraus. Als er die Tür wieder verschließen wollte, geriet allerdings ein Stück von Maggies Sommermantel dazwischen. Etwas hektisch schob er das Kleidungsstück zur Seite, damit ihm das nicht nochmal passieren sollte. Das hatte allerdings zur Folge, dass es auf einmal fürchterlich schepperte und klirrte und ihm eine Thermoskanne entgegenrollte. Um ein Haar wäre sie auf seinen Schuhen gelandet, wenn er nicht schnell zur Seite ausgewichen wäre. Das Bild, das sich ihm allerdings jetzt bot, brachte sein Blut in Wallung, und die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht.

    Das glaube ich jetzt einfach nicht, zischte er fast tonlos, während er auf das umgestoßene Geschirr deutete und gleichzeitig die beiden Frauen ansah.

    Sally und Maggie starrten den Chef nun ihrerseits in blankem Entsetzen an. Für einen Moment sagte keiner ein Wort, die Stimmung schien förmlich zu knistern. Schließlich verzog Thomas grimmig seinen Mund und giftete die beiden Frauen an: Sie scheinen unter Gedächtnisschwund zu leiden! Ich denke, wir hatten eine Vereinbarung. Haben Sie das vergessen?!

    Äh, nein, Dr. McNamara, kam Maggie Sally zuvor, aber, nun ja, also, na ja, weil Sally doch heute Geburtstag hat und Sie doch sowieso heute nicht mehr ins Büro kommen wollten...

    Ach so, das ist ja ganz was Neues!, fauchte Thomas Maggie an, wenn der Chef nicht da ist, dann halten sich die Sekretärinnen nicht an seine Anweisungen. Fein! Kann es vielleicht sein, dass das nicht das erste Mal ist? Haben Sie hier vielleicht schon öfter gepicknickt?! Das hier ist kein Café, das ist eine Justizbehörde!

    Sir, wirklich, stammelte Sally in blankem Entsetzen, wirklich, es war wirklich das erste Mal, und wir werden es auch nie wieder tun.

    Sehr richtig bemerkt, befand Thomas, weil ich Ihnen beiden eine Abmahnung erteilen werde und Sie bei der nächsten Unregelmäßigkeit sofort die fristlose Kündigung erhalten.

    Sprach’s und verschwand wieder in seinem Büro.

    Als die Tür ins Schloss gefallen war, verzog Maggie verärgert den Mund, sah Sally an und meinte: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag und Gottes Segen.

    Sally verdrehte die Augen.

    Wieso redet der eigentlich von Gott?, murrte sie, er hält sich doch selbst für Gott! Stell dir mal vor, er müsste die Anweisungen eines höheren Wesens respektieren! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass er das täte!

    Oh, unser Dr. Gnadenlos ist sehr fromm, hielt Maggie dagegen, du weißt doch, er ist im Kirchenvorstand hier vor Ort.

    Sehr richtig, befand Sally, "er ist im Vorstand, möglichst noch Vorstandsvorsitzender, das vermute ich schon mal eher. Und außerdem ist nicht überall christlich drin, wo christlich draufsteht. Es geht um Authentizität. Nur leider gibt es mehr Heuchler als echte Christen, die ihren Glauben ernst nehmen."

    Mit anderen Worten, er ist ein Pharisäer.

    Falsch, denn es gibt ein sehr gutes Gegenargument für diese Theorie, erwiderte Sally und grinste breit, er kann schon deshalb kein Pharisäer sein, weil ein Pharisäer ein Kaffee ist, der Rum enthält. Wie wir ja beide wissen, trinkt Dr. Gnadenlos keinen Kaffee, und von Rum wird ihm schlecht, davon muss er kotzen, unser Kotzbrocken.

    Maggie hätte beinahe schallend losgelacht ob dieser Schlussfolgerung, sie konnte sich gerade noch beherrschen. Und sie wusste natürlich, dass Sally einmal die Person des Pharisäers und dann eben jene Kaffeekreation gemeint hatte, die man aufgrund des heuchlerischen Verhaltens dieser Leute so benannt hatte. Aber wenn ihr Chef sie hätte lachen hören, wäre der zurück ins Vorzimmer ge­stürmt. Und dann wären sie sofort auf die Straße gesetzt worden.

    Und obendrein kommt Kaffee aus Kolumbien, wo die böse Drogenmafia zuhause ist, setzte Sally noch eins drauf, von daher können wir noch froh sein, dass er uns nicht als Helfershelfer seiner Erzfeinde bezeichnet und in Untersuchungshaft gesteckt hat, nur weil wir gerade Kaffee getrunken haben.

    Die Sekretärinnen kicherten leise in sich hinein.

    Gibt es eigentlich auch eine gute Eigenschaft an Dr. Gnadenlos?, fragte Maggie lauernd zurück.

    Sally kannte die Standardantwort schon.

    Ja, er sieht aus wie Harrison Ford, entgegnete sie zuckersüß.

    Und? Hat das irgendwelche Auswirkungen auf sein Verhalten?

    Nein.

    Zum Glück war den beiden der Humor noch nicht vergangen. Schließlich waren sie auch Leidensgenossinnen. Beide Frauen mussten selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Maggies Mann war vor fünf Jahren bei einem Autounfall plötzlich ums Leben gekommen. Logischerweise ging es ihr danach sehr schlecht, und sie war krankgeschrieben. Zum Glück hatte sie damals Sally schon gut eingearbeitet, so dass die ihren Part für einige Zeit mit übernehmen konnte. Denn Thomas McNamara hatte damals aufgrund seines Arbeitsvolumens auf eine zweite Sekretärin gepocht und sie auch bekommen. Ob das nun wirklich nötig gewesen wäre, bezweifelten so einige Leute im Gericht. Aber auf der anderen Seite gönnten sie die zweite Sekretärin vor allem Maggie. Tatsache war aber auf jeden Fall, dass diese Sekretärinnenstelle schon eine Menge an Kompetenz voraussetzte, mal ganz abgesehen davon, dass sie ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl verlangte. Denn Dr. Gnadenlos war ein sehr launischer Mann, der einige Reizthemen hatte, wofür er im ganzen Gericht berüchtigt war. Eine Sache aber durfte man ihm gegenüber auf keinen Fall erwähnen, und zwar, dass Dr. Thomas McNamara, der ach so ehrenhafte Jurist, dem Filmschauspieler Harrison Ford so ähnlich sah, als wären die beiden eineiige Zwillinge. Grundsätzlich hätte das kein Problem dargestellt, andere Männer hätten es sogar positiv für sich zu nutzen gewusst, denn Ford war ein sehr beliebter und erfolgreicher Schauspieler. Nur für Thomas McNamara stellte das ein Problem dar, denn in seinen Augen waren Schauspieler - egal wie beliebt und erfolgreich sie waren - Taugenichtse, hochbezahlte Gamm­ler und professionelle Lügner. Wahrscheinlich setzte in Thomas’ Augen die Tatsache, dass ein Schauspieler Erfolg hatte, der Sache noch die Krone auf.

