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Das schwarze Geheimnis der weißen Dame
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eBook627 Seiten8 Stunden

Das schwarze Geheimnis der weißen Dame

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Über dieses E-Book

Ein 15 Jahre zurückliegender Mord.​
Ein Fall von Finanzbetrug.
Eine letzte Aufgabe.

Paris, Mai 2011.
Es ist die Chance seines Lebens. Es scheint wie ein glücklicher Zufall, als Jean-Baptiste de Montfort von der Pariser Kripo die Gelegenheit bekommt, an einem fünfzehn Jahre zurückliegenden Mordfall, der in seiner Karriere eine verhängnisvolle Rolle gespielt hat, zu arbeiten.
In Wirklichkeit hat Marie Bouvier, eine junge Kollegin von de Montfort, ihm zu dieser Chance verholfen, denn auch sie wittert die Chance ihres Lebens – und braucht de Montforts Hilfe, ohne dass dieser es mitbekommt.
Außerdem befasst sich Bouvier mit einem Fall von illegalem Insiderhandel im hippen Pariser Mode-Unternehmen Mod'éco. Der Fall scheint trivial. Aber ist er es wirklich? Und dann begeht Bouvier einen Tabubruch.
Und schließlich bin da ich: Rahul Milad Khalili. Auch ich bekomme endlich die Chance, eine letzte todbringende Aufgabe zu erfüllen.
Was niemand weiß: Die Ziele der drei Genannten sind eng miteinander verbunden – aber keineswegs kompatibel.
Und dann ist da auch noch der G8-Gipfel, den die "Grande Nation" im Mai 2011 ausrichtet …
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum25. Sept. 2020
ISBN9783752916799
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    Buchvorschau

    Das schwarze Geheimnis der weißen Dame - Kolja Menning

    Prolog

    Sonntag, 22. Mai 2011. Tag X-6.

    Rahul Milad Khalili.

    Ich heiße Rahul Milad Khalili. Ich bin fünfundfünfzig Jahre alt, und bevor ich endlich in Frieden ruhen können werde, verbleibt in meinem Leben lediglich eine letzte, todbringende Aufgabe.

    Seit Langem bereite ich mich auf den entscheidenden Moment vor. In ein paar Tagen ist es so weit. Bis dahin werde ich unauffällig bleiben und die meiste Zeit in meinem Hotelzimmer verbringen, um mich so gut wie möglich zu erholen. Die lange Reise der letzten Tage hat mir zugesetzt. Ich bin seit mehr als vierundzwanzig Stunden auf den Beinen und so müde, dass ich das pochende Geräusch nicht sofort zuordnen kann. Ich brauche eine ganze Weile, um zu realisieren, dass da jemand klopft. Wie in Trance begebe ich mich zur Tür. Ich zögere. Ich erwarte niemanden. Niemand weiß, dass ich hier bin. Es muss jemand vom Hotelpersonal sein.

    Durch den Türspion sehe ich ein schwarzes Jackett, ein weißes Hemd und eine schwarze Fliege und öffne, den Zimmerservice erwartend.

    »Sind Sie Rahul Milad Khalili, geboren am 12. Januar 1956 in Lübeck, Deutschland?«, fragt der ausgesprochen gut gekleidete Mann vor meiner Zimmertür.

    Ich starre ihn an. In meinem Gehirn regt sich etwas. Doch ich weiß nicht, was es ist.

    »Ja?«, entgegne ich zögernd.

    Auf seinem Gesicht erscheint ein Lächeln. Aber kein freundliches Lächeln. Ein Siegeslächeln. Augenblicklich weiß ich, dass er eindeutig nicht zum Personal des Hotels gehört.

    »Kriminalpolizei Paris«, bestätigt er meine Befürchtung. »Sie sind festgenommen!«

    Ich zucke zusammen. Mein Schock muss mir deutlich anzusehen sein, doch er verzieht keine Miene. Er wirft mir lediglich einen weiteren prüfenden Blick zu, dann dreht er sich weg.

    »Nehmt ihn mit!«, befiehlt er zwei jungen uniformierten Polizisten.

    In diesem Moment erwacht mein Körper aus der Schockstarre. Im Bruchteil einer Sekunde wird mir klar, was hier passiert und was dies für meine Aufgabe bedeutet. Ich weiß, dass es aus dieser Situation keinen Ausweg gibt. Ich habe nur eine Chance. Blitzschnell ergreife ich die Tür und versuche, sie zuzuwerfen. Dem Polizisten gelingt es, einen Fuß in die Tür zu stellen, bevor sie schließt. Mit zwei schnellen Schritten springe ich in das kleine Badezimmer und schließe ab. Mein Herz rast, mir wird schwindelig. Doch ich schenke all dem keine Beachtung. Mit zitternden Fingern ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche, während von draußen auf die Badezimmertür eingehämmert wird. Ich mache mir nichts vor. Mir bleibt nur wenig Zeit, bevor sie die Tür aufgebrochen haben werden. Ein Anruf kommt nicht infrage. Bis der aufgebaut ist, verstreicht kostbare Zeit. Außerdem wird zu dieser Zeit niemand rangehen. Schreiben dauert auch zu lange. Also bleibt nur eine Option. Ich öffne die App für Sprachnachrichten. Zum Glück habe ich das Handy gleich nach meiner Ankunft mit dem WLAN des Hotels verbunden.

    »Dies ist eine Nachricht für Yana«, beginne ich hastig auf Französisch.

    Mit einem Blick auf die Tür wird mir klar, dass das Handy – und damit die Nachricht – der Polizei in die Hände fallen wird. Also bediene ich mich einer anderen Sprache. Sekunden später gibt die Tür nach. Einen Moment lang starren der gut gekleidete Polizist und ich uns an.

    »Er telefoniert!«, brüllt er und wirft sich auf mich.

    In dem Moment, in dem ich auf »Senden« drücke, kollidiert sein Körper mit meinem. Das Handy wird mir aus der Hand geschleudert. Verzweifelt kämpfe ich gegen seinen Griff, doch es ist vergebens. Hilflos sehe ich zu, wie er das Telefon ergreift und in seiner Hosentasche verschwinden lässt. Ob es mir gelungen ist, meine Nachricht zu versenden? Er steht auf, zieht auch mich auf die Füße und zerrt mich aus dem Badezimmer, wo er mich den beiden uniformierten Polizisten übergibt. Sie legen mir Handschellen an, positionieren sich rechts und links von mir und geleiten mich aus dem Hotelzimmer zum Fahrstuhl.

    Vor dem Hotel zwängen sie mich in einen schwarzen Peugeot mit abgedunkelten Scheiben und mobilem Blaulicht. Mir wird bald klar, wohin wir fahren: in die Préfecture de Police, den Hauptsitz der Pariser Justiz- oder Kriminalpolizei auf dem Quai des Orfèvres im 1. Arrondissement.

    Sie schleppen mich in einen kahlen Raum und weisen mich an, auf der einen Seite eines schlichten Tisches Platz zu nehmen. Dann lassen sie mich allein. Ich warte und denke an meine Aufgabe. Immer wieder stelle ich mir die gleiche Frage: Wie konnten sie es herausfinden? Niemand außer einer Handvoll Eingeweihter wusste Bescheid. Und die sind über alle Zweifel erhaben.

