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Durch und durch
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eBook268 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

"Durch und durch" nimmt uns mit auf eine Zeitreise in das Jahr 1953. Eigentlich will die junge Lehrerin Lisa sich ganz ihrer neuen Aufgabe widmen und ihre Schülerinnen auf einem Düsseldorfer Gymnasium auf die neue Zeit mit demokratischen Werten vorbereiten. Aber dann taucht der Kunstlehrer und Galerist Nollendorf in ihrem Leben auf und bringt Lisa dazu, ihren Lebensplan zu überdenken.
Skurrile Personen in einer Pension, eine attraktive Schülerin, englische Soldaten, der 17. Juni und Napoleons Ägyptenfeldzug sind einige der Stationen, die LIsa auf ihrem Weg nach Umbrien begleiten, wo sie zu ihrer eigentlichen Berufung findet.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum4. Dez. 2015
ISBN9783738050110
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    Buchvorschau

    Durch und durch - Hendrik Asten

    Über das Buch

    Es ist 1953 als Lisa ihre Stelle als Lehrerin antritt. Durch den Kollegen und Galeristen Kurt Nollendorf kommt sie jedoch wieder mit der Malerei in Berührung, ihrer eigentlichen Leidenschaft. Als ihr Jugendfreund aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, kann sie sich ein Leben an seiner Seite als Hausfrau nicht mehr vorstellen. Kunst, Kurt und die Schülerin Marion erwecken in ihr ein anderes Bedürfnis. Ein delikater Vorfall an ihrer Schule erleichtert ihre Entscheidung, in Italien einen neuen Anfang als Malerin zu versuchen. Der Weg dahin ist nicht ganz einfach, aber sie ist nicht alleine.

    1944 - Gut Hollstein

    Es wird bald vorbei sein. Ein Tupfer Blau. Herbert ist der Richtige und er hat Glück. Es wird bald vorbei sein. Er riecht so herb, angenehm herb, nicht wie alter Schweiß, nicht wie Knecht Alfred. Die Felder – mehr Braun. Es ist schon geerntet. Ein Herbstbild. Dieses Licht! Durch die aufsteigende Feuchtigkeit verwischen die Konturen. Ja, sie hat gehört von den Impressionisten. Sie, die nie so malt, heute ist sie eine Impressionistin. Wie lange noch?

    „Jetzt ziehen sie auch die ganz Jungen und die Alten. Bauer Hollstein schüttelt heftig den Kopf. Vor sich hat er den „Völkischen Beobachter. Die Ärmel hochgekrempelt hält er das Blatt weit von sich, als wolle er es nicht an sich heranlassen. Er liest: „Deutsche, wir müssen kämpfen und alle Kraft aufbieten."

    Die Frau blickt auf. „Herbert, fragt sie mit flacher, kraftloser Stimme. „weiß Lisa es schon?

    „Ich habe ihr gesagt, dass Alfred vergessen hat, die Zeitung zu holen. Herbert wird es ihr wohl heute selbst sagen."

    „Wie lange noch?", fragt sie, ohne mit einer Antwort zu rechnen.

    Lisa tupft gerade braune und gelbe Blätter auf die Leinwand, als sie am Himmel eine Bewegung wahrnimmt: Schwäne im Schwarm. Weißgrau gegen Blau. Sie schüttelt den Kopf und dann malt sie sie doch, denn es wird bald vorbei sein.

    In ihrem Zimmer stellt Lisa die Staffelei in die Ecke und das Schwanenbild zu den anderen, die aneinander gelehnt an der Wand stehen. Sie wechselt ihre Kleidung, tauscht Rock und Bluse gegen Baumwollhemd und Männerhose. Der Vater empfängt sie im Stall nur mit einem kurzen Nicken, fragt nicht, ob sie Glück hatte. Es liegt etwas in der Luft, aber was? Sie nimmt eine Forke und beginnt ihre Arbeit. Immer wieder blickt sie hoffnungsfroh zur Tür, was der Vater zur Kenntnis nimmt.

    Herbert strampelt vergnügt gegen den Wind. Der Feldweg ist holprig und er muss oft den Unebenheiten ausweichen. Aber das macht er beschwingt und nahezu elegant. Schließlich hat er heute die frohe Botschaft bekommen. Was will ein Mann mehr? Endlich dabei! Schon vor dem Hof klingelt er und ruft nach Lisa.

    Im Stall hören Lisa und der Vater Herberts Fahrradklingel. Lisa blickt fragend zum Vater, der wieder nur nickt. Sie läuft jedoch nicht auf den Hof, sondern durch die Hintertür ins Haus.