    Natürlich hatte Sally damals Maggie irritiert zurückgefragt, ob Thomas das nicht längst wisse, dass er Ford so ähnlich sah, weil ihn doch bestimmt schon viele Leute darauf angesprochen hätten. Vielleicht wäre das ja auch der Grund für die permanent schlechte Laune des Richters. Darauf hatte Maggie geantwortet, dass Thomas schon ein Ekelpaket gewesen sei, bevor Ford berühmt wurde und dass jedermann in New York wusste, dass es sich bei diesem eigentlich sehr charmant aussehenden Mann nicht um den Schauspieler, sondern um den Juristen handelte. Und außerdem hatte es sich schnell herumgesprochen, welche ziemlich skurrilen Ansichten Thomas hatte. Weil er aber gnadenlos gegen Leute vorging, die ihm in die Quere kamen, wollte es sich niemand mit ihm verscherzen oder ihn unnötig provozieren. Wer wusste schon, wann man es mal persönlich mit Dr. Gnadenlos zu tun bekam. Natürlich hatten nur die New Yorker Kenntnis von dieser Abneigung des Juristen gegen Schauspieler. Fremde oder Touristen hatten ihn vielleicht mal auf seine Ähnlichkeit mit Ford angesprochen oder um ein Autogramm gebeten. Offenbar war das aber nicht sonderlich oft vorgekommen, und Thomas hatte die Leute dann angesehen, als seien sie geisteskrank und hatte sie angeschnauzt, was das denn würde und dass sie ihn gefälligst in Ruhe lassen sollten. Sally stamm­te allerdings aus Chicago, Fords Geburtsstadt, von daher hätte sie nie damit gerechnet, dass ihr neuer Chef erstens Schauspieler verachtete und zweitens überhaupt nicht wusste, dass er ausgerechnet diesem sehr prominenten derart ähnlich sah. Und weil Thomas nie ins Kino ging und so gut wie nie Filme im Fernsehen sah - das war in seinen Augen Zeitverschwendung und Volksverdummung - konnte er auch selbst keine Kenntnis darüber erlangen. Was seine Familie anging, so hütete die sich, es ihm zu erzählen, weil er auch zuhause oft launisch und reizbar war, und man musste ja nicht unnötig ins Wespennest stechen. Und in gewisser Weise konnte auch Harrison Ford sich glücklich schätzen, dass Thomas nicht wusste, wie ähnlich er und der Richter sich sahen. Denn der Jurist hätte garantiert Mittel und Wege gefunden, um den Schauspieler in irgendeiner Weise dafür zu bestrafen. Das jedenfalls behaupteten die Leute im Gericht, allerdings meinten sie es ironisch, weil eine solche Ähnlichkeit ja nicht unter Strafe stand. Ob diese Behauptung aber doch gar nicht mal so abwegig war, wäre noch die Frage gewesen.

    Sally hatte nach ihrer Scheidung ein neues Leben anfangen wollen und war von der Westküste nach New York gekommen. Sie mietete sich zunächst nur eine kleine Wohnung, weil sie ja nicht wusste, ob sie nach der Probezeit übernommen werden würde. Als sie nun gerade ihren unbefristeten Arbeitsvertrag bekam, war Maggies Mann verunglückt. Deshalb kam sie öfter bei der Kollegin vorbei und übernachtete sogar manchmal bei ihr, weil Maggie sagte, das würde ihr seelisch sehr helfen. Daraus entwickelte sich ein innige Freundschaft, und schließlich bot Maggie ihrer Kollegin an, doch zu ihr in ihr Haus zu ziehen, jetzt, wo sie eh allein dort wäre.

    Gegen 14.00 Uhr erschien nun Philip im Vorzimmer seines Kollegen. Die beiden Sekretärinnen waren in ihre Arbeit vertieft und zuckten deshalb ein bisschen zusammen, als er sie ansprach, denn sie hatten ihn gar nicht ins Zimmer kommen hören.

    Hallo Ladys, ist er schon da?, erkundigte sich Philip und deutete mit dem Kopf auf die geschlossene Tür.

    Nein, er lässt sich entschuldigen, weil das Geschäftsessen noch etwas länger dauert als geplant, erklärte Sally, wahrscheinlich wird er gegen 14.15 Uhr da sein.

    Und, horchte Philip nach, haben Sie beide es geschafft, ihre Tatwaffen verschwinden zu lassen, ehe er ins Zimmer kam?

    Ja, befand Maggie, nur leider geht bei jedem Verbrechen irgendeine Kleinigkeit schief, und die wird einem dann zum Verhängnis.

    Also berichtete Maggie dem Richter, wie ihr Chef Geschirr und Thermoskanne doch noch entdeckt hatte.

    Na ja, meinte Philip seufzend, aber immerhin leben Sie beide ja noch.

    Falsch, entgegnete Sally mit stoischer Ruhe, wir sind inzwischen Zombies, nur noch ein Schatten unserer selbst. Und es kann jetzt verdammt eng für uns werden. Wer weiß, welche Kleinigkeit der Tropfen sein kann, der das Fass zum Überlaufen bringt. Dann sind wir draußen.

    Na ja, ganz so einfach wird er Sie nicht feuern, widersprach Philip, schon aus reinem Eigennutz nicht. Schließlich müsste er dann neue Sekretärinnen einarbeiten. Das ist sehr mühsam und zeitintensiv.

    Korrekt, knurrte Sally, aber wie wär’s denn mal mit Konventionalstrafe, Gehaltskürzung oder kostenlos Mehrarbeit? Bestimmt fällt ihm dann irgendwas Passendes ein. Ach Philip, warum haben wir Sie nicht als Chef?!

    Nun, das könnte sich schon bald ergeben. Dr. McNamara und ich haben heute Nachmittag einen Termin auf einer Cocktailparty beim Bürgermeister von New York. Sie beide wissen ja, wie sehr unser Herr Richter solche Veranstaltungen hasst. Aber diese war ihm sehr wichtig, weil er sich bei einigen Leuten in Erinnerung bringen will, die ein Wörtchen bei der Berufung der zu besetzenden Stelle des Obersten Bundesrichters mitzureden haben.

    Sie meinen, er will den Herrschaften nur noch mal klarmachen, dass natürlich er der richtige Kandidat für den Posten ist?, horchte Sally entzückt nach.

    Genau.

    Maggie und Sally waren hocherfreut.

    Das ist doch mal ein ganz unvermutetes Geburtstagsgeschenk von Dr. Gnadenlos, meinte Maggie und grinste Sally an.

    Und das bedeutet, dass Sie seinen Posten bekommen, wenn er weggelobt wird?, wollte Sally wissen.

    Ja, er will sich dafür stark machen.

    Mit anderen Worten... er hat es schon beschlossen, und was Dr. Gnadenlos beschlossen hat, das geschieht, weil er es beschlossen hat, kommentierte Maggie Philips Aussage.

    Philip musste grinsen.

    Tja, dann darf er die Gerechtigkeit auf ewig im Namen tragen, weil er den Job auf Lebenszeit innehat, seufzte Maggie, Justice Dr. Thomas McNamara, Oberster Bundesrichter der Vereinigten Staaten von Amerika. Wie das klingt.

    Und vor allem ist seine Gerechtigkeit dann frei von Sünde, befand Sally spitz.

    Sorry, aber ich kann dir da nicht folgen, kommentierte Maggie die Bemerkung ihrer Kollegin.

    Was meinen Sie denn damit?! Gerechtigkeit ist nie sündhaft, das ist doch völlig paradox!, befand Philip irritiert.

    Natürlich war meine Bemerkung ironisch gemeint, entgegnete Sally fast schon brüskiert, was ich aber meine, ist Folgendes: In seiner jetzigen Position ist er ‘Acting Justice’, und wir wissen, dass acting auch schauspielern bedeutet, wobei das in unserem Fall ja nicht so ist. Wie Dr. Gnadenlos über Schauspieler denkt, darüber brauchen wir nicht zu reden. Eigentlich ist es fast unglaublich, dass ein Mann, der einem Schauspieler derart ähnlich sieht, mehr oder weniger dieselbe Berufszeichnung hat. Wenn unser Dr. McNamara das wüsste, würde Harrison Ford in echte Gefahr geraten, weil es bei Dr. Gnadenlos bestimmt zu irgendeiner Kurzschlusshandlung kommen würde. Natürlich würde er ihn nicht umbringen, aber ich bin mir nicht so sicher, ob er sich nicht was einfallen ließe, um Ford an den Kragen gehen zu können. Vielleicht ist das ein bisschen übertrieben von mir, aber manchmal habe ich echt den Eindruck, dass er den Verstand verloren hat. Zumindest aber beschleicht mich das Gefühl, dass er durchaus bereit wäre, seine Kompetenzen zu überschreiten, wenn er damit irgendwelche Schwerbrecher ins Gefängnis bringen könnte. Von daher wäre er besser Staatsanwalt geworden als Richter.

    Sally, Sie haben Ihren Beruf verfehlt, befand Philip ehrlich beeindruckt, Sie hätten Kabarettistin werden sollen. Allerdings finde ich Ihre Behauptung, Thomas würde seine Kompetenzen überschreiten, wenn er die Chance hätte, Schwerverbrecher zu schnappen, sehr gewagt, um es mal vorsichtig auszudrücken.

    Dem kann ich nur beipflichten, fügte Maggie an.

    Sally freute sich zwar über das Kompliment, aber gleichzeitig war sie auch frustriert.