    Früher oder später wird jemand zu mir hereinkommen, um mich zu verhören. Dann werde ich mehr erfahren.

    Ich versuche, mich zu entspannen, was mir jedoch kaum gelingt. Ich fühle, wie sich der Jetlag zunehmend bemerkbar macht. Nur das Adrenalin, die Angst, was nun mit mir passiert, hält mich wach. Wie lange werden sie mich hier warten lassen? Vielleicht hat das Vorspiel zum Verhör längst begonnen. Sie müssen bemerkt haben, dass ich müde bin.

    Schließlich öffnet sich die Tür, und dieser Polizist tritt ein. In der Tür bleibt er stehen und zündet sich eine Zigarette an, was mir Gelegenheit gibt, ihn genauer zu betrachten. Er mag Mitte vierzig sein, ist etwas größer als ich und hat dunkles, ordentlich zurückgekämmtes Haar. Die Fliege, die er vorher getragen hatte, hat er inzwischen abgelegt und außerdem den obersten Knopf seines blütenweißen Hemdes geöffnet. Die mit Manschettenknöpfen versehenen Ärmel des Hemdes gucken ein paar Zentimeter unter den Ärmeln seines Jacketts hervor. Wer ist dieser Typ? Bei der Kleidung kann das kein normaler Polizist sein.

    Eine ganze Weile starrt er rauchend an die Wand des Raumes. Schließlich wirft er den Zigarettenstummel zu Boden, tritt ihn aus und wendet sich mir zu. Er nimmt auf einem zweiten Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz und guckt mir direkt in die Augen.

    »Es war ein Fehler, nach Frankreich zu kommen, mein Freund«, bemerkt er, und sein Ton sagt mir deutlich, dass in diesem Augenblick niemand weiter davon entfernt ist, sein Freund zu sein, als ich.

    Er täuscht sich. Ich musste für meine letzte Aufgabe nach Frankreich kommen. Gleichzeitig räume ich ein, dass irgendetwas falsch gelaufen sein muss, und frage mich zum wiederholten Mal, wie sie mich gefunden haben. Es ist mir ein Rätsel.

    »OK, Rahul Milad Khalili«, sagt er, und sein Ton ist mit einem Mal schneidend. »Schluss mit dem Vorgeplänkel! Du weißt, wieso wir dich festgenommen haben?«

    Er blickt mich durchdringend an.

    Erwartet er wirklich, dass ich darauf antworte? Glaubt er, dass ich es ihm so leicht machen werde? Natürlich weiß ich es. Aber in meinem Kopf kreist immer die gleiche Frage: Woher wussten sie es?

    Ich schüttele leicht den Kopf.

    »Natürlich nicht.« Seine Stimme klingt geradezu sanft, doch der gefährliche Unterton entgeht mir nicht. Ich spüre die Bedrohung, die von ihm ausgeht. Das ist kein normaler Polizist. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Schweiß tritt auf meine Stirn.

    »Dann fangen wir mit was Leichterem an«, fährt er fort. »Ich will wissen, was das für eine Nachricht war, die du da an diese Yana geschickt hast!«

    Im Stillen danke ich ihm für die Bestätigung, dass meine Nachricht tatsächlich versandt wurde. Aber ich kann ihm ihren Inhalt unmöglich verraten. Die Nachricht ist meine einzige Chance.

    »Könnte ich ein Glas Wasser bekommen?«, frage ich in der naiven Hoffnung, dass ihn das ablenken könnte. Es bedarf keiner Mühe, meiner Stimme einen matten Klang zu geben. Selbst diese paar Worte kosten mich wertvolle Energie, von der ich viel zu wenig habe.

    Einen Moment lang ist es vollkommen still. Kurz erliege ich der Illusion, er könnte einfach so aufstehen und kurz den Raum verlassen, um meiner Bitte nachzukommen. Mein Kreislauf lässt mich einen Augenblick im Stich, mir wird schwindelig und ich schließlich kurz die Augen. Mit einem Mal spüre ich eine plötzliche Bewegung im Raum. Instinktiv zuckt mein Körper zusammen, dann trifft mich seine Ohrfeige. Sie kommt so unerwartet, dass ich fast vom Stuhl falle. Mein Herz schlägt noch schneller, ich spüre den Schweiß unter meinen Armen. Kalter Hass durchzuckt mich.

    »Antworte auf meine Frage!«, brüllt er mich an. Trotz des schmalen Tisches zwischen uns ist er viel zu nah und scheint die Kontrolle verloren zu haben. Was geht hier vor???

    »Antworte!! Wenn du mir schon mein Leben versauen musstest, dann antworte jetzt wenigstens!!«

    Was?? Sein Leben versauen?? Was meint er? Bei dem Gedanken, dass dieser Irre glaubt, eine persönliche Rechnung mit mir offen zu haben, bekomme ich Angst um mein Leben. Ich kann das Zittern nicht mehr unterdrücken. Doch wenn ich meinen Plan nicht gefährden will, muss ich durchhalten und darf nichts preisgeben.

    Ich schließe die Augen nur kurz und schicke ein Gebet um Hilfe zum Himmel. Dann öffne ich die Augen wieder, um auf seinen nächsten Schlag vorbereitet zu sein, so gut es geht. Dieser kommt jedoch so heftig, dass er mich diesmal tatsächlich vom Stuhl wirft. Ich schmecke das Blut in meinem Mund, meine Wange brennt, mir wird schwarz vor Augen. Und dann geschieht ein Wunder: Mein Gebet wird erhört. Ich höre ein Geräusch von der Tür her. Jemand stürmt ins Innere. Eine Person oder zwei? Ich weiß es nicht. Ich bin zu benommen.

    »Zum Teufel, hör auf!!«, schreit irgendwer. »Hör auf, du bringst ihn um!«

    Der Polizist hat sich von mir ab- und der Tür zugewandt.

    »Er hat mir mein Leben versaut!!«, höre ich ihn brüllen.

    Am Boden liegend beobachte ich, wie er aus dem Raum gezogen wird. Ich bin vorerst gerettet. Und mit diesem Gedanken der Erleichterung verliere ich das Bewusstsein.

    Erster Teil: Eröffnung

    Als »Eröffnung« bezeichnet man den ersten Teil einer Schachpartie. Dieser dauert etwa zehn bis fünfzehn Züge und dient dazu, sich in Position zu bringen. Üblicherweise versuchen die Spielenden, das Zentrum des Bretts zu kontrollieren, Leitfiguren wie Läufer und Springer zu »entwickeln«, das heißt, sie aus ihrer Ausgangsposition herauszuziehen, damit sie später eine möglichst aktive Rolle spielen können, wobei idealerweise jede Figur nur einmal gezogen wird. Außerdem gilt es, den eigenen König zu schützen, was fast immer durch eine Rochade geschieht. Es gibt noch ein paar andere Eröffnungsgrundsätze, die meist – aber nicht immer – beachtet werden.

    Da es in der Eröffnung nur eine überschaubare Anzahl an Zügen gibt, gibt es auch nur eine überschaubare Anzahl an sinnvollen Erwiderungen. Man spricht von »spanischer Partie«, »sizilianischer Verteidigung«, »italienischer Partie«, »französischer Verteidigung« und vielen anderen Standardzugfolgen zu Beginn einer Partie. Erwähnt sei an dieser Stelle auch der Begriff des »Damengambits«.