    In der Küche steht die Mutter.

    „Zieh doch dein neues Kleid an."

    „Das Neue? Ist was?"

    „Nein, nein, nur so."

    Auch die Mutter ist heute anders, denkt Lisa. In ihrem Zimmer wäscht sie sich an der Waschschüssel und blickt zwischendurch immer wieder durch das Fenster auf den wartenden Herbert. Aber sie nimmt nicht das neue Kleid.

    Dann sitzt sie vor Herbert auf der Fahrradstange. Sie singen. Herbert weicht im letzten Moment vor einem Stein aus, das Fahrrad schlingert und Lisa jauchzt. Aber sie schaffen es, nicht umzustürzen. Am Rand einer Lichtung streicht Herbert ihr sanft über den Rücken. Lisa genießt es, bleibt aber in züchtiger Haltung und hält schließlich seine Hand fest.

    „Ich kann es mir schon vorstellen: Wir werden in der Stadt wohnen, eine große Familie haben und …"

    „Und …"?

    „Endlich ins Theater, in die Oper, ins Museum gehen können."

    „Davon träumst du?", fragt er skeptisch.

    „Ja! Du nicht?"

    „Wir sind im Krieg, Lisa."

    „Aber der wird doch bald vorbei sein. Und du wirst nicht belangt werden können, weil du nicht dabei warst."

    „Doch, Lisa, ich werde dabei sein. Ich habe meine Einberufung erhalten."

    Lisa ist entsetzt. „Nein! Jetzt noch?"

    „Ich bin stolz darauf, schließlich bin ich ein Mann!"

    „Du bist ein kleiner dummer Junge, wenn du dich auf den Krieg freust. Du musst dich verstecken, es hat doch keinen Sinn mehr", versucht sie es mit zitternder Stimme.

    „Doch, Lisa, das hat es, wenn wir alle daran glauben. Herbert steht auf, verschränkt die Arme. „Soll alles umsonst gewesen sein? Alles, was in den letzten Jahren wichtig war? Die vielen Opfer, die Entbehrungen, die Ideale. Unsere Aufgabe ist eine ganz große!

    Lisa schüttelt den Kopf: „Das ist wohl nicht mehr so", sagt sie und blickt ratlos von unten auf den Möchtegernmann, der sein Kinn, wie ein Soldat beim Befehlsempfang, entschlossen nach vorne streckt, der jetzt um so viel mehr ernster wirkt, als sie ihn kennt. Bald wird es vorbei sein, denkt sie wieder, aber diesmal beruhigt es sie nicht. Sie hat Angst.

    „Lisa, ich tue nur meine Pflicht!" Auch seine Stimme ist nicht mehr dieselbe.

    Nun steht auch Lisa auf, blickt aus Verlegenheit auf die Lichtung, weil sie nicht weiß, wie sie ihm begegnen soll. Sie als Soldatenbraut. Dann schaut sie ihm in die Augen, will es noch einmal versuchen. Vielleicht kann sie ihn doch umstimmen, ihn an die gemeinsame Zukunft erinnern. Oft hat ihr Blick ihn erweichen, von etwas abbringen können. Aber als sich ihre Blicke treffen, wird ihr klar, dass es diesmal anders ist.

    „Es geht wohl nicht anders?"

    Herbert schüttelt den Kopf.

    Lisa umarmt ihn fest, sehr fest, will ihn halten, festhalten. Aber es ist, als ob sie einen Stein umarmt. Er lässt sich eher zerdrücken, als dass er weich wird und sie spürt.

    „Wenn wir alle zusammenhalten, haben wir es bald geschafft. Wartest du auf mich?"

    Obwohl es nicht der Herbert ist, den sie kennt, bleibt ihr nichts anderes übrig, als mit „Ja!" zu antworten.

    „Versprochen?", fragt er. Und jetzt liegt ein wenig Wehmut in seiner Stimme, als ob der Stein nicht alleine Stein sein könne.

    „Versprochen!", sagt sie und fragt sich, ob es falsch war, es zu sagen. Vielleicht hat sie die winzig kleine Chance vorbei streichen lassen, ihn zurückzuholen. Aber es ist Krieg und der wird hoffentlich bald vorbei sein.

    In der Küche wird schweigend gegessen. Hollstein, die Mutter und der Knecht Alfred widmen sich den Kartoffeln und dem Kohl. Fleisch gibt es nur sonntags. Lisa isst nicht, auch wenn die Mutter sie immer wieder sorgenvoll anblickt. Es ist Alfred, der ihre Portion bekommt.