    Allerdings wäre es mir lieber, er würde als Oberster Bundesrichter nicht Justice Dr. Thomas McNamara heißen, sondern Righteousness Dr. Thomas McNamara, bemerkte sie seufzend.

    Und wo ist da der Unterschied?, wollte Maggie wissen.

    Auch wenn beide Begriffe ja Gerechtigkeit bedeuten, erklärte Sally, so klingt Righteousness mehr nach Richtigkeit bzw. etwas richtig machen, während sich Justice mehr wie die personifizierte Justiz anhört, sprich, jemand hat das Recht für sich gepachtet oder sollte man besser sagen, unser Dr. Gnadenlos hat das Patent auf das Recht?

    Philip und Maggie waren verblüfft ob Sallys Schlussfolgerungen.

    Und obendrein gehört es dann zu seinen Aufgaben, den Präsidenten zu überwachen, fügte Sally noch an, und im Überwachen ist unser Kotzbrocken ja ein As. Der arme Präsident. Kaum ist der Kalte Krieg beendet, bekommt er von Dr. Gnadenlos die Hölle heiß gemacht. Hoffentlich läuft es nicht darauf hinaus, dass Dr. McNamara einen Staatsstreich durchführt, weil er seinen Willen nicht gekriegt hat.

    Ich glaube, das müssen wir nicht befürchten, wiegelte Philip grinsend ab, denn dass alles auf sein Kommando hört, das funktioniert nur hier und nicht bei der Armee. Die werden ihm was husten.

    Danke, Philip, das macht uns jetzt echt Mut, befand Sally erleichtert.

    Just in diesem Moment wurde die Tür zum Flur geöffnet, und Thomas kam von seinem Termin zurück. Er begrüßte Philip kurz, nahm ihn mit in sein Büro und schloss die Tür. Normalerweise hätte der eine Kollege dem anderen einen Kaffee oder zumindest ein Wasser angeboten, aber Kaffee kam bei Thomas eh nicht in Frage, weil er Kaffee hasste und es auch als unpassend empfand, wenn jemand in seiner Gegenwart Kaffee trank mit Ausnahme seiner Ehefrau. Bei der Schreibtischarbeit duldete er ferner überhaupt kein Getränk, weil man das ja irrtümlich hätte umstoßen können und dabei die Unterlagen verschmutzt worden wären.

    Das mit den Getränken war überhaupt ein spezielles Thema bei Thomas. Er trank so gut wie nie Alkohol, nur wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ, war er bereit, ein Glas mitzutrinken. Ganz besonders hasste er hochprozentige alkoholische Getränke, und von Rum wurde ihm so schlecht, dass er sich davon übergeben musste. Vielleicht rührte seine Abneigung gegen Alkohol auch daher, dass die Bezeichnung Rum in Amerika nicht nur für diese spezielle Spirituose, sondern auch für alkoholische Getränke im Allgemeinen stand. Na ja, und von Rum wurde ihm ja schlecht. Kaffee war ebenfalls ein Getränk auf seiner roten Liste. Bisher hatte niemand herausbekommen, warum er Kaffee derart verabscheute, aber seine Abneigung gegen dieses Getränk war fast schon krankhaft. So sehr er Kaffee hasste, so sehr liebte er Tee, und zwar schwarzen Tee. In Ausnahmefällen trank er auch Kräutertee, zum Beispiel, wenn er krank war. Aber grundsätzlich trank er schwarzen Tee ohne Milch und ohne Zucker.

    Thomas bot Philip jetzt also Platz an und setzte sich in seinen ledernen Chefsessel ihm gegenüber. Weil der Richter seinen Kollegen für einige Zeit wortlos ansah, wurde es dem langsam mulmig zumute, weil er nicht wusste, wie er das Verhalten des launischen Juristen deuten sollte. Aber was der dann vorbrachte, war für Philip der größte Triumph und fürchterlichste Schock zugleich.

    Philip, begann Thomas, und seine Augen funkelten gefährlich, heute ist ein historischer Tag. Das wird eine Sternstunde in der Bekämpfung des international organisierten Verbrechens und dort ganz speziell bei der Bekämpfung der Drogenkriminalität. Philip, ich habe heute ganz unscheinbar per Post von einem Informanten aus Washington Dokumente bekommen, mit denen ich die ganze Organisation von Drogenbaronen vernichten kann. Sie kennen ja meine beiden ‘Lieblingsfeinde’, Miguel Ramírez und Samuel J. Barclay, diese miesen kleinen Ratten. Gegen Ramírez habe ich so eindeutige Beweise in der Hand, dass ich ihn mir zur Brust nehmen und aus ihm herausquetschen kann, wer dieser Barclay ist. Damit erkläre ich diesen Halunken den Krieg. Sie haben lange genug ihre schmut­zigen Geschäfte betrieben. Aber jetzt ist Schluss damit! Das ist meine Stunde, die Stunde des Dr. Thomas McNamara! Ich werde sie einzeln an die Wand nageln und sie im Museum ausstellen lassen, als ausgestorbene Art sozusagen, wenn ich mit ihnen fertig bin. Ausgerottet von Dr. Thomas McNa­mara! Er erlegte den letzten ihrer Art. Dann kann ich Ihnen als meinem Nachfolger eine saubere Stadt New York übergeben und mich höheren Aufgaben am Obersten Bundesgericht widmen!

    Philip war wie erschlagen, als er seinen Kollegen so reden hörte. Er schüttelte den Kopf und hauchte fast tonlos: Wie?

    Wie?!, wiederholte Thomas und grinste dieses beinahe unnachahmliche Lächeln, zu dem nur sein Doppelgänger in der Lage war, wie ich das angestellt habe, meinen Sie?! Nun, vor gut achtzehn Monaten setzte sich ein Mann namens Smith mit mir in Verbindung. Er wählte diesen weit verbreiteten Namen, weil er anonym bleiben wollte und erzählte mir, er habe Anhaltspunkte, wie die Drogenmafia ihr Geld waschen würde. Gegenwärtig könnte er noch nichts Konkretes sagen, aber er würde Nachforschungen anstellen. Dazu bräuchte er allerdings absolute Diskretion und sah in mir den idealen Partner, so eine Aktion durchzuziehen. Und er wollte sich mit mir immer nur von öffentlichen Telefonen aus in Verbindung setzen. Ferner rief er stets aus verschiedenen Städten an der Ostküste an. Seine Post versandte er über ein Postfach, das er unter diesem Decknamen angemietet hatte. Damit auch in meiner Umgebung niemand Verdacht schöpfen oder Kenntnis von der Aktion erlangen konnte, bat er mich, ebenfalls ein Postfach anzumieten, und zwar unter meinem richtigen Namen. Er würde sich dann als eine Art Literaturversand für Juristen ausgeben, so dass man denken würde, Dr. McNamara hätte einen kleinen feinen Fachzirkel aufgetan. Auf diese Weise würden weder die Sekretärinnen noch andere Kollegen und Mitarbeiter noch die Familie etwas von diesen Aktivitäten erfahren. Und ich durfte ihn auf keinen Fall von mir aus kontaktieren, weder telefonisch noch schriftlich, damit niemand in seiner Umgebung erführe, dass er mit mir in Kontakt stehen würde. Das stellte allerdings auch kein Problem für mich dar, weil er in relativ regelmäßigen Abständen anrief, so dass wir uns beraten konnten. Tendenziell kontaktierte er mich auf meinem Mobiltelefon nach Dienst­schluss im Büro, wenn die Sekretärinnen schon gegangen waren. Meistens machten wir eine Zeit aus, wann er mich wieder anrufen würde, so dass ich mich darauf einstellen konnte. Und nun sind wir kurz davor, den Sack zuzubinden. Smith hat mir noch die restlichen Informationen zugesandt, die ich brauche, um die Kerle zu schnappen und vor Gericht zu bringen.