    Kurz, es gilt, sich in Position zu bringen und dabei die Züge des Gegners möglichst gut zu antizipieren, um früh einen Positionierungsvorteil zu erlangen. Denn gelingt das nicht, kann es eine sehr lange, anstrengende Partie werden.

    Da Weiß beginnt, geht zumindest am Anfang von Weiß die Initiative aus.

    Und nicht nur beim Schach ist Initiative ein erster Schritt, etwas zu bewegen. Zum Besseren oder zum Schlechteren.

    Freitag, 13. Mai 2011. Tag X-15.

    Jean-Baptiste de Montfort.

    Jean-Baptiste de Montfort war ein echter Exot bei der Pariser Justiz- und Kriminalpolizei. Seit seiner Degradierung vor fünfzehn Jahren genoss er einen besonderen Status. Es war ihm untersagt, an aktuellen Fällen zu arbeiten, er musste andererseits jedoch beschäftigt werden. So war ein findiger Hauptkommissar vor Jahren auf die Idee gekommen, Jean-Baptiste alte unaufgeklärte Fälle vorzulegen. Das war für Jean-Baptiste nicht uninteressant; jegliche Ambitionen, einen dieser Fälle aufzuklären, wären jedoch völlig verfehlt gewesen. Meist gab es gute Gründe, warum die Fälle, als sie frisch gewesen waren, nicht hatten aufgeklärt werden können. So befasste sich Jean-Baptiste üblicherweise mehrere Wochen lang halbherzig mit diesen alten Fällen, bis man sich darauf einigte, sie als weiterhin ungeklärt wieder zu den Akten zu legen.

    In all den Jahren hatte Jean-Baptiste viele seiner Fähigkeiten eingebüßt. Nur die Leidenschaft, Menschen zu beobachten, ihr Verhalten zu interpretieren und zu erraten, wie sie tickten, brannte in ihm wie am ersten Tag. Und da es ihm an Gelegenheit mangelte, diese Beobachtungen an Verbrechern, Zeugen oder Verdächtigen vorzunehmen, hatte er mit der Zeit sein Detektivspiel ins Kommissariat verlegt. Es kam vor, dass er Stunden damit verbrachte, wortlos an seinem Schreibtisch zu sitzen und das Treiben um sich herum zu beobachten. Niemand kannte das Innenleben der Polizeibeamten so gut wie Jean-Baptiste. Er wusste, wer ambitioniert war und wer nur so tat. Er wusste, welche seiner Kollegen ihren Beruf verfehlt hatten, nicht weil es ihnen an den nötigen Fähigkeiten mangelte, sondern weil sie sich in ihrem tiefsten Innern nach etwas ganz anderem sehnten. Er wusste, wer gerade Sorgen mit seinen Kindern hatte, wer mit Geld umgehen konnte und wer nicht.

    Zum Beispiel war sich Jean-Baptiste sicher, dass Thérèse Drouot, eine Kommissarin Mitte dreißig, die etwas übergewichtig war und jedem, der ihr zuhörte, erzählte, wie absolut fantastisch ihr frisch angetrauter Ehemann war, sich ohne zu zögern für ihren Chihuahua-Welpen entschieden hätte, wenn sie zwischen diesem und besagtem Ehemann hätte wählen müssen. Arsène Cailloux empörte sich lautstark über den exzessiven Konsum von Alkohol und Tabakwaren unter Polizeibeamten, was ihn aber nicht davon abhielt, mit seinem siebzehnjährigen Sohn hin und wieder einen Joint zu rauchen. Ein durchaus sympathischer Typ – aus Jean-Baptistes Sicht übertrieb er es nur etwas mit der Scheinheiligkeit. Und zwischen dem gerade fünfzig gewordenen Hauptkommissar Arnaud Petit und der sechsundzwanzigjährigen Kommissaranwärterin Charlotte Moreau gab es eine inzwischen viermonatige Affäre, die den beiden ausgesprochen gutzutun schien, auch wenn sie alles dafür taten, dass nichts darüber bekannt wurde. Es gab nur eine Handvoll Kollegen, die Jean-Baptiste nicht zu lesen imstande war.

    Bis zum Nachmittag war jener Freitag mit Ausnahme des Datums ein ganz gewöhnlicher gewesen. Als Jean-Baptiste sich anschickte, seinen Arbeitsplatz aufzuräumen, um etwas früher ins Wochenende zu starten, sah er seinen Kollegen Michel Moncourt, einen durchtrainierten jungen Kommissaranwärter, in seine Richtung schreiten.

    Er will zu mir, stellte Jean-Baptiste fest, hielt in seiner Bewegung inne und beobachtete, wie Moncourt sich näherte. Er will zu mir und er ist nervös.

    Nach dieser Feststellung widmete er sich wieder seinen Notizen zu einem fast fünfundzwanzig Jahre alten Fall von Drogenhandel.

    »Bereit fürs Wochenende, JB?«, fragte Moncourt, als er bei Jean-Baptistes Arbeitsplatz angekommen war.

    »Sicher«, erwiderte Jean-Baptiste und blickte von einem Stapel Papiere auf, die er gerade in den Papierkorb befördern wollte. »Soll ja schönes Wetter werden.«

    Moncourts Blick wanderte zu dem auf Jean-Baptistes Schreibtisch aufgestellten Bilderrahmen. Das Foto darin zeigte ein lächelndes Mädchen mit deutlich ostasiatisch geprägten Gesichtszügen.

    »Wie alt is’ ’n deine Tochter jetzt?«, fragte Moncourt und nickte zu dem Bilderrahmen.

    »Zu jung für dich«, entgegnete Jean-Baptiste unwirsch.

    Moncourt grinste.

    »Noch«, meinte er, worauf Jean-Baptiste nichts antwortete, sondern nur den Stapel Papiere in den Papierkorb wandern ließ.

    »Haste am Wochenende was vor?«, fragte Moncourt nach einer kurzen Pause.

    Jean-Baptiste schüttelte den Kopf.

    »Und selbst? Fitnessstudio?«, fragte er, obwohl es ihn eigentlich nicht interessierte.

    »Nee ... hab’ heut’n Rendezvous mit ‘ner Süßen.« Moncourt grinste.

    Ist er deswegen so nervös?

    »Vorher hab’ ich noch’n Dossier für dich«, fuhr Moncourt fort.

    »Jetzt?«

    »Nichts Dringendes ...«

    Als wenn ich hier je was Dringendes tun würde, dachte Jean-Baptiste.

    »Aber’n interessanter Fall«, erzählte Moncourt weiter. »Kannst ja mal ’nen kurzen Blick drauf werfen. Wird dir gefallen!«

    Er grinste erneut und zwinkerte Jean-Baptiste auf eine Weise zu, die diesen stutzen ließ.

    »Na, muss los«, sagte Moncourt. »Können ja Ende nächster Woche mal ’nen Termin machen und sehen, wo wir stehen. Freitag oder so.«

    »Freitag ist ungünstig«, erwiderte Jean-Baptiste, obwohl es dafür keinen besonderen Grund gab.

    »Na, dann vielleicht Freitag darauf, wenn wir paar Minuten finden.«

    »OK.« Das war unverbindlich genug.