    „Warum isst Herbert nicht mit?", fragt die Mutter.

    „Er packt. Darf ich gehen?", fragt Lisa und blickt den Vater an.

    „Ja Lisa. Du brauchst heute nicht aufräumen. Heute nicht. Geh!"

    In ihrem Zimmer ringt Lisa mit den Tränen, sie schaut sich ihre Bilder an. Vorwiegend Landschaften, aber auch zwei Porträts von Herbert. Sie nimmt das letzte Bild, das Bild mit den Schwänen und übermalt die Vögel. Schwäne passen nicht ins Bild. Vielleicht, wenn sie zurückkommen. Es bleibt eine leere Lichtung.

    Mai 1945

    Die Familie Hollstein und Knecht Alfred hören gespannt Radio.

    Am frühen Morgen unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl die Kapitulation im Hauptquartier der Alliierten in Reims. Der Krieg ist demnach vorbei. Sie meine Damen und Herren werden aufgerufen, Ruhe … "

    Hollstein ist aufgestanden und hat das Radio ausgeschaltet. Er fasst seiner Frau an die Schulter, die daraufhin auch aufsteht und ihn umarmt. Sie schluchzt. Lisa nähert sich ihr und streicht ihr über die Haare, schließlich umarmt die Mutter auch sie. Alfred sitzt jetzt alleine.

    „Alfred", sagt die Mutter und fordert ihn auf, zu ihr zu kommen. Doch Alfred wendet den Blick ab und geht hinaus. Die anderen blicken ihm verständnislos hinterher.

    „War er einer von ihnen?", fragt Lisa.

    „Man ist nie aus ihm schlau geworden", sagt die Mutter.

    „Er hat den letzten Krieg mitgemacht. Schon das hat er nicht verkraftet", erklärt Hollstein.

    „Aber er hat fast nie darüber gesprochen."

    „Lasst ihn doch, sagt die Mutter. „An was soll er denn jetzt glauben? Sie wendet sich an Lisa. „Lisa, jetzt wirst du Herbert bald wieder sehen."

    1947 - Gut Hollstein

    Zwei Jahre später trägt der Briefträger keine Hakenkreuzbinde mehr und auch die Nachricht ist eine bessere: Lisa wird in einen Lehrgang für die Lehrerausbildung aufgenommen. Sie verlässt den elterlichen Hof und zieht nach Lüdenscheid, die nächstgrößere Stadt. Sie ist ehrgeizig und holt ihr Abitur nach, denn sie möchte unbedingt an einem Gymnasium unterrichten. Für das Malen hat sie keine Zeit mehr. Wozu soll es gut sein? Sie will wissen, warum das geschehen ist, was geschehen ist und belegt Deutsch und Geschichte. Was ist in der deutschen Geschichte falsch gelaufen? Hätte man die Entwicklung verhindern können?

    Düsseldorf

    Es ist 1953 als sie ihre Ausbildung mit dem Lehrerexamen beendet hat. Sie besucht noch einmal den Hof der Eltern. Da der Vater kaum noch arbeiten kann, haben sie den Hof verkleinert. Sie halten keine Tiere mehr. Das hat den Vorteil, dass sie nicht regelmäßig früh aufstehen müssen. Die Mutter träumt davon, auch den Rest zu verkaufen und den Lebensabend in Italien zu verbringen. Von Italien hat sie viel von ihrem Schwager gehört, der dort schon länger lebt. Aber das kann Vater sich nicht vorstellen. Er, als Sauerländer, kann seinen Hof nicht verlassen. Und der Knecht Alfred ist immer noch da. Nicht da, sondern in der Nähe. Er hat die Tierhaltung übernommen und kauft sich nach und nach frei. Demnächst wird ihm ein Teil des Hofes gehören. Er hat sich mit den Engländern arrangiert und beliefert deren Kasernen mit Milch und Fleisch. Auch hat er jetzt eine Frau, die ihm hilft. Der Alfred grämt nicht mehr.

