Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Mann mit der Säge
Der Mann mit der Säge
Der Mann mit der Säge
eBook412 Seiten4 Stunden

Der Mann mit der Säge

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Martin Wolf steht politisch unter Druck: Seine Wiederwahl als Bürgermeister ist in Gefahr, nachdem Oskar Lafontaine aus der Bundesregierung ausgeschieden ist und die Umfragewerte in den Keller gehen. Martin beschließt, seinen Freund und Förderer Erwin Lohse zu opfern, weil er zu alt ist. Doch Erwin nimmt den Kampf auf. Ein Kampf, der mit harten Bandagen im Stil der Mafia geführt wird.
Währenddessen führt Erwin Lohses Sohn einen Ehekrieg gegen seine Frau. Mittendrin Erwins Enkeltochter Nina, die scheinbar einzige Familienangehörige, die einen klaren Kopf bewahrt.
Als ein fürchterliches Familienunglück geschieht, erkennt Nina den Bürgermeister als Hauptschuldigen. Sie versucht, die Ehre ihrer Familie wiederherzustellen und die Wiederwahl Martin Wolfs mit allen Mitteln zu verhindern.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum23. Sept. 2016
ISBN9783738085389
Der Mann mit der Säge

Ähnlich wie Der Mann mit der Säge

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Der Mann mit der Säge

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Mann mit der Säge - Jens van der Kreet

    VDK_Saege_Cover_600px

    Jens van der Kreet

    DER MANN MIT DER SÄGE

    ROMAN

    Sex und Geld regiert die Welt.

    Volksmund


    DIE ERSTE LEGISLATURPERIODE

    11.03.1999 - 11.08.1999

    1.

    Es war Christinas Idee gewesen, ins gemeindeeigene Hallenbad zu gehen. Jetzt saßen die beiden Mädchen gemeinsam nebeneinander am Beckenrand an der Längsgeraden des großen Schwimmerbeckens und quatschten über Gott und die Welt, während aus den Lautsprechern an den Seitenwänden leise Radiomusik lief, Frozen von Madonna.

    Sie waren beide sechzehn, doch jemand, der sie nicht kannte, hätte sie nicht für gleichaltrig gehalten, dachte Nina, während sie ihre beste Freundin in ihrem vorteilhaften roten Bikini von der Seite betrachtete. Auf der einen Seite Christina Appeldorn, die Schönheit in der Blüte ihres Lebens, mit wallendem blonden Haar, ebenmäßigem Gesicht, hohen Wangenknochen, prallen Brüsten, einer Neunzig-Sechzig-NeunzigFigur. Auf der anderen Seite sie selbst, klein, zierlich, unscheinbar, mit kaum ausgebildetem Busen, aber dafür viel zu dünnen Beinchen, die sie zu häufig rasieren musste. Höchstens das Piercing in ihrem Bauchnabel verriet ihre Individualität, fand sie. Sie hätte sich selbst belügen müssen, wenn sie nicht zugegeben hätte, dass sie neidisch auf ihre Freundin war.

    „Hast du den Typen da hinten gesehen? fragte Christina. Christina spielte auf einen etwa ein Meter neunzig großen Hünen an, der gerade vom Startblock gesprungen war, „hat der Muskeln.

    Nina, ganz in Gedanken, blickte zu ihr herüber.

    „Lass uns doch wieder ins Wasser gehen. Mir ist langsam kalt!" Nina hatte bereits überall Gänsehaut und begann zu bibbern.

    „Weichei! Kein Wunder, dass du keinen Typen abkriegst!"

    „Na warte!"

    Nina war ins Wasser gesprungen, und zog Christina am Bein, um sie runter zu ziehen.

    „Du hast nur Angst vor dem kalten Wasser!", rief sie, und sie zerrte weiter an Christinas Bein, während diese sich verzweifelt am Beckenrand zu halten versuchte.

    Plötzlich hielt Nina inne. Christina blickte sie überrascht an.

    „Was ist los?"

    „Du hast schon wieder blaue Flecken am Oberschenkel."

    „Und? Haben Sie ein Problem damit, Frau Doktor?"

    „Hast du wieder Streit gehabt mit deinem Vater? Oder hast du die Flecken von Tim? Schlägt er dich?"

    Christina lachte auf.

    „Spinnst du jetzt, oder was?"

    Nina sah ihr mit ernstem Blick in die Augen. Dabei fiel ihr ein weiteres Mal auf, dass man einem Menschen nie in beide Augen gleichzeitig sehen kann, sondern man blickt abwechselnd in jeweils eines davon.

    „Ich meine es ernst – wirklich."

    „Das ist wieder mal typisch für dich. Die ernste Nina. Aber, lass dir das gesagt sein: Du siehst Gespenster! Ich meine, es ist lieb von dir, dass…"

    Nina hielt ihrem abwehrenden Blick stand.

    „Dann kannst du mir sicher erklären, woher deine blauen Flecken kommen. Bist du … die Treppe runter gefallen, oder was?"

    Christina schüttelte den Kopf und warf ihr einen mitleidigen Blick zu, mit dem man den Insassen einer psychiatrischen Anstalt versieht, der einem glaubhaft versichert, vom Nachbarn vergiftet worden zu sein.

    „Weißt du, Nina, daran sieht man mal wieder, woran es hapert bei dir. Die Flecken habe ich vom Sse-ex mit Tim. Hättest du selber Sse-ex, dann wüsstest du, dass es dabei etwas härter zur Sache geht. Du als Jungfrau kannst darüber natürlich nichts wissen."