    »Also dann, schönes Wochenende! Wetter soll ja gut werden.«

    Ja, das hatten wir schon festgestellt, dachte Jean-Baptiste.

    Während er darauf wartete, dass Windows herunterfuhr, fiel sein Blick auf die Akte. Auf der Deckklappe standen ein nichtssagendes Aktenzeichen und ein Datum.

    Einen Moment lang spielte Jean-Baptiste mit dem Gedanken, die Akte gar nicht erst aufzuschlagen, sondern damit bis Montag zu warten.

    »Wird dir gefallen«, hatte Moncourt gesagt und dabei geradezu schäbig gegrinst. Jean-Baptiste seufzte. Wenn er bedachte, wie eilig Moncourt es gehabt hatte, zu irgendeinem Rendezvous mit »’ner Süßen« zu kommen, war die Sachlage eigentlich klar. Man musste nicht Sherlock Holmes sein, um das zu durchschauen. Jean-Baptiste war sich ziemlich sicher, dass er in der »Akte« – sie als solche zu bezeichnen, wäre eigentlich nicht ganz richtig gewesen – ein paar billige pornografische Bilder finden würde. Das passte zu Moncourt. Jean-Baptiste wollte nur ungern mit so etwas im Kommissariat gesehen werden. Also verstaute er die Akte in seiner Tasche, bevor er das Kommissariat verließ.

    Am Place d’Italie verließ Jean-Baptiste die unterirdischen Gefilde der Metro und kaufte in einem kleinen Supermarkt Oliven und Tomaten, eine billige Flasche Rotwein und zwei Zucchini. In seiner Stammbäckerei erstand er ein frisches Baguette. Er kam vor seiner Frau Julie und seiner Tochter Claire in der gut fünfzig Quadratmeter großen Wohnung in der Rue des Cinq Diamants, einer kleinen Seitenstraße des Boulevard Auguste Blanqui, an. Seine Aktentasche stellte er im Flur ab und begab sich in der Küche an die Arbeit. Es war Wochenende und schon eine Ewigkeit her, seit er Julie die kleine Freude eines netten Abendessens gemacht hatte. Hühnchen mit Tomaten und Zwiebeln in einer Oliven-Sahne-Soße. Dazu gebratene Zucchini und frisches Baguette. Julie und Claire würden sich freuen. Und als es nur Sekunden, nachdem er fertig geworden war, an der Wohnungstür polterte und Frau und Tochter gleichzeitig hereinkamen, war Jean-Baptiste sich sicher, dass dies der Auftakt zu einem perfekten Abend war.

    »Was riecht denn hier so gut?«, hörte er Claire rufen.

    Jean-Baptiste lächelte.

    »Was ist denn hier los?«, hörte er Julie gleich darauf sagen. Sie war zuerst in die Küche gegangen, die zugegebenermaßen noch die Spuren des kreativen Kochens aufwies.

    Jean-Baptiste schloss die Augen und atmete tief durch. Er setzte ein Lächeln auf und trat aus dem Wohnzimmer in den winzigen Flur, von dem aus man in das Badezimmer, in die Küche, ins Wohnzimmer und in Claires kleines Zimmer gelangte.

    »Hallo Papa«, sagte Claire lächelnd und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

    »Hallo meine Große«, entgegnete Jean-Baptiste und schloss seine Tochter in die Arme. Claire war fünfzehn – und Jean-Baptistes ganzer Stolz. Sie war fröhlich, intelligent und, was das Wichtigste war, sie war der einzige Mensch auf der Welt, der Jean-Baptiste das Gefühl gab, dass sein Leben einen Sinn hatte. In bangen Momenten fragte sich Jean-Baptiste, wie lange das noch anhalten würde.

    »Was liest du denn da?«, fragte er mit einem Blick auf ein Buch, das seine Tochter in der Hand hielt.

    »Der Herr der Ringe«, antwortete Claire.

    »Immer noch?«

    »Zweiter Band. Ich habe noch einiges vor mir.«

    »Ah«, machte Jean-Baptiste. Richtig, da waren mehrere.

    Er machte sich im Gedächtnis eine Notiz, im Internet bei Gelegenheit eine Zusammenfassung zu lesen, und hoffte, dass seine Tochter das Gespräch jetzt nicht fortführen würde. Julie »rettete« ihn aus der Situation.

    »Was ist denn in der Küche passiert?«, fragte sie vorwurfsvoll, und Jean-Baptistes Lächeln verschwand. Vielleicht war es etwas vorschnell gewesen, einen perfekten Abend mit Frau und Tochter zu erwarten.

    Er bemühte sich, seinen Ärger herunterzuschlucken und sagte ruhig:

    »Ich hab’ Essen für uns gemacht.«

    »Aber ich treff’ mich doch heute Abend mit Anne-Sophie!«, rief Julie aus. »Das weißt du doch!«

    Jean-Baptiste kratzte sich am Kopf. Julie hatte es tatsächlich erwähnt. Anne-Sophie, die Nervensäge. Hatte sich von ihrem Mann scheiden lassen, weil dieser ein etwas zu großes Interesse an anderen Frauen an den Tag gelegt hatte – nur dass Anne-Sophie das Alleinsein nicht gut vertrug und so ständig Julie anrief.

    »Also machen wir uns einen netten Abend, nur wir zwei?«, sagte er hoffnungsvoll zu Claire, während Julie im Badezimmer verschwand.

    »Aber ich schlaf’ doch heut’ bei Valérie«, sagte Claire unglücklich, »und Mama wollte mich bei Valérie absetzen.«

    Jean-Baptiste seufzte. Definitiv kein perfekter Familienabend.

    »Beeil dich, mein Schatz!«, wandte Julie sich, aus dem Badezimmer erscheinend und jetzt einen Duft von Parfum verströmend, an Claire. »Wir müssen los!«

    Claire gab ihrem Vater erneut einen Kuss, und dann waren Mutter und Tochter schon wieder zur Tür hinaus.

    »Ich bewahr’ dir was für morgen auf!«, rief Jean-Baptiste ihnen hinterher, doch er war nicht sicher, ob seine Tochter ihn noch hörte.

    Jean-Baptiste schenkte sich ein Glas Rotwein ein und bediente sich an Fleisch, Zucchini und Brot. Dann fiel ihm auf, dass er kein Wasser auf den Tisch gestellt hatte, und er ging in die Küche, um welches zu holen. Auf dem Weg kam er an dem Schrank vorbei, in dem er seine Aktentasche abgestellt hatte, und zögerte. Warum eigentlich nicht? Er holte die »Akte« aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Bevor er sie aufschlug, begann er allerdings zu essen. Er war ein guter Koch – und genoss es auch zu essen, was an seiner Taille mit den Jahren nicht ganz spurlos vorübergegangen war.

    Jean-Baptiste nippte an seinem Rotwein und seufzte. Wenn man bedachte, dass die Flasche lediglich ein paar Euro gekostet hatte, war der Wein gar nicht so schlecht. Das Gute an diesem billigen Wein war, dass er die gewünschte Wirkung nicht verfehlen würde, was ausgesprochen hilfreich dabei sein würde, die Enttäuschung über den verdorbenen Abend zu vergessen und anschließend besonders fest zu schlafen. Was die Flasche zu Jean-Baptistes bester Freundin machte.

