zeichnen nach der natur: gedichte.sprüche.gesänge
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Über dieses E-Book
Autorin. Einigen der Texte wird die Leserschaft anmerken, dass sie zu DDR-Zeiten entstanden sind. Dort, wo es angezeigt schien, sind deshalb zum besseren Verständnis die Jahreszahlen der Entstehungszeit vermerkt. Nichtsdestotrotz haben die Gedichte unseres Erachtens nichts an Aktualität und dichterischem Reiz verloren, widrigenfalls wären sie nicht in diese Auswahl aufgenommen worden. Entsprechend vielfältig ist ihre Gestalt. Es finden sich streng metrische Odenformen neben so genannten freien Rhythmen. Gelegentliche Anklänge an das Volkslied sind unübersehbar. Bereits im Jahre 2002 ist der Kern dieser Sammlung unter dem Titel "Mein Feind die Finsternis" ein erstes Mal erschienen. Die jetzt vorliegende Ausgabe ist dem gegenüber korrigiert, bereinigt und um einige neue Texte erweitert.
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Buchvorschau
zeichnen nach der natur - Doris Claudia Mandel
SPRÜCHE
haeretisches haiku
die götter sind fern.
wie entbehrlich also
wär’n unsre münder.
zweifel
ich -
eine lüge
niemand
fasst mich
eines morgens
früelinc ist kumen
hab gleich dem vogelîn sungen
sint mir diu lungen sprungen
situation kurz vor einbruch der kälte
november ist
die störche ziehen fort
die männer ziehen ein
wo sie einander hätten treffen können
wächst kein gras mehr
(1975)
sehnsucht
nicht
ypernmütig sein
müssen
druckfehler
(34. Woche, 1980)
deutsche banden
haben der polnischen regierung
kredite versprochen.
plötzliche erinnerung an Miro Šelestiak, slowakei
er klagte
er dürfe nicht schreiben
wie er denke und
tötete sich
nun kann er
weder schreiben noch
denken.
(1978)
zigeunerweisheit
meine herzklappen sind aktendeckel
mich die ich zwischen den zeilen zu lesen geübt bin
narrten die schwüre aus kusswunden mündern
um lieben zu lernen
bräuchten wir neununddreißig leben heißt es
um den wir lieben zu verstehen
bräuchten wir sechsundzwanzig leben heißt es
doch einen winzigen Atemzug nur bräuchten wir
um den wir lieben zu verraten.
rundgesang
es regnet
tropfen tropfen
begeg net
net begeg
tropfen tropfen
es regnet
Umzug ins Neubauviertel
O Lob der Bedachtsamkeit!
Am zweiten Tage vermisst’ ich der Platane Wispern.
Am dritten Tage das wollüstige Wirken
einer zögernd sich wärmender Stube.
(1981)
Bäume
Bäume! Fassungslos lauere ich am Fenster meines Arbeitszimmers und
starre auf den Beton zwischen den Plattenhäusern hinab. Auf dem
gegenüberliegenden Parkstreifen ist ein LKW vorgefahren, sein Kranarm
hievt die Stämme von der Ladefläche, feuchtes, graues Holz mit klobigem,
sackleinenumschnürtem Wurzelwerk. Zwischen den Stoffzipfeln hervor
quillt die Muttererde, sepiafarben und festgestampft. Buchen, jetzt
stehen sie auf dem toten Beton und warten, hilflos wie Delegierte in
der Fremde. Ich denke an Karl Kraus, der den Zustand eines Staates
daran maß, auf welche Weise jene, die ihm vorstanden, mit den Bäumen
umsprangen. Ich hoffe: Jetzt wird alles gut. So hoffend, lauere ich am
Fenster meines Arbeitszimmers und starre gläubig hinab auf das Wunder.
(1981)
SPIEGEL
IN DER STADT
AUF DEM LANDE
VOR DEM MEER
Merseburg kurz vorm ende
(1978)
I samstagmorgen
starrkrämpfig tauber nonnenschoß.
der grobe stein schwitzt orgelpunkt
meiner brust bemooste kälte sprengt das spiegelbild
und wie von eisesscherben schneidet scharf das licht kontur:
geil der abrisshäuser ausgestochne augen
der einen grauen stirn ist aufgebrannt:
Ich fürcht mich nicht — der Herr ist bei mir.
Was können mir die Menschen thun?
II in der aue
hier
ist die welt hindurchgezogen
wie weiland blüchers truppe auf napoleonjagd
gerad’
sah man sie noch um den schlossberg toben
schon ist sie weg, vergrämt, verzagt
die wolken hängen tief hier in der aue
und sind nicht echt
damit er den versprechen traue
sei dem daheim Ersatz recht.
III stiftskirche st. sixi
was übrig bleibt sind nicht einmal die mauern,
ist sonne auf den trümmern wasser wind
solange wir die wir im wetter sind
uns vag erinnern dass da mal was war
wir glauben eine wasserpumpe scheu im kirchhof
die schlürfend schlug wie unser phosphorherz
und müde einen schlag dem anderen nachschleifend
entspiegeln hieß der zeit furchtsames werk
das zögerliche ab und ab und ab
das man dem wasser nachsagt über müllersteinen
dem wind der wie die spreu zerstreue die gottlosen
solange wir die wir im wetter sind
uns vag erinnern dass da mal was war
wir glauben glauben eine
glauben
IV zeitlos
verätzt die brust von den nebelschleiern im dreiflusstal
röchelnd sackt die stadt in den schwaden vergessen
blind zwischen den gestaltlosen fronten
schmecke ich JETZT nichts als JETZT
das helle klicken der wanduhr