    Für die Mutter tut es Lisa leid, aber sie muss nach Düsseldorf und steigt in den Zug. Neben einem Koffer führt sie eine Mappe mit ihren Bildern mit sich. Vielleicht kann sie die Bilder verkaufen, denn sie hat nicht viel Geld und das Leben in einer Großstadt ist bestimmt nicht billig. Herberts Eltern, die Mühlbecks, haben ihr eine preisgünstige Pension besorgt. Sie sind nach dem Krieg nach Düsseldorf gezogen, wo Mühlbeck sich wieder selbständig gemacht hat. In der Umgebung des Dorfes hatte er als ehemaliger Nazi keine Chance. Obwohl er kein Hundertprozentiger gewesen war, mieden die Leute den Kontakt zu ihm und kauften lieber woanders ihre Lebensmittel. Das fand Lisa feige, weil die meisten nicht anders dachten als er und jetzt drehten sie ihr Fähnlein nach dem Wind.

    Die Mühlbecks, die es inzwischen wieder zu einigem Wohlstand gebracht haben, hatten ihr angeboten, bei ihnen zu wohnen. Doch sie hatte abgelehnt. Nein, das wäre ihr doch zu nah und zu ungewiss gewesen. Was, wenn Herbert nicht mehr zurückkäme?

    Der Dampf der Lokomotive verklärt den Blick auf vorbeihuschende Dörfer und Felder. Im Abteil sitzen zwei weitere Frauen, etwa in Lisas Alter. Die eine ganz elegant in einem glockenförmigen Kostüm und mit einer Frisur, wie sie sicher nur ein Großstadtfriseur zustande bringt. Die andere schlicht und unauffällig. Ihr gehört ein großer Karton, der mit einer Schnur zusammengebunden ist. Die Schlichte rutscht immer wieder auf der Sitzbank hin und her, als wüsste sie nicht, wie sie richtig sitzen soll. Die Elegante betrachtet selbstzufrieden ihre Fingernägel, zupft den Rock zurecht und fährt sich vergewissernd über die Haare. In ihrer Vorstellung tauscht Lisa die Kleidung der Frauen und gibt der Schlichten eine andere Frisur. Obwohl ihrem Gesicht etwas Herbes innewohnt, könnte sie sich durchaus als Schönheit behaupten. Aber das hat sie offensichtlich gar nicht vor, denn sie will nur ein Paket ausliefern und nicht in der Stadt bleiben. Lisa kommt sich vor, wie eine Mischung aus den beiden. Sie ist keine Schönheit, aber doch ansehnlich, sie trägt keine exklusive Kleidung, aber doch … Ist ihre Kleidung wirklich angemessen? Werden die Schülerinnen sie vielleicht auslachen? Eine Unterprima - Mädchen, die in einer Großstadt aufgewachsen sind. Warum gleich eine Unterprima? Aber da gab es wohl einen plötzlichen Ausfall. Es wird schon irgendwie hinhauen. Schließlich hat sie den Schülerinnen etwas zu sagen, viel zu sagen, damit so etwas nicht wieder passiert. Dann spürt sie plötzlich den Blick der Eleganten und sie entgegnet ihm. Aber sie ist froh, dass die Frau nur lächelt und nichts sagt. Sie lächelt zurück.

    Der Zug fährt in den Düsseldorfer Hauptbahnhof ein. Die Bahnsteige sind voller Menschen. Lisa versteht nicht gleich, sie sehen nicht wie normale Bahnpassagiere aus. Auf dem Bahnsteig kämpft sie sich durch die Menge. Es sind meistens Frauen, die Fotos von Soldaten oder Namensschilder hochhalten. Sie warten auf die Heimkehrer aus der Gefangenschaft. Dazwischen irren einzelne, ausgemergelte Männer umher, blicken ratlos auf die Frauen und die Fotos. Immer wieder werden sie von den Frauen gefragt, ob sie den oder den gesehen haben, wissen, ob er noch lebt. Herbert könnte dabei sein, denkt Lisa. Aber die Mühlbecks haben nichts davon erzählt, dass sie etwas von ihm gehört haben. Vielleicht konnte er auch gar nichts mitteilen und steht plötzlich einfach da. Es schaudert Lisa. Damit hat sie nicht gerechnet.

    „Lisa! Frau Mühlbeck hat sie entdeckt und stürzt auf sie zu. „Da bist du ja! Herzlich willkommen!

    „Guten Tag, Frau Mühlbeck", sagt Lisa und streckt ihr eine Hand entgegen.

    Aber Frau Mühlbeck ignoriert es und umarmt sie mit mütterlicher Geste. „Wir freuen uns so, dass du da bist. Wie war denn die Fahrt?"

    „Ruhig, nichts Besonderes", antwortet sie.

    „Schön. Komm, ich nehme dir wenigstens die Mappe ab. Gustav wartet draußen. Er will den neuen Wagen nicht alleine lassen." Frau Mühlbeck nimmt die Mappe und geht voran.