    Dank Michel Moncourt trank Jean-Baptiste wahrscheinlich noch nicht einmal allein, sondern in der Gesellschaft einer ausgesprochen nackten und angemessen vollbusigen Blondine.

    Jean-Baptiste kippte ein weiteres Glas Rotwein hinunter. Herrlich! Es war erst sein drittes Glas und er begann schon zu spüren, wie sich in seinem Kopf etwas tat.

    Wenn ich besonderes Glück habe – und das hab’ ich heute eindeutig verdient! – is’ da drin vielleicht sogar mehr als nur eine Blondine, dachte Jean-Baptiste.

    Womit der Begriff »Akte« auch wieder zutreffen würde – nur eben als Plural des Wortes »Akt«.

    Ein ausgesprochener Schelm, dieser Michel Moncourt!

    Jean-Baptiste trank ein weiteres Glas und schenkte sich gleich wieder nach, sodass nur noch ein Schlückchen in der Flasche übrigblieb. Sein Hunger war gestillt. Er gönnte sich noch ein Gläschen Ricard und fühlte sich dann – körperlich und gemütsmäßig – bereit für die »Akte«.

    Er schlug den Deckel auf.

    Dreifacher Mord an Sima und Gustave Goldberg und einer dritten nicht identifizierten Person.

    Paris, 75013

    24.08.1996

    »Ja, ja«, sagte Jean-Baptiste lauter, als er es vermutlich in vollkommen nüchternem Zustand getan hätte, »sicher.«

    Eins musste man Moncourt lassen. Er hatte sich Mühe gegeben und auch ein Deckblatt erstellt, das denen von echten Polizeiakten nicht unähnlich war.

    Jean-Baptiste blätterte weiter. Erstaunlicherweise war da Text. Wie in einer ordentlich geführten Polizeiakte. Er hatte seine liebe Mühe, einen Sinn darin zu erkennen und verspürte einen Anflug von Enttäuschung. Verwirrt blätterte er zurück zur ersten Seite. Als sein Blick erneut auf den Namen vor seinen Augen fiel, stutzte er. Der Name Goldberg sagte ihm etwas. Nur was? War das nicht irgend so ein Komponist gewesen? Nein, Goldberg-Variationen! Das war’s. Von Johann Sebastian Bach oder irgendeinem anderen dieser vielen deutschen Komponisten. Oder war’s doch Haydn gewesen?

    Egal, entschied Jean-Baptiste.

    Jedenfalls war er irgendwann mal mit Julie und Claire in einem Konzert gewesen, wo diese Goldberg-Variationen gespielt worden waren. Das hatte er jedoch in eher guter Erinnerung. Etwas langweilig vielleicht, aber nicht unangenehm. Der Name Goldberg regte bei Jean-Baptiste definitiv ein Gefühl des Unwohlseins. Und mit einem Mal glaubte er, es zu wissen. Wie hatte er das verdrängen können? Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte und er zu schwitzen begann. Er schlug die Akte wieder zu und starrte auf das Datum unter dem Aktenzeichen. Kein Zweifel. Dieser Vollidiot Moncourt hatte ihm ein verbotenes Dossier gegeben.

    Jean-Baptiste begann bereits, den Exzess an Rotwein zu bereuen. Hastig schlug er Seite um Seite um und bemühte sich, trotz des schwerer werdenden Kopfes konzentriert zu bleiben. Alles professionell angelegt und sorgsam sortiert, und zwar von einem Hauptkommissar Fabrice Mellier, den Jean-Baptiste persönlich kannte. Allerdings hatte Mellier sich vor ein paar Jahren zur Ruhe gesetzt.

    Hastig blätterte Jean-Baptiste zurück zur ersten Seite. Da stand es. Dreifacher Mord. Goldberg. Und das Datum der Tat. 24.08.1996.

    Es gab keinen Zweifel mehr.

    »Das ist meine Akte!«, schrie Jean-Baptiste fast. »Das ist mein Fall Goldberg!«

    Aber wieso hatte Moncourt ihm diese Akte gegeben? Die Akte war für Jean-Baptiste tabu. Ohne auf eine plausible Antwort zu kommen, blätterte Jean-Baptiste wieder in den Papieren. Er wusste ja, was damals geschehen war. Er war dabei gewesen. Aber die Akte hatte er nie auch nur in den Händen gehalten. Weiter hinten befanden sich Fotos vom Tatort. Erst das Haus von außen. Ein paar zerstörte Fenster und eine von Ruß geschwärzte Fassade. Die Erinnerung an diesen verhängnisvollen Tag kam langsam zurück. Es hatte in der Wohnung gebrannt. Dann Fotos aus der Wohnung. Von innen hatte Jean-Baptiste die Wohnung damals nicht gesehen. Jean-Baptiste bekam eine Gänsehaut, als er die Fotos der Opfer betrachtete. Erst zwei zur Unkenntlichkeit verkohlte Körper. Das Einzige, was man ausmachen konnte, war, dass es sich um einen kleinen und einen großen Körper handelte. Und dann das dritte Opfer. Sima Goldberg, deren Körper vom Feuer verschont geblieben war, weil er sich in einem anderen Zimmer befunden hatte und die Feuerwehr den Brand hatte löschen können, bevor er sich auch dorthin ausbreitete.

    Mit einem Mal wusste Jean-Baptiste, was Moncourt mit seinen Andeutungen gemeint hatte. Er hatte ihn in gewisser Weise doch richtig eingeschätzt, und es hatte eindeutig nichts mit der Verbindung zwischen Jean-Baptiste und diesem Fall zu tun.

    Perverses Schwein, dachte Jean-Baptiste.

    Die Akte enthielt nicht weniger als zwanzig Hochglanzaufnahmen von Sima Goldberg. Auf dem ersten Foto, wie man sie am Tatort ihrer Ermordung vorgefunden hatte. Auf dem Rücken auf einem großen Bett liegend und mit einer hellbraunen Decke bis zum Hals zugedeckt. Nur der Kopf war zu sehen. Sie hatte dunkle kakaofarbene Haut, sinnliche Lippen, typisch afrikanisches kurzes Haar und einen schlanken Hals. Ihre Augen waren geschlossen, als schliefe sie lediglich. Es sah geradezu friedlich aus. Die folgenden Fotos zeigten sie ohne die Decke. Sie war vollständig nackt – und perfekt bis auf das Einschussloch ein paar Zentimeter unter ihrer linken Brust. Sie war nicht besonders groß, schlank und wunderschön. Selbst tot hatte sie etwas, das Jean-Baptiste extrem erotisch fand. Und das hatte nichts mit dem Rotwein zu tun. Er starrte auf das Bild, unfähig, den Blick abzuwenden. Eine schwarze Marilyn Monroe – nur schlanker. Jean-Baptiste spürte, wie er eine Erektion bekam, und musste lachen.

    Wie erbärmlich bist du eigentlich?, fragte er sich selbst. Sitzt zu Hause, besäufst dich mit ’ner billigen Flasche Rotwein und geilst dich an ’ner nackten Toten auf!