    Allerdings, Thomas machte eine Pause, fehlt noch ein einziges Detail. Smith sagte, er würde auf die Info noch warten. Es handelt sich dabei um einen Grundbuchauszug einer Immobilie in Venezuela. Über dieses Land wickeln die Schweine von Drogenbossen ihre Geldwäsche ab bzw. es ist nur ein Glied in der Kette der schmutzigen Geschäfte. Das Prinzip ist ganz einfach. Man kauft Immobilien und verkauft sie wieder und so weiter und so weiter. Nachher blickt niemand mehr durch, wer wann wo einen Kredit aufgenommen und wieder abbezahlt hat. Und wahrscheinlich will auch niemand den Durchblick haben, weil genügend Leute geschmiert oder bedroht wurden. Auf jeden Fall verkaufen diese südamerikanischen Lumpen uns nicht mehr für dumm. Und das Schönste ist, dass sie keine Ahnung haben, dass über ihren Köpfen schon das Damoklesschwert schwebt. Bisher konnten sie ihre schmutzigen Geschäfte abwickeln, und wir waren nicht in der Lage, etwas dagegen zu machen. Wenn wir mal Anhaltspunkte hatten, dann verflüchtigten sich Beweise, Zeugen und Ermittler schneller, als Schnee in der Sonne schmilzt. Aber diesmal ist das nicht so, denn jetzt kommt mein Geniestreich. Weil ich weiß, was für einen Grundbuchauszug ich brauche, werde ich selbst nach Venezuela fliegen und ihn mir besorgen. Und wissen Sie, wie ich das tarnen werde? Ich werde behaupten, dass ich meinen Bruder, mit dem ich mich vor Jahren zerstritten habe, besuchen und mich mit ihm versöhnen will. Damit kann ich bei der Bewerbung für das Bundesrichteramt noch zusätzliche Pluspunkte sammeln, und zwar egal wie es ausgeht. Denn selbst wenn das mit der Versöhnung nicht gelingt, wovon ich mal ausgehe, kann ich immer sagen, dass mein Bruder es nicht wollte. Dann soll mir noch jemand nachsagen, ich wäre nicht bereit, Streitigkeiten aus dem Weg zu räumen. Okay, soweit zu meinem Part bei der Aktion. Sollte mir aber irgendwas zustoßen, brauche ich jemanden, der eingeweiht ist und die Sache zu Ende bringen kann. Bisher wissen nämlich nur dieser Smith und ich von der Sache. Deshalb werde ich Sie morgen über Tag gründlich in dieses Material einarbeiten, damit Sie komplett im Bilde sind. Ich fliege dann am Mittwoch nach Venezuela, besorge mir am Donnerstag die Unterlagen und bin spätestens am Sonntag wieder zurück. Und am Montag werden wir unseren Überra­schungsangriff starten. Ich freue mich jetzt schon auf die völlig ungläubigen Gesichter dieser Schurken, das können Sie mir glauben!

    Philip saß da wie gelähmt. Einerseits war er begeistert, weil Thomas vor so einem großen Erfolg stand, über den sich auch er, Philip, freute. Andererseits war er entgeistert, weil sein Kollege sich in derart große Gefahr begab. Wieso konnte der nicht warten, bis dieser Smith ihm die letzte fehlende Information auch noch zuspielte? Und wenn Thomas diesen Schlag gegen das organisierte Verbrechen unter Dach und Fach gebracht hatte, konnte er doch immer noch die Versöhnungsaktion starten.

    Allerdings teilte Philip die Meinung seines Kollegen, dass das mit der Versöhnung nicht funktionieren würde. Zum einen konnte sich nur schwerlich jemand vorstellen, dass Thomas sich wirklich mit seinem Bruder Jeremiah versöhnen wollte. Er hasste und verachtete diesen doch so sehr, dass er ihn schon vor Jahren aus den Staaten vertrieben hatte. Wenn er gekonnt hätte, hätte er ihn am liebsten in den Knast gesteckt, aber unglücklicherweise hatte der kleine Bruder nichts Ungesetzliches getan. Ein netter Bursche war dieser Jeremiah McNamara. Vor allem war er aber nicht so verkniffen wie sein älterer Bruder. Er hatte eine völlig andere Lebensphilosophie, und er wollte mit dem christlichen Glauben nichts mehr zu tun haben, weshalb er sich auch selbst als bekennenden Heiden bezeichnete. Das hatte Thomas ja auf die Palme getrieben, wo jeder in der Familie McNamara gefälligst überzeugter Christ zu sein hatte. Natürlich hielt sich Thomas für einen vorbildlichen Christen, ging er doch regelmäßig zur Kirche und gehörte dem Vorstand dort an. Das war für seine Mitmenschen allerdings kein Argument dafür, wirklich Christ zu sein. Denn bei Thomas’ Verhalten konnte man durchaus anzweifeln, dass er überhaupt Christ war. Interessant wäre sicherlich auch Gottes Meinung zu diesem Thema gewesen.

    Obwohl Philip damit rechnete, dass sein Einwand jetzt nicht gerade auf Gegenliebe bei seinem Kollegen stoßen würde, wagte er sich doch vor.

    Thomas, ich schätze Sie sehr. Sie sind ein genialer Jurist, wir hatten nie einen fähigeren Richter hier in New York. Ihre Urteile waren absolut gerecht. Aber ich darf Sie auch freundlichst darauf hinweisen, dass Sie und ich Richter sind und keine Staatsanwälte. Deshalb gehört das, was Sie da vorhaben, gar nicht in unseren Kompetenzbereich...

    Entschuldigung, unterbrach ihn Thomas aufgebracht, "das ist mir auch klar. Und ich bin bestimmt nicht so dämlich, dass ich das Verfahren gegen die Drogenbosse anstrengen werde. Wenn ich aus Venezuela zurück bin, werden wir uns einen Staatsanwalt suchen, dem wir vertrauen können, damit der das Material einsetzt, um dieses ganze Verbrecherpack zur Strecke zu bringen. Und glauben Sie mir, Philip, ich werde bei all diesen Lumpen die Höchststrafe verhängen. Es ist schon ein absoluter Jammer, dass wir hier in New York die Todesstrafe nicht mehr vollstrecken, obwohl wir es dürften. Aber lebenslang in einem Gefängnis zu verrotten, wenn man zuvor im Prinzip der mächtigste Mann des Landes war, das kommt dem Tod fast gleich."

    Ich glaube, Sally hat hellseherische Fähigkeiten, dachte Philip entsetzt, okay, ich starte jetzt noch einen letzten Versuch, ihn von dieser Wahnsinnsaktion abzubringen. Und wenn er dann nicht einlenkt, lasse ich es bleiben. Er ist dann eh keinem guten Argument mehr zugänglich. Und außerdem würde ich ihm glatt zutrauen, dass er noch denkt, ich sei ein Spion, der eigentlich zur gegnerischen Seite gehört.

    Okay, das kann ich nachvollziehen, befand Philip, "aber bei einer Sache ist es mir gar nicht wohl. Thomas, warum wollen ausgerechnet Sie diesen Grundbuchauszug besorgen? Smith hat doch so gute Arbeit geleistet. Vertrauen Sie ihm nicht mehr? Ich habe eher Sorge, dass etwas schiefgeht, wenn Sie nach Venezuela fahren, und das auch noch so plötzlich. Heute ist der 10. Juli, und am Donnerstag haben wir den 13. Juli..."

    Weiter kam er nicht, weil Thomas ihn unterbrach.

    Sie sind doch nicht etwa abergläubisch, Philip?!, knurrte der Jurist verärgert.

    Wieso abergläubisch?!, erwiderte Philip irritiert.

    Weil Sie den 13. Juli so explizit erwähnen, gab Thomas zurück.

    Ich habe halt nur erwähnt, dass Sie derart plötzlich nach Venezuela reisen wollen. Es hat nichts mit dem Dreizehnten zu tun. Ich halte das wirklich für einen dummen Aberglauben mit der Dreizehn, die Pech bringen soll.

    Da bin ich aber beruhigt, befand Thomas immer noch ziemlich aufgebracht, und ich werde Ihnen zudem noch beweisen, dass die Dreizehn kein Pech bringt.