    Während sie gehen, blickt Lisa sich um. Noch nie war sie in einem so großen Gebäude und hat noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen. Na, denn!

    Vor dem Bahnhofsgebäude fällt ihre Aufmerksamkeit auf ein riesiges Plakat. ‚Alle sollen besser leben’ steht darauf. Es ist Werbung für eine Industrie- und Konsumausstellung.

    „Moment", sagt Lisa, als sie draußen sind. Sie will sich erstmal umschauen und Luft holen. Es sind nicht so viele Menschen wie im Bahnhof zu sehen. Die meisten tragen gepflegte bis elegante Kleidung, als hätten sie eine geheime Absprache mit der Glockenkostümfrau aus dem Zug. Auf der Straße fahren einige blitzende Autos, aber es sind mehr Motorräder, Dreiradtransporter und hauptsächlich Fahrräder. Sie gehen weiter und kommen zum Parkplatz.

    Gustav Mühlbeck steht neben einem nagelneuen 180er Mercedes. Mühlbeck reicht ihr die Hand und verstaut Koffer und Mappe im Kofferraum. Stolz setzt er sich ans Steuer. „Er ist gerade mal zwei Wochen alt. Hat nicht jeder."

    Lisa, die hinten sitzt, prüft das Polster mit der Hand und nickt anerkennend. „Ein schönes Auto", sagt sie.

    Mühlbeck fährt los. „52 Pferdestärken, kann über 100 km/h schnell fahren. Eine Wucht!"

    Lisa blickt aus dem Fenster. „Ich dachte, es wäre mehr zerstört."

    „Viel weniger als in Köln. Da kann man von Glück reden, antwortet Frau Mühlbeck. „Aber es hat auch hier gereicht.

    Lisa folgt den Mühlbecks in ihrer Villa durch ein üppig ausgestattetes Foyer. Freundlich lächelnd betrachtet sie altehrwürdige Kunstschinken an der Wand.

    Im gediegenen Esszimmer gießt Frau Mühlbeck Kaffee ein. „Wenn der Herbert kommt, habt ihr einen schönen Anfang. Wir haben einiges zurückgelegt. Warum haben sie ihn bloß im letzten Kriegsjahr noch gezogen, mit 17 Jahren? Was eine Schande. Du und er könntet längst Kinder haben."

    Herr Mühlbeck setzt seine Tasse ab. „Es wär‘ mehr Schande, wenn er nie Soldat gewesen wär."

    „Er ist dein Sohn, Gustav, wendet Frau Mühlbeck ein, „und ist jetzt in Gefangenschaft.

    „So ist der Krieg."

    „Schon gut."

    „Haben Sie was von ihm gehört?", fragt Lisa.

    „Nach dem letzten Brief nichts mehr. Den kennst du ja."

    „Aber am Bahnhof waren doch so viele von ihnen."

    „Sie dürfen wohl nicht alle schreiben, wann sie kommen.

    Oder die Post kommt nicht durch. Ich weiß es nicht."

    Lisa blickt sich im vornehmen Esszimmer um. Frau Mühlbeck seufzt.

    „Schade, dass deine Mutter nicht hier ist, es hätte ihr bestimmt gefallen."

    „Mutter in der Stadt? Das würde sie nicht überstehen."

    „Wir haben es doch auch geschafft!", sagt Frau Mühlbeck.

    „Ihr habt mit den Städtern Geschäfte gemacht, aber Vater ..."

    „Ja, dein Vater war nicht in die Stadt zu kriegen."

    „Aber tief im Herzen gehören wir immer noch zum Land, nicht Gustav?"

    Herr Mühlbeck hüstelt nur.

    „Willst du nicht doch hier bleiben? Wir hätten wirklich Platz."

    „Danke nochmals. Ich will zunächst auf eigenen Füßen stehen. Wenn Sie das verstehen. Sie haben schon so viel für mich getan."

    Frau Mühlbeck zuckt die Schultern. „Na dann."

    Die Pension

    Mühlbeck setzt Lisa vor einer Pension ab und trägt ihr Gepäck zur Tür. Die Mappe mit ihren alten Bildern nimmt sie selbst. Distanziert gibt er ihr die Hand. „Lisa – alles Gute."

    „Danke, Herr Mühlbeck." Lisa blickt ihm nach.

    Er steigt in seinen neuen Wagen und winkt nur kurz über die Schulter, ohne sich

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