    Doch trotz der Selbstkritik war er unfähig, die Augen von Sima Goldberg abzuwenden. Hastig blätterte er durch die anderen Fotos. Da waren Nahaufnahmen ihres Gesichts, ihres Geschlechts und von der von der Kugel geschlagenen Wunde. Dann Fotos ihrer Rückansicht. Jean-Baptiste konnte sich nicht dagegen wehren festzustellen, dass Sima Goldbergs Rückansicht ebenso makellos war. Der schlanke Rücken endete in einem höchst wohlgeformten Gesäß, auf dem sich eine kleine, mit weißer Farbe gestochene Tätowierung befand, ohne dass sich jedoch erkennen ließ, was da abgebildet war.

    Jean-Baptiste schlug die Akte zu, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wobei er mit diesem fast umgekippt wäre, und atmete ein paar Mal tief durch. Er bemühte sich, wieder vollständige Kontrolle über seine zitternden Hände zu bekommen. Verdammter Alkohol! Er hatte Lust, sich eine Zigarette anzuzünden, um sich zu beruhigen. Aber Julie hatte durchgesetzt, dass in der Wohnung nicht geraucht wurde, und Jean-Baptiste beschloss, sich daran zu halten. Schließlich war Jean-Baptiste ein anständiger Ehemann – was die Beziehung zu seiner Frau nicht daran gehindert hatte, über die Jahre zu leiden. So gesehen, sagte sich Jean-Baptiste, war die unerwartete Abwesenheit von Ehefrau und Tochter eigentlich nicht sonderlich zu beklagen. Es war ja nicht so, als wäre hemmungsloser Sex mit Julie zu erwarten gewesen. Und mit Claire konnte er noch das ganze Wochenende etwas unternehmen. Wenn sie wollte.

    Heute Abend hatte er jedenfalls erst einmal seine Ruhe. Es war Freitag. Er hatte gut gegessen, eine Flasche Rotwein fast geleert, Fotos der schönen Sima Goldberg gesehen, und es war davon auszugehen, dass er im Fernsehen irgendein mittelmäßiges Fußballspiel finden würde. Alles in allem hörte sich das nach einem recht gelungenen Abend an! Es gab also nicht den geringsten Grund, sich zu beklagen.

    Als er sich von seinem Stuhl erhob, brauchte er einen Moment, um sich in aufrechter Haltung zu stabilisieren. Sein Blick fiel auf die Pfütze Rotwein, die noch in der Flasche verblieb. Er würde sie, nachdem er abgeräumt hatte, vor dem Fernseher direkt aus der Flasche trinken.

    Er räumte ab, bis schließlich nur die Akte auf dem Tisch verblieb. Eine ganze Minute starrte Jean-Baptiste bewegungslos auf den Stapel Papier. Und mit einem Mal ergriff eine vollkommen verrückte Idee Besitz von ihm. Es war die Schuld des Rotweins. Es konnte nur so sein! Wäre er nur einigermaßen klar im Kopf gewesen, wäre ihm so ein Schwachsinn niemals in den Sinn gekommen. Doch da war sie, die fixe Idee, und ließ sich nicht abschütteln: Was, wenn er heute mal alles anders machte? Was, wenn er ab heute alles anders machte?

    Unsinn! So was gab es in Filmen! Irgendwelche Versager, die aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen ein sogenanntes Schlüsselerlebnis haben, daraufhin eine Hundertachtziggraddrehung vollziehen, zu irgendwelchen Superhelden mutieren und die Welt retten. Aber das gab es eben nur in Filmen. Zum Beispiel in Avatar. Toller Film. Irgend so ein hirnloser Marine ohne funktionierende Beine schaffte, was all die hochintelligenten Wissenschaftler nicht schafften. Oder Forrest Gump. Da fing’s auch mit den Beinen an. Erst diese komischen Gehhilfen – und plötzlich wurde er der absolute Superflitzer. Forrest Gump war noch besser als der Typ in Avatar! Der Kerl war so dämlich, dass er keine Zeit mit Denken verschwendete, weil er fast gar nicht denken konnte. Genau darin schien der entscheidende Unterschied zu liegen. Forrest Gump handelte!

    Und mit einem Mal – und der Rotwein mochte dabei seine Rolle spielen – fand Jean-Baptiste die Geschichte vom Versager, der zum Helden wird, ausgesprochen attraktiv. Denn dass er selbst über die Jahre zu einem ziemlichen Versager geworden war, gestand er sich in einsamen Momenten der Wahrheit durchaus ein. Und jetzt hatte ihm das Schicksal eine einzigartige Gelegenheit geschenkt und ihm die Akte zu dem verteufelten Fall Goldberg in die Hände gespielt.

    »Dieser Tag ist ein bedeutender Tag«, lallte er feierlich. »Freitag, 13. Mai 2011. Man beachte das Datum! Und jetzt los!«

    Er zog sich aus. Im Badezimmer stellte er sich in die Duschwanne, und drehte voll auf – und zwar das kalte Wasser. Ganze zwei Minuten blieb er bewegungslos unter dem Wasserstrahl stehen. Als er das Wasser schließlich abstellte, hatte er eine Gänsehaut und fror erbärmlich. Doch er fühlte sich deutlich frischer. Den Rest Rotwein goss er weg und setzte sich dann im Wohnzimmer mit der Akte in einen Sessel. Er würde diesen Goldberg finden! Das würde seine Karriere nicht wieder reparieren, aber mit dem Bewusstsein, dass dieser Schweinehund seiner gerechten Strafe zugeführt würde, würde es sich viel leichter leben lassen. Das stand fest.

    Marie Bouvier.

    An jenem Freitagnachmittag war die junge Kommissaranwärterin Marie Bouvier gerade dabei, die Dokumentation zu einem Fall abzuschließen, als ihr Diensthandy klingelte.

    Unbekannter Teilnehmer, kündigte das Display an.

    »Bouvier«, meldete sie sich.

    »Guten Morgen, Frau Bouvier«, sagte eine höfliche Männerstimme, »mein Name ist Philippe Delacourt. Ich hoffe, mein Anruf kommt nicht ungelegen?«

    Philippe Delacourt? Der Name kam Marie Bouvier bekannt vor, sie konnte ihn jedoch nicht zuordnen.

    »Keineswegs«, antwortete sie.

    »Gut!«, sagte der Anrufer, »Francis Bertillon hat mir Ihre Nummer gegeben. Er ist ein Freund von mir.«

    Hauptkommissar Francis Bertillon war Maries Vorgesetzter. Marie mochte ihn. Er war auch nach dreißig Jahren im Dienst noch ein leidenschaftlicher Polizist, er war kompetent und wollte Marie nicht an die Wäsche. Eine Kombination, die Marie sehr schätzte.

    »Was kann ich für Sie tun?«

    »Ich hoffte, Sie könnten mir in einer persönlichen Angelegenheit helfen.«

    »Wie das?«

    »Ich möchte das nur sehr ungern am Telefon besprechen«, erwiderte Delacourt. »Ich möchte nicht unverschämt sein, aber besteht die Möglichkeit, dass wir uns treffen? Könnte ich Sie zum Beispiel auf einen Kaffee einladen?«

    Normalerweise wäre Marie nie auf einen derartigen Vorschlag eingegangen. Doch Hauptkommissar Bertillon würde ihre Nummer nur an Menschen herausgeben, denen er vertraute.