    Aber dann schoss der Richter plötzlich mit dem Oberkörper vor, stemmte die Fäuste an der vorderen Schreibtischkante auf, kniff die Augen zusammen und fauchte: Ich werde sie alle kriegen, Philip! Alle! Kein Einziger von diesen Schwei­nehunden wird mir entrinnen! Ich mach’ sie fertig! Die haben lange genug gedacht, dass ich nichts gegen sie machen kann. Ausgelacht haben sie mich. Aber das ist jetzt vorbei. Wer zuletzt lacht, lacht am Besten. Wie ich schon sagte, Philip: Ich werde sie alle einzeln an die Wand nageln und verrotten lassen! Und ich werde ein Messingschild daneben anbringen lassen: Erlegt von Dr. Thomas McNamara. Das wird der schönste Tag in meinem Leben! Und dieser Tag ist nicht mehr fern! Das wird mein größter Triumph, Philip, und Sie werden daran teilhaben!

    Philip war seinerseits ein bisschen zurückgewichen, als sein Kollege auf ihn wie ein Tiger mit gefletschten Zähnen zugeschossen kam. Etwas erschreckt murmelte er: Ja, natürlich, das wird es wohl, Thomas...

    Ich dachte mir, dass Sie davon etwas benommen sein würden, Philip, aber das macht nichts. Sowas erlebt man nicht alle Tage, ließ sich der Richter vernehmen.

    Gewiss nicht, erwiderte Philip und verdrehte innerlich die Augen.

    Der glaubt das wirklich, was er da sagt, dachte Philip, der hält sich für unverwundbar.

    Thomas hatte sich inzwischen wieder etwas beruhigt und ließ sich zufrieden in seinen Sessel fallen. Er lächelte verschmitzt und hatte ein Bein lässig über das andere geschlagen.

    Ich sehe, Sie sind immer noch baff, Philip!, bemerkte er mit sichtlicher Genugtuung, na ja, ich kann verstehen, dass Sie das erst mal verkraften müssen. Schlafen Sie einfach eine Nacht darüber, und morgen bereden wir die Details.

    Sprach’s und machte eine Handbewegung wie und nun hebe dich hinweg, mein Knappe.

    Philip stand auch gehorsam auf und wandte sich zum Gehen.

    Okay, dann bis morgen, Thomas. Obwohl, halt, wir gehen doch zu dem Empfang beim Bürgermeister?!

    Ja, sicher. Wir treffen uns um 16.00 Uhr bei mir und gehen gemeinsam hin. Ach ja, und, Philip, kein Sterbenswort zu irgendjemandem. Auch nicht zu den Sekretärinnen. Weder zu Ihrer noch zu meinen. Je weniger Leute davon wissen, desto weniger können sich verplappern und von unseren Gegnern ausgefragt werden. Sie wissen schon, was ich meine?!

    Gewiss!, antwortete Philip ergeben und verließ das Büro.

    Er schlich wie betäubt durch das Vorzimmer von Thomas’ Büro und murmelte nur leise vor sich hin: Er hat den Verstand verloren. Sally hatte Recht! Er hat tatsächlich den Verstand verloren!

    Er verließ das Vorzimmer, ohne die beiden verblüfft dreinschauenden Sekretärinnen noch eines Blickes zu würdigen, was ganz untypisch für ihn war. Denn normalerweise hatte er immer noch ein paar freundliche Worte für sie parat oder einen Scherz.

    Alldieweil rief Thomas seine Tante Laetitia an. Die hatte nämlich noch Kontakt zu ihrem anderen Neffen und somit auch dessen Adresse. Schließlich musste er ja wissen, wie er Jeremiah erreichen konnte, und außerdem wäre es sehr peinlich für ihn geworden, wenn er noch nicht einmal hätte sagen können, in welchem Ort der jüngere Bruder wohnte.

    Laetitia war extrem erstaunt, als Thomas nun von ihr diese Information haben wollte.

    Wieso willst du das von mir wissen?, wunderte sich Laetitia.

    Ich wüsste nicht, was dich das angeht, murrte Thomas, wieso kann ich nicht einfach diese Information haben?!

    Lieber Thomas, entgegnete Laetitia zuckersüß, ich bin deine Tante, nicht deine Sklavin, und von daher geht es mich sehr wohl etwas an, warum du jetzt urplötzlich die Adresse deines jüngeren Bruders haben willst, mit dem du im Prinzip dein Leben lang Streit hattest und den du seit zehn Jahren aus Überzeugung ignorierst. Wobei es eigentlich schon an ein Wunder grenzt, dass du weißt, dass ich mit ihm noch Kontakt habe, mal ganz abgesehen davon, dass du deswegen nicht auch schon den Kontakt zu mir abgebrochen hast. Also reiß dich gefälligst zusammen, und schnauz mich nicht an.

    Ja, schon gut, nahm sich Thomas zurück, na ja, es... es ist mir ehrlich gesagt ein bisschen peinlich. Wahrscheinlich war ich deshalb auch etwas... wie soll ich sagen... forsch...

    Du alter Lügner, du, dachte die Tante, dir soll etwas peinlich sein? Da lachen ja die Hühner. Ich bin mal gespannt, welche Erklärung du mir dafür präsentierst.

    Ja, also, setzte Thomas erneut an, ich, nun ja, ich habe irgendwie ein schlechtes Gewissen bekommen, weil ich schon, wie du sehr richtig bemerkt hast, mit Jeremiah im Streit liege. Ich... nun ja, ich denke, das ist nicht gut...

    Nicht gut?!, unterbrach ihn die Tante und zog die Augenbrauen hoch.

    Na ja, nicht gut halt, murmelte Thomas und gab sich zer­knirscht, ich... ich hatte letztens so etwas in meiner täglichen Bibellese, wo es darum geht, dass man nicht einen auf fromm machen soll, wenn man im Streit mit seinem Bruder liegt und so. (Liebe Leserin, lieber Leser: Dieser Roman war ursprünglich nur als gedrucktes Buch veröffentlicht und enthielt eine Anzahl von Fußnoten. Weil das bei einem e-book aus technischen Gründen nicht funktioniert, erscheinen die Informationen jetzt in Klammern hinter dem Fließtext. Dies ist der Inhalt der ersten Fußnote: Die Bibel, Neues Testament, abgekürzt NT, Evangelium nach Matthäus, Kap. 5, Verse 23 u. 24. – Sie werden diesen Hinweis, an welcher Stelle der entsprechende Inhalt in der Bibel nachzulesen ist, wiederholt finden. Wenn Sie möchten, geben Sie die Information einfach bei einer Suchmaschine ein oder schlagen Sie sie nach.).

    Aber in Wirklichkeit dachte er: Wenn Jesus Jeremiah gekannt hätte, hätte er eine Ausnahme gemacht

    Oh, dachte Laetitia, mein älterer Neffe hat schon gemerkt, dass es ein Neues Testament gibt. Er hat sich tatsächlich schon bis zum fünften Kapitel des ersten Buches desselben vorgearbeitet. Oder liest er vielleicht nur Stichproben? Das hätte Logik, weil nämlich genau in den Versen vorher davon gesprochen wird, dass man nicht zornig auf seinen Bruder sein soll, denn dann erwartet einen das Gericht. Und wenn man zu seinem Bruder Du Idiot! sagt, erwartet einen das Oberste Gericht, allerdings nicht als Oberster Richter, sondern als Angeklagter. Ob Thomas da vielleicht was missverstanden hat, wo er doch alles daran setzt, dass eben jenes Gericht ihn rufen soll? Aber eins hat er mit Sicherheit noch nicht bemerkt, obwohl das genau in dem Vers vor der Sache mit dem einen auf fromm machen steht, nämlich dass denjenigen, der seinen Bruder verflucht, das Feuer der Hölle erwartet (Die Bibel, NT, Evangelium nach Matthäus, Kap. 5, Vers 22). Aber vielleicht ist Thomas ja auch ein Racheengel erschienen und hat ihm den Kopf gewaschen.

    Na, das freut mich aber zu hören, dass du deine Meinung geändert hast, befand Tante Laetitia.

    Ja... ja, ich denke, es wird langsam mal Zeit, diesen blöden Streit aus der Welt zu schaffen. Vielleicht war ja alles nur ein Missverständnis, und ich habe etwas überreagiert.

    Missverständnis? dachte die Tante, überreagiert? Ich muss schon sagen, einerseits freut es mich, alter Junge, dass du auf einmal andere Töne an­schlägst, aber andererseits ist mir nicht wohl dabei, weil mir nicht klar ist, woher dein Sinneswandel rührt.

    Okay, dann werde ich dieser Versöhnungsaktion nicht im Wege stehen, erwiderte Laetitia jovial, ich hole nur eben mein Adress­buch.

    Kurze Zeit später war sie wieder am Apparat.

    Also, meinte sie, Jerry wohnt in San Juan de la Galdonas... hast du das?

    Ja. Ich nehme an, das ist die Stadt?

    Genau.

    Und wie heißt die Straße?

    Playa grande No. 18.

    Wie... playa grande No. 18?!

    Na, playa grande No. 18 eben!

    Das soll wohl ein Witz sein, erregte sich Thomas, haben die da unten keine Straßennamen?! So viel Spanisch verstehe ich nämlich auch noch, dass playa grande großer Strand bedeutet. Oder willst du mir etwa weiß machen, dass die da achtzehn große Strände haben?

    Thomas?!

    Ja?, knurrte dieser.

    Thomas, meinte Laetitia jetzt doch etwas verärgert, du erinnerst dich... ich bin deine Tante, nicht wahr?!

    Ja, ‘tschuldigung Tantchen.

    Oh, ein historisches Ereignis! wunderte sich Laetitia hocherfreut, Thomas McNamara entschuldigt sich. Das ist seit Jahren nicht mehr vorgekommen, jedenfalls nicht mir gegenüber. Das muss ihm aber sehr wichtig sein, diese Sache mit Jeremiahs Adresse.

    Was Jeremiahs Telefonnummer angeht, bemerkte die Tante, will ich dich direkt vorwarnen. Er hat keinen Festnetzanschluss, sondern nur ein Mobiltelefon. Er sagte, das sei für ihn günstiger...

    Ach was, unterbrach Thomas sie aufgebracht, mein Herr Bruder schwimmt also schon so sehr im Geld, dass er es sich locker leisten kann, nur ein Mobiltelefon zu haben. Oder ist er etwa derart wichtig, dass er immer und überall erreichbar sein muss?!

    Thomas, entgegnete Laetitia nun extrem verärgert, wenn du mich noch einmal so anschnauzt, lege ich sofort auf. Dann kannst du dir einen Detektiv nehmen, um herauszufinden, wie du deinen Bruder erreichen kannst. Alles klar?

    Ja, alles klar, befand Thomas jetzt doch ziemlich besorgt.

    Okay, fuhr Laetitia fort, wenn du mich nämlich hättest ausreden lassen, hättest du erfahren, dass Jeremiah sich deshalb ein Mobiltelefon zugelegt hat, damit er nicht ständig an seinem Bootsverleih präsent sein muss, um Anfragen für Buchungen entgegenzunehmen. Und wozu dann noch zusätzlich einen Festnetzanschluss haben. Aber was seine Wichtigkeit angeht, so kann ich dich beruhigen. Er ist nicht so wichtig wie du. Schließlich arbeitet er ja mit seinem Bootsverleih in der ‘Spaßindustrie’ und ist obendrein sozusagen noch käuflich. Im Gegensatz dazu leistest du einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Welt und bist obendrein unbestechlich.

    Irgendwie musste ich ihm das jetzt aufs Brot schmieren, dachte Laetitia, ich bin zwar sonst nicht so zynisch, aber es war die perfekte Gelegenheit. Schließlich musste er sich diese Kritik jetzt anhören, weil er ja noch nicht Jeremiahs Telefonnummer hat. Bin mal gespannt, ob er, sobald er diese Information hat, mir sozusagen noch einen reinwürgt.

    Ich könnte sie köpfen, dachte Thomas, sie nutzt die Situation scham­los aus, weil sie weiß, dass ich mich zusammennehme, um noch diese Telefonnummer zu bekommen.

    Aber um nochmal auf das eigentliche Thema zurückzukommen, bemerkte Laetitia, meine Vorwarnung bezüglich des Mobiltelefons bedeutet, dass die Verbindung oft sehr schlecht ist. Manchmal hat man kein Netz oder so. Du kannst Jeremiah dann aber eine Nachricht in Josés Bar hinterlassen. Er geht da regelmäßig hin, eigentlich jeden Tag. Wenn einmal nicht, dann würde José ihm die Nachricht zukommen lassen.

    Thomas wollte gerade Luft holen, aber Laetitia kam ihm in weiser Voraussicht zuvor.

    Und damit du nicht denkst, dein Bruder wäre Alkoholiker, so sei dir gesagt, dass man das in Venezuela ein bisschen anders sieht, wenn man sich in einer Kneipe oder einer Bar trifft. Das hat was mit Geselligkeit zu tun und mit Familiengefühl. Man könnte es durchaus so formulieren, dass die Leute in San Juan Jeremiahs neue Familie sind. Und es sei ihm gegönnt, wo er doch in seiner Heimat leider eine nicht gerade angenehme Familiensituation hatte.

    Laetitia konnte sich bildlich vorstellen, wie Thomas seinen Mund jetzt wieder zuklappte und musste schon etwas lächeln.

    Wie schnell kann man falsche Schlüsse ziehen, dachte sie, wenn man bestimmte Bilder im Kopf hat oder voreingenommen ist.

    Und jetzt gebe ich dir mal eben die beiden Telefonnummern, fügte sie noch an.

    Thomas notierte sich die Zahlen und wiederholte sie vorsichtshalber noch einmal. Bei Josés Nummer hatte er einen Zahlendreher drin und korrigierte ihn umgehend.

    Ich halte es aber eher für unwahrscheinlich, bemerkte er, dass ich bei diesem José anrufen werde. Das muss nicht sein. Außerdem befürchte ich, dass meine Spanischkenntnisse dazu nicht ausreichen. Ferner habe ich mir überlegt, dass ein Überraschungsbesuch bei Jeremiah vielleicht ganz nett wäre. Könnte doch sein, dass er sich darüber freut, wenn ich so unvermutet auftauche und mich mit ihm versöhnen will.

    Ja, wenn du meinst, entgegnete die Tante etwas unsicher.

    Ja, ich denke, das ist eine gute Idee, bestätigte Thomas, und danke, Tantchen, dass du mir diese ausführlichen Informationen gegeben hast. Du hast mir damit sehr geholfen. Mach’s gut. Ich hab’ dich lieb.

    Und damit legte Thomas einfach auf. Laetitia guckte etwas überrascht in den Hörer, aus dem nur noch ein leises tüt, tüt, tüt wimmerte.

    Thomas McNamara, murmelte sie fassungslos, wenn dir dein Vater Victor eine Sache beigebracht hat, dann ist es die, dass du absolut unverfroren lügen kannst, ohne an deinem Christsein zu zweifeln. Du hast in diesem Telefonat bestimmt ein halbes Dutzend Mal gelogen. Ich weiß schon, warum ich mit meinem Bruder nicht klar kam. Wie gut, dass Victor und ich uns aus dem Weg gehen konnten. Zumindest aber waren wir nicht verfeindet. Allerdings muss ich ehrlich sagen, dass du mir auch leid tust, Thomas. Wie konnte dich dein Vater nur derart fanatisieren? Auch wenn du dich unmöglich benimmst, so hast du doch einen guten Kern, das weiß ich. Du willst die Welt verbessern, indem du die Bösen bestrafst und die Gesetzesbrecher ins Gefängnis wirfst, aber du hinterlässt nur eine Fährte des Grauens. Wie schrecklich musst du unter Druck stehen, dass du mit so viel Energie deine Ziele verfolgst? Manchmal denke ich, dass du furchtbare Schmerzen hast, Thomas, und dass dich niemand heilen kann, weil du keinen an dich ranlässt. Eigentlich kann dich nur Gott heilen, auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie er das machen will. Nicht dass ich Gott für unfähig halte, bei ihm ist nichts unmöglich. Aber Gott zwingt auch niemanden zu irgendetwas. Grundsätzlich ist der freie Wille, den er uns Menschen gegeben hat, ein unglaubliches Privileg, und gleichzeitig beinhaltet er eine hohe Verantwortung. Verantwortung für mich selbst und automatisch auch für meine Umwelt. Und da sind wir wieder bei Thomas. Er braucht eine neue Willenseinstellung, eine neue Überzeugung. Deshalb sollten wir uns gar nicht erst den Mund fusselig reden und Thomas überzeugen wollen, sondern Gott bitten, dass er diesen fanatisierten Mann heilt. Und genau das werde ich jetzt tun, auch wenn ich mir dabei ein bisschen schäbig vorkomme. Denn irgendwie wirkt das auf mich wie der letzte Notnagel. Das ist doch allgemein unsere Einstellung, wenn wir keinen Ausweg mehr sehen. Dann sagen wir: Jetzt hilft nur noch beten und hoffen. Und eine Sache kommt noch hinzu. Wenn ich ganz ehrlich in mich hineinhorche, muss ich zugeben, dass ich den Eindruck habe, dass es Gott gar nicht so wichtig ist, Thomas zu verändern. Es scheint ihn doch überhaupt zu interessieren, was mit Thomas passiert.