    »OK«, antwortete sie daher und warf einen Blick auf die Uhr. »Wo und wann?«

    »Was halten Sie von dem Restaurant Le Caveau du Palais an der Place Dauphine? Falls Ihnen nach mehr als einem Kaffee ist. Es liegt nur ein paar Minuten zu Fuß von Ihrem Kommissariat. Sie wählen die Uhrzeit.«

    »Einverstanden«, willigte Marie ein. »Um halb fünf?«

    Nachdem sie aufgelegt hatte, recherchierte sie Philippe Delacourt. Google kannte mehrere Personen dieses Namens, doch nur eine stach Marie sofort ins Auge. Wenn der Anrufer dieser Philippe Delacourt gewesen war, war auch klar, wieso ihr der Name bekannt vorgekommen war. Delacourt war ein erfolgreicher Financier, der als Investor eines jungen Pariser Modeunternehmens in den letzten Jahren mehrfach in der Presse gewesen war.

    Marie erkannte Delacourt sofort, als sie das Restaurant pünktlich um 16.30 Uhr betrat und ihn an einem isolierten Tisch sitzen sah. Er schien sie ebenfalls zu erkennen, denn als er sie bemerkte, erhob er sich und blickte in ihre Richtung.

    »Frau Bouvier«, begrüßte sie Delacourt, ihr die Hand bietend, »ich weiß es sehr zu schätzen, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich haben.«

    Marie ergriff die dargebotene Hand, während ihr nicht entging, wie Delacourt sie musterte.

    »Setzen Sie sich doch!«, forderte Delacourt sie auf. »Was möchten Sie trinken?«

    »Einen Tee«, antwortete Marie, und während Delacourt sich nach einer Kellnerin umwandte, hatte Marie Gelegenheit, Delacourt ihrerseits zu betrachten. Er war ein beeindruckender Mann. Er mochte Mitte fünfzig sein und verfügte über die Ausstrahlung, die man oft bei geborenen Führungspersönlichkeiten findet. Marie wusste intuitiv, dass ihm Selbstzweifel fremd waren. Delacourt achtete offensichtlich auf sein Äußeres; seine Körperform und Haltung waren die eines Athleten, sein Gesicht war glatt rasiert und seine Züge kantig und männlich. Das perfekt sitzende, volle graue Haar gab ihm zusätzliche Autorität und harmonierte mit einem ebenso perfekt sitzenden grauen Anzug.

    »Wünschen Sie auch zu speisen?«, fragte die Kellnerin, nachdem Marie einen Kräutertee bestellt hatte.

    Delacourt blickte Marie fragend an.

    »Nein, danke«, sagte sie.

    »Und Sie, der Herr?«

    »Dann ich auch nicht«, erwiderte Delacourt. »Aber bringen Sie uns doch bitte eine Flasche Perrier.«

    »Kommt sofort.«

    »Francis – Hauptkommissar Bertillon – ist ein guter Freund von mir«, begann Delacourt, als die Bedienung gegangen war. »Er hat mir gesagt, dass Sie nicht auf langes Geschwafel stehen, also komme ich direkt zur Sache.«

    »Das weiß ich zu schätzen.«

    »Ich hatte mich an Francis gewandt, weil ich Hilfe in einer persönlichen Angelegenheit benötige. Francis scheint große Stücke auf Sie zu halten. Außerdem sagte er, Sie hätten für die nächsten zwei Wochen Urlaub genommen, aber nicht geplant, die Stadt zu verlassen. Deswegen hat er mir empfohlen zu sehen, ob ich Sie für mein Anliegen gewinnen kann. Kurz: Ich möchte Ihnen eine kleine Nebentätigkeit vorschlagen. Selbstverständlich würde ich Sie dafür großzügig entlohnen.«

    Obwohl es nicht unüblich war, dass Polizeibeamte sich ihr Gehalt durch Nebentätigkeiten aufbesserten, hätte Marie ein solches Angebot normalerweise sofort abgelehnt. Sie legte keinen besonderen Wert auf Geld und kam mit dem, was sie hatte, gut aus. Normalerweise. Aber dies traf auf ihre aktuelle Situation nicht zu. Möglicherweise könnte sie schon bald etwas mehr Geld gut gebrauchen. Da kam diese Gelegenheit wie gerufen. Außerdem gab es ihr einen Vorwand, in den kommenden Tagen und Wochen regelmäßig im Kommissariat ein und aus zu gehen, obwohl sie offiziell im Urlaub war. Auch das kam ihr gelegen.

    »Worum geht’s?«, fragte sie vorsichtig.

    »Ich möchte zwei Dinge klären, bevor ich Ihnen Details gebe«, erwiderte Delacourt. »Erstens: Ganz gleich, ob Sie den Auftrag annehmen oder nicht, ich benötige Ihr Wort, dass Sie alles, was ich Ihnen sagen werde, für sich behalten.«

    Er blickte Marie an. Diese Forderung war legitim. Also nickte sie.

    »Gut«, fuhr Delacourt fort. »Zweitens sollten wir über Ihr Honorar reden.«

    »Und das wollen Sie nicht tun, nachdem Sie mir gesagt haben, worum es geht«, stellte Marie fest.

    »Ich bevorzuge es, das vorher zu klären«, bestätigte Delacourt.

    Ging es um eine solche Schweinerei, dass Delacourt befürchten musste, sie würde ablehnen, wenn sie nicht durch ein vermutlich großzügiges Honorar geködert wurde?

    »Aber ich treffe keine Entscheidung, bevor ich nicht weiß, worum es geht«, stellte Marie klar.

    »Selbstverständlich nicht«, entgegnete der Financier, und Marie war fürs Erste beruhigt.

    »Zehntausend Euro pro Woche«, fuhr Delacourt fort und blickte Marie an. »Maximal vier Wochen. Wenn wir dann nichts haben, blasen wir die Sache ab.«

    Zehntausend Euro pro Woche, wiederholte Marie in Gedanken. Das war knapp das Fünffache ihres monatlichen Nettogehaltes. Und das möglicherweise mal vier.

    »Und wenn ich Ihren Fall nicht löse?«

    »Das Honorar ist erfolgsunabhängig.«

    »Wer sagt Ihnen, dass ich mich auch bemühen werde?«, wollte Marie wissen.

    Delacourt blickte ihr direkt in die Augen.

    »Francis hat mir versichert, dass Sie eine seriöse Polizistin sind, Frau Bouvier. Ich werde darauf vertrauen, dass es sich nicht mit Ihrer Ehre vereinbaren lässt, einfach nur das Geld zu nehmen und dann Däumchen zu drehen.«

    »Was, wenn ich von mir aus, sagen wir, nach zwei Wochen aufhören will?«, wollte Marie wissen. »Wie Sie selbst sagten, habe ich nur zwei Wochen Urlaub geplant.«

    »Ich bezahle Sie für die Zeit, die Sie sich mit dem Fall beschäftigen. Unabhängig von Erfolg und auch davon, wer entscheidet, die Arbeit abzubrechen. Sie kommen also jederzeit aus der Sache raus. Und ich ebenfalls. Wenn ich den Eindruck habe, dass Sie doch nur herumsitzen und Däumchen drehen, steht es mir zu, die Sache vorzeitig abzubrechen.«

    Marie nickte. Auch das war legitim.

    »Wenn Sie den Fall vor dem 5. Juni lösen«, fügte Delacourt hinzu, »lege ich zwei Tickets für das Herrenfinale von Roland Garros drauf. Loge.«

    »Wieso vor dem 5. Juni?«

    »Weil das der Tag des Finales ist«, erwiderte Delacourt mit dem Anflug eines Lächelns.