    Teil 1 – Kapitel 2

    Wer ist der Mann auf dem Foto?!, wollte Eugenio wissen.

    Welcher?, entgegnete Jerry, ohne aufzusehen.

    Da, der hier!, Eugenio hielt das Foto in Jerrys Richtung und deutete auf die Person, die er nicht kannte.

    Jerry seufzte, weil er keine Lust hatte, mit Eugenio Fotos zu begucken, während er Ausbesserungen an seinen Booten vornahm, legte aber den Pinsel beiseite.

    Zeig mal. Welchen meinst du?!

    Na, den hier, der direkt neben dir steht!

    Oh nein, wo hast du das Foto her, Eugenio?!, fuhr Jerry ihn an und wollte ihm das Bild aus der Hand reißen. Aber Eugenio war schnel­ler und zog die Fotografie blitzartig zurück.

    Eugenio!, meinte Jerry drohend, du gibst mir jetzt sofort dieses Foto!

    Wieso regst du dich so auf, amigo?!, wehrte Eugenio mit einer lässigen Handbewegung ab, ist doch ein nettes Foto. Ein Familienfoto, nicht wahr?

    Ja, und deshalb gehört es mir. Wo hast du es her?!

    Jerry schnaubte noch immer vor Wut.

    Aus dem Stapel Altpapier, den du mir vor einigen Tagen gegeben hast, erwiderte Eugenio grinsend, es muss dir ja wahnsinnig viel bedeuten, wenn du es im Altpapier aufbewahrt hast. Oder war das nur ein gutes Versteck, weil es so wertvoll ist? Komm schon, sei nicht mehr sauer und erzähl deinem alten Kumpel, wer der Typ neben dir ist!

    Eugenio wurde jetzt erst recht neugierig, weil er merkte, dass Jerry sich aufregte. Das war so gar nicht die Art seines Freundes. Der hatte sonst immer gute Laune. Deswegen hatten die Leute aus San Juan de las Galdonas ihn auch Solimár getauft, was so viel bedeutete wie Sonne und Meer. Der Amerikaner strahlte stets wie die Sonne und war so spritzig wie das Meer. Manche Leute behaupteten auch, es läge an seinen Augen. Sie waren blau wie das Meer und strahlten wie die Sonne. Auf jeden Fall aber strahlte Jerry Lebensfreude aus, man hätte förmlich sagen können, dass die Freude in ihm zuhause sei. Von daher passte dieser Spitzname sehr gut zu ihm. Und vor allem hatte der nicht so eine frustrierende Bedeutung wie sein richtiger Vorname. Durch Zufall hatte er von einem Pater hier vor Ort erfahren, dass Jeremiah Hebräisch war und übersetzt Gott hat ihn verlassen hieß.

    Na fein, hatte Jerry gedacht, ich wusste ja schon aus der Sonntagschule, dass es da im Alten Testament diesen Propheten namens Jeremiah gab. Der hatte immer nur Schwierigkeiten, wurde permanent von irgendwelchen Wichtigtuern fertiggemacht und war nachher schon fast depressiv. Von daher konnte ich meinen Vornamen eh nicht leiden. Voll der Versagername. Und wenn ich mir überlege, dass er obendrein noch eine Versagerbedeutung hat, dann wundert mich nichts mehr. Wahrscheinlich hat mein Vater das extra gemacht, dass er mir einen Versagernamen verpasst hat. Aber mir das dann ständig vorzuhalten, dass ich ein Versager bin, das finde ich echt sowas von gemein! Und wenn wir schon mal bei Namensbedeutungen und diesen ganzen Parallelen sind, dann wäre es viel sinnvoller gewesen, wenn mein ätzender Herr Papa meinen großen Bruder Zedekiah genannt hätte, weil so auch der König in der Bibel hieß, der den Propheten Jeremiah immer fertiggemacht hat. Aber wer konnte schon ahnen, dass ich noch geboren werden würde? Und schließlich konnte diese Nervensäge von meinem Vater seinen Lieblingssohn Thomas nicht mehr in Zedekiah umbenennen. So ein Pech aber auch. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, dann passt der Vorname Thomas wirklich sehr gut zu meinem Bruder Besserwisser. Thomas war doch der Jünger von Jesus, der das mit der Auferstehung erst glauben wollte, wenn er seine Hände in Jesu Wunden legen konnte. (Die Bibel, NT, Evangelium nach Johannes, Kap. 20, Verse 24 – 29) Das hätte mein Bruderherz bestimmt genauso gesehen, nur dass das dem Herrn Richter noch nicht gereicht hätte. Er hätte mit Sicherheit von Jesus noch Fingerabdrücke genommen und sie kriminaltechnisch untersuchen lassen.

    Tatsache war aber ferner, dass die Einheimischen sich gern gegenseitig Spitznamen verpassten. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft, die zusammenhielt, und Jeremiah McNamara gehörte schon seit langem zu ihnen, hatte er doch alles in seiner Heimat hinter sich gelassen, um hier bei ihnen nochmal von vorn anzufangen. Von daher fand Jerry es ganz angenehm, dass die Leute hier ihm so einen netten Spitznamen verpasst hatten. Der klang sehr attraktiv und machte sich besonders gut bei den Damen. Vor allem die ausländischen Touristinnen ließen sich von sowas schwer beeindrucken. Ein bisschen charmanter Augenaufschlag, einen Drink spendiert oder zum Tauchen, Segeln oder Fischen eingeladen, schon wurden sie weich. Wenn man ihnen dann noch gestattete, ihn mit diesem Spitznamen anzureden, was nur gute Freunde durften, hatte man sie schon so gut wie rumgekriegt. Manche Frauen schienen es auch förmlich darauf abgesehen zu haben, ein Abenteuer mit ihm zu erleben. Ihm sollte es recht sein, schließ­lich hatte er keine feste Freundin. Und wenn er schon einen derart elenden Vornamen hatte, so war er wenigstens mit einem äußerst attraktiven Aussehen gesegnet. Das machte sich in seiner Branche besonders gut. Als Bootsverleiher mit seinem charmanten Auftreten und smarten Aussehen hatte er schon so manchen Gast eingewickelt. Jerry betrog nicht, aber er verstand es auf eine unnachahmliche Art, Leute dazu zu bewegen, sich ein Boot bei ihm zu mieten, ohne dass er dabei aufdringlich gewirkt hätte. Er wäre wahrscheinlich ein unheimlich erfolgreicher Vertreter geworden, der einen Kunden hätte überzeugen können, direkt zwei Waschmaschinen zu kaufen, damit man eine in Reserve hatte, falls die andere mal nicht funktionierte. Allerdings hätte man ihn nicht dazu bewegen können, Vertreter zu werden. Erstens hätte er das total aufdringlich gefunden, zweitens hätte man dann ständig mit Schlips und Kragen herumlaufen müssen - was Jerry hasste - und drittens hätten seine Bosse ihn wieder einen Versager geschimpft, wenn er irgendwelche Vorgaben nicht erfüllte. Nein danke, das mit dem Versager hatte er oft genug gehört. Aber hier war er sein eigener Herr, und niemand redete ihm herein. Niemand verlangte, dass er Rücklagen bildete, sich um eine Altersversorgung bemühte oder Berge von Verantwortung übernahm. Er lebte jetzt, nicht erst in zwanzig Jahren. Sowas würde sein langweiliger Bruder Thomas niemals verstehen. Der würde seine kleine Hütte am Strand sicher nur mit einer Flasche unverdünntem Desinfektionsmittel in der Hand betreten aus Angst, sich alle möglichen Krankheiten zu holen. Dabei war es doch ganz hübsch dort. Ein bisschen unaufgeräumt vielleicht, aber wer Ordnung hält, ist nur zu faul zum Suchen, und es fand sich immer alles wieder. So wie dieses Foto, das Eugenio ihm jetzt unter die Nase hielt. Eigentlich hatte Jerry es für immer in Eugenios Ofen entsorgen wollen. Aber irgendwie war es in Eugenios Hände geraten, bevor es den Flammen zum Opfer fallen konnte.

    Das ist eine ganz private Angelegenheit, und es geht dich überhaupt nichts an, konterte Jerry.

    Solimár, du siehst aus wie eine Gewitterfront! Was ist los, dass du so ärgerlich wirst?, Eugenio sah etwas besorgt drein, ich wollte dich nicht kränken, ehrlich!

    Dann kram nicht in meinen Privatsachen, ereiferte sich Jerry, wieso hast du das Foto überhaupt? Es war im Altpapier, das ich dir zum Anzünden des Holzes gebe, mit dem du die Fische räucherst. Also schnüffele gefälligst nicht darin herum!

    Nun mach’s mal halblang, Solimár, redet man so mit seinem langjährigen Freund? Wir haben uns immer über alles unterhalten. Du hast mir sogar erzählt, wie die Touristinnen, die du aufgerissen hast, im Bett waren, und nun bist du so stachelig wegen dieses Fotos?! Was stimmt damit nicht?

    Eugenio hatte langsam die Nase voll.

    Sorry, Eugenio, es ist nur, weil ich das Foto nicht mehr haben wollte und dachte, es verbrennt mit dem anderen Papier. Ich habe halt ausgemistet. Und ich hatte Skrupel, es selbst zu verbrennen, obwohl das blöd ist. Ich dachte, wenn du es tust, dann weiß ich nichts davon, und nun präsentierst du es mir. Ich wollte daran einfach nicht erinnert werden.

    Der andere Mann ist dein Bruder, nicht wahr?, mutmaßte Eugenio, ist er tot? Ist das der Grund, warum du daran nicht erinnert werden willst? Hey, ich bin dein Freund, mir kannst du es sagen! Und ich sag’s auch keinem weiter. Ehrenwort!

    Eugenio legte seinem Freund die Hand auf die Schulter.

    Es wäre jedenfalls nicht schade um ihn, wenn er tot wäre, entgegnete Jerry finster, ja, du hast Recht, der andere ist mein Bruder. Mein Bruder Superschlau. Weißt du, was noch zehnmal schlimmer ist, als impotent zu sein? Einen solchen Bruder zu haben. Er ist der geborene Besserwisser, weshalb er auch Jurist geworden ist. Sollte er es jemals schaffen, Bundesrichter der Vereinigten Staaten zu werden, werden die USA binnen kürzester Zeit ein totalitärer Staat sein, gegen den die Militärdiktaturen Südamerikas wie spielende Kinder im Sandkasten anmuten. Alles hört auf sein Kommando. Hör zu, Eugenio, ich will an diesen Kotzbrocken nicht mehr erinnert werden. Also, gib jetzt das Foto her!

    Einen Moment noch, meinte Eugenio und betrachtete die Aufnahme ein letztes Mal gründlich, eigentlich sieht er ganz nett aus. Sym­pathisch...

    Aber Jerry hatte ihm das Foto schon aus der Hand gerissen und holte aus der Hosentasche ein Feuerzeug.

    Jetzt ist endgültig Schluss damit!, meinte er grimmig und zündete das Bild an, mein Bruder ist nicht sympathisch!

    "Ich habe auch nicht behauptet, dass er sympathisch ist, sondern nur, dass er sympathisch aussieht, rechtfertigte sich Eugenio, ist immer schade, wenn es in der Familie nicht stimmt."

    Ihr seid jetzt meine Familie, erwiderte Jerry, diese Spießer in den Staaten konnten noch nie was mit mir anfangen. Aber ihr! Ihr lebt ein einfaches aber fröhliches Leben ohne all die spießbürgerlichen Zwänge und Wertvorstellungen. Zu sowas wären diese Amerikaner nie fähig. Die mühen sich von morgens bis abends ab, bekommen mit fünfzig einen Herzinfarkt und zum Dank noch einen Tritt in den Hintern. Dann kannst du froh sein, wenn du mit fünfundfünfzig nicht als Penner unter einer Brücke schlafen musst, weil die Arzt- und Krankenhauskosten deine Ersparnisse aufgefressen haben, deine Frau dich wegen eines anderen, erfolgreicheren Mannes verlassen und dich obendrein noch auf Unterhaltszahlungen verklagt hat. Nein danke, ich will heute leben. Und ihr bequatscht mich wenigstens nicht, dass ich alles falsch mache.

    Jerry hatte die Asche in den Sand fallen lassen und verteilte sie mit dem Fuß, als hätte er Angst, das Foto könne sich wie von Geisterhand wieder zusammensetzen. Nun war es in alle Winde verweht oder besser gesagt versandet. Auf nimmer Wiedersehen. Gut so.

    Jerry wandte sich wieder seinen Malerarbeiten zu und strich mit geradezu zärtlicher Liebe den Bug eines seiner Boote an.

    Eugenio betrachtete den Freund mit schiefgelegtem Kopf. So hatte er Solimár selten erlebt. Dieser Bruder musste ihm schwer zugesetzt haben. Eugenio war tief betroffen. Der Freund hatte nie einen Bruder erwähnt. Auch von seiner Familie hatte er so gut wie nicht gesprochen. Als der Amerikaner damals bei ihnen auftauchte, dachten sie zuerst, er habe etwas mit Drogen zu tun. Kein Amerikaner hatte es bisher als besonders erstrebenswert angesehen, an diesem venezolanischen Ort auf Dauer zu leben. Die Touristen, die hier ihren Urlaub verbrachten, schwärm­ten zwar von der schönen Landschaft, dem Strand und der Idylle, aber keiner war darauf erpicht, auf seinen gewohnten Komfort zu verzichten. Sie hätten niemals so wohnen und leben wollen wie die Einheimischen.

    Deshalb waren die Fischer und anderen Einwohner sehr argwöhnisch gewesen, als Jerry auf der Bildfläche erschien. Amerikaner, die sich auf Dauer hier ansiedelten, waren nicht selten in undurchsichtige Geschäfte verwickelt. Mit solchen Sachen wollten die Leute in San Juan nichts zu tun haben.

    Jerry hatte damals irgendetwas davon erzählt, dass er aus gesundheitlichen Gründen in einem anderen Klima leben müsste, hatte ein hochgestochenes Zeug zum Besten gegeben, das sich sehr logisch anhörte und allen einleuchtete. Außerdem hatte er versichert, dass seine gesundheitlichen Probleme nicht ansteckend seien und dass es ihm bestimmt bald schon besser gehen würde, wenn er erst einige Zeit hier wäre. Tatsächlich ging es Jerry schnell besser, was seine Glaubwürdigkeit erhöhte. Zudem sah er völlig fit aus. Und er hatte von Anfang an gefragt, wo er sich nützlich machen könnte. Er wolle einfach nur ein bisschen leben und brauche keinen Komfort. Weil er auch keine Sonderwünsche anmeldete oder Empfindlichkeiten zeigte, akzeptierten ihn die Einheimischen schnell als einen von ihnen. Und er brach­te sie zum Lachen. Schließlich hatte er sich mit Hilfe der Leute vor Ort eine kleine Existenz aufgebaut. Als Bootsverleiher war er sein eigener Herr, niemand schrieb ihm vor, wann und wie viel er zu arbeiten hatte. Und deshalb arbeitete er manchmal nur, wenn er Lust dazu hatte oder das Geld gerade mal wieder knapp geworden war. Oft half er auch seinen Freunden aus, wenn die besonders viel zu tun hatten. Für die Leute hier war Jerry die längste Zeit ein US-Amerikaner gewesen, auch wenn er noch die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß. Sie warteten allerdings nur noch darauf, dass er einen Antrag auf Einbürgerung stellte. Genau das hatte Jerry auch vor. Aber man musste ja nichts überstürzen. Es eilte ja nicht.

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