    Marie nickte. Sie dachte an ihre Eltern, die seit Jahren davon träumten, einmal Roland Garros zu besuchen.

    In diesem Moment kam das Mineralwasser, was Marie einen Moment zum Nachdenken verschaffte.

    »Na gut«, nahm Marie das Gespräch wieder auf und blickte Delacourt an. »Worum geht es?«

    »Um ein kleineres Wirtschaftsdelikt. Ich weiß von Francis, dass Sie damit keine besondere Erfahrung haben, doch das spielt keine Rolle. Sie werden sehen. Das Unternehmen, um das es geht, heißt Mod’éco. Mode écologique. Gegründet vor sieben Jahren von einer Frau namens Anne Delacourt.«

    »Ihrer Frau?«

    Delacourt nickte. »Anne und ich sind weiterhin verheiratet, leben aber nicht mehr zusammen. Die Gründe spielen keine Rolle. Beruflich kommen wir bestens miteinander aus.«

    Marie nickte, um Delacourt zu signalisieren fortzufahren. Wie relevant die Beziehung der Delacourts war, könnte sie sich später fragen.

    »Es gibt eine rasant wachsende Marktnische für nachhaltige Mode – und mit den entsprechenden Investitionen, einem cleveren Marketing und vor allen Dingen weitsichtigen Partnerschaften mit Onlinehändlern hat Mod’éco sich in dieser Marktnische gut etabliert. Viele dieser Onlinemodehändler sind in mehreren europäischen Ländern vertreten und damit das ideale Sprungbrett für junge Marken wie Mod’éco, die so ohne große Investitionen ihre Produkte nach ganz Europa vertreiben können. Das Kapital für die Wachstumsinvestitionen kam anfangs zu einem kleineren, aber signifikanten, Teil aus meinem Privatvermögen, zu einem anderen Teil von anderen Investoren, zu denen ich einen leichten Zugang habe, denn hauptberuflich manage ich den Investmentfonds meiner Familie. Das bisherige Highlight in der Geschichte Mod’écos war der Börsengang Anfang des ersten Quartals dieses Jahres. Soweit klar?«

    Marie nickte. Sie hatte davon gelesen.

    »Nun ereignet sich Folgendes«, fuhr Delacourt fort. »Kurz nach dem Ende des ersten Quartals setzt jemand eine ansehnliche Summe auf einen Einbruch der Mod’éco-Aktie. Eine Wette gegen den Markt. Und was passiert wohl kurz darauf?«

    »Der Einbruch kommt«, riet Marie.

    »Genau. Wenige Tage später veröffentlicht das Management eine Gewinnwarnung. Die Aktie verliert rund dreißig Prozent. Und die Investorin, die auf genau diese Entwicklung gesetzt hat – es handelt sich um eine Frau –, macht eine Viertelmillion Euro Gewinn. Davon kann man sich heutzutage nicht zur Ruhe setzen – es ist aber trotzdem ein nicht zu verachtender Betrag. Da die AMF immer aufmerksam wird, wenn es solche Aktienentwicklungen gibt, untersucht sie die Sachlage.«

    »Moment«, unterbrach Marie. »AMF?«

    »Autorité des Marchés Financiers. Die Aufsicht unserer Finanzmärkte.«

    »Ach ja, richtig. Danke.«

    »Die AMF tut das Übliche, wenn ein Verdacht auf illegalen Insiderhandel besteht. Sie fordert das Insiderregister von Mod’éco an und prüft es unmittelbar. Sie stellt fest, dass eine Patricia Courtois – so heißt die Investorin – nicht darauf steht und auch niemand, der in irgendeiner Beziehung zu ihr zu stehen scheint. Über die folgenden Wochen überprüft die Staatsanwaltschaft Frau Courtois, die sich aber als Musterbürgerin und Ehefrau eines sehr einflussreichen Mannes, der in den Aufsichtsräten mehrerer großer Unternehmen sitzt, herausstellt. Da durchaus möglich ist, dass Frau Courtois einfach Langeweile hatte und ein bisschen spekuliert hat, wird die Sache nicht weiter verfolgt. Im Zweifel für die Angeklagte.«

    »Aber dabei bleibt es nicht?«, fragte Marie. Sonst säßen wir wohl kaum hier zusammen.

    »Nein«, bestätigte ihr Gegenüber und lächelte. »Das heißt, vorerst passiert nichts. Doch dann geht der Staatsanwalt mit einem guten Freund Golf spielen: mit mir.«

    »Ah«, machte Marie, während Delacourt einen Schluck von seinem Wasser trank. »Ich hatte mich schon gefragt, wie Sie das alles überhaupt wissen können.«

    »Der Staatsanwalt erzählte mir von der Sache. Smalltalk ohne Hintergedanken. Ich habe dann meinerseits ein paar Tage darüber nachgedacht. Es schien mir ausgesprochen unwahrscheinlich, dass hier keine vertraulichen Informationen im Spiel waren.«

    Delacourt beugte sich vor und fuhr eindringlich fort:

    »Ich will niemanden in den eigenen Reihen, der sich nicht an die Regeln hält. Also möchte ich selbst veranlassen, dass die Sache untersucht wird. Idealerweise, ohne dass darüber etwas an die Öffentlichkeit gelangt, um den Ruf des Unternehmens nicht unnötig zu beschmutzen.«

    »Warum haben Sie sich nicht an einen Privatdetektiv gewandt?«

    Delacourt lehnte sich wieder zurück und lächelte erneut.

    »Das war auch mein erster Gedanke. Nur kenne ich keinen Privatdetektiv. Also habe ich mit Francis Kontakt aufgenommen, mit dem ich ebenfalls seit Jahren befreundet bin. Ich hoffte, er könnte mir vielleicht jemanden empfehlen.«

    Er machte eine Pause und blickte Marie in die Augen, bevor er fortfuhr:

    »Und genau das hat er getan.«

    »Verstehe«, sagte Marie. »Ich soll Ihre Privatdetektivin sein.«

    »Ich will nicht verhehlen, dass ich Sie anfangs, als Francis Sie vorschlug, für zu jung hielt. Doch ich habe meine Meinung geändert. Erstens hält Francis Sie für eine ausgezeichnete Ermittlerin, zweitens habe ich recherchiert, dass Sie vor der Polizeischule Finanzen studiert haben, und drittens haben Sie das richtige Alter, um mit den jungen Leuten von Mod’éco zu reden und sie zu verstehen.«

    Marie schwieg, und Delacourt ließ ihr Zeit, um das Gehörte zu verarbeiten.

    »Bis wann muss ich mich entscheiden, ob ich annehme?«, frage sie schließlich.

    »Wie lange brauchen Sie?«

    »Ich melde mich spätestens Sonntagabend bei Ihnen«, erwiderte Marie.

    »Einverstanden. Hier ist meine Karte. Unter der Mobilfunknummer bin ich jederzeit erreichbar.«

    Er machte eine kurze Pause. Dann fragte er:

    »Wieso haben Sie sich für eine Laufbahn bei der Polizei entschieden und sind nicht bei den Finanzen geblieben, wenn ich fragen darf?«

    Marie

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