    Diese Retourkutsche saß. Nina blickte pikiert zur Seite, schwieg, schmollte.

    Christina ließ sich vom Beckenrand ins Wasser herabgleiten und legte ihrer Freundin fürsorglich den rechten Arm um die Schulter.

    „Tut mir Leid. Ich wollte nicht deine Gefühle verletzen."

    Sie blickten sich wieder gegenseitig in die Augen. Christina lächelte.

    „Freunde?"

    Nach einer weiteren Minute, die sie Christina zappeln ließ, erwiderte sie deren Lächeln.

    „Freunde."

    „Vergessen wir die Sache, und schwimmen eine Runde um die Wette?"

    „Okay."

    „Wer als letzte ans Ziel kommt, muss das Vereinsheim putzen."

    „Dann hol schon mal den Schrubber", erwiderte Nina, und schwamm in Richtung der Startblöcke. Christina schloss sich an.

    Sie beschlossen ihren Nachmittag im Schwimmbad mit einem Besuch der Sonnenterrasse, wo Nina, die das Wettschwimmen siegreich für sich entschieden hatte, beim Anblick der von der Sonne unvorteilhaft angestrahlten Oberschenkelprellungen ihrer Freundin abermals ein mulmiges Gefühl beschlich.

    Was soll’s, dachte sie, es ist ihr Leben.

    2.

    Martin Wolf saß am Schreibtisch und studierte Personalakten, während auf dem PC die Website von Spiegel Online ihre knalligen Schlagzeilen in die Welt hinausblies und ihn auf dem Laufenden hielt. Er nutzte selten den Computer in seinem Büro; er gebrauchte ihn nur, wenn in der Welt etwas Wichtiges geschehen war. Heute war ein solcher Tag. Es war der erste sonnige Tag des Jahres nach diesem langen Winter, doch die Nachrichten dieses Tages standen ganz im Gegensatz zu den meteorologischen Frohbotschaften.

    Es war Zeit zu handeln.

    Es klopfte an der Tür.

    Martin blickte auf seine goldene Armbanduhr.

    17 Uhr.

    „Herein!", bellte Martin Wolf.

    Christian Klein, der Fraktionsgeschäftsführer der Sozialdemokratischen Partei im Gemeinderat von Altweiler und in Personalunion Gemeindeverbandsvorsitzender der örtlichen Parteigliederung, betrat das Büro des Bürgermeisters. Klein, der im Hauptberuf als Referent im Saarbrücker Bildungsministerium an der Schnittstelle zur „großen Politik tätig war, trug einen schwarzen Dreireiher, Marke „Hugo Boss, ein blaues Hemd und eine dunkle Krawatte.

    „Du wolltest mich sehen. Was gibt‘s?"

    Er sprach wie immer bestes Hochdeutsch.

    Warum kann dieser Schnösel nicht einfach wie normale Menschen reden?

    „Was wird es wohl geben? Warum glaubst du, dass ich dich herbestellt habe, um dir deine kostbare, vom Steuerzahler bezahlte Zeit zu stehlen?"

    „Ich weiß es nicht, Martin, mach es nicht so spannend, es ist spät."

    Martin lachte.

    „Die aktuelle politische Entwicklung zwingt uns, bestimmte Dinge, die seit Langem liegen geblieben sind, endlich in die Hand zu nehmen, um uns auf den Wahltermin im Juni besser vorzubereiten."

    Der Bürgermeister wies Klein an, Platz zu nehmen und bat seine Sekretärin Patricia darum, ihnen beiden Kaffee zu machen.

    „Du weißt, was sich heute bundespolitisch ereignet hat?", sagte Martin.

    Die beiden Männer nahmen am Konferenztisch in der Mitte des Raumes Platz.

    „Oskar Lafontaine ist zurückgetreten. Na und?" antwortete Klein.

    „Was bedeutet das für uns?"

    Klein dachte lange nach. Soweit hatte er sich mit dem Thema noch gar nicht beschäftigt. Als Sozialdemokrat befand er sich an diesem Tage sozusagen in einem Schockzustand.

    „Dass wir die Landtagswahl verlieren", sagte er und sah dem Bürgermeister konzentriert in die Augen.

    Martin stöhnte.

    „Ich habe eben davon gesprochen. Welchen Termin haben wir Mitte Juni?", fragte er seinen Fraktionsgeschäftsführer.

    Klein schnippte mit den Fingern.

    „Die Kommunalwahl. Aber warum sollte Oskars Rücktritt unsere Chancen bei der Kommunalwahl schmälern? Er war Bundesfinanzminister. Ich meine, was haben wir schon mit der Bundespolitik zu tun?"

    „Weil unsere Wähler frustriert sind und nicht mehr wählen gehen. Die bleiben zuhause, und ich hab dann eine Mehrheit gegen mich, die mich sabotiert. Ich werde nichts mehr durchbringen können und bei der nächsten Bürgermeisterwahl wird man mich abwählen. So ist das! So einfach ist das!"

    Martin erhob sich und begann, um den Mahagonitisch zu tigern.

    Die beiden Herren sahen sich eine Weile an, dann ließ Klein seinen Blick über die Regale wandern. Martin hatte Verständnis dafür, dass Klein seinen Feierabend lieber mit seiner 16 Jahre jüngeren Lebensgefährtin verbringen würde. Doch hier ging es um Wichtigeres. Um ihn.

    Klein stand an Position zwei der Liste für den Gemeinderat, und so hatte er Verantwortung zu tragen.

    „Welche Gegenmaßnahme schlägst du vor?", fragte Klein.

    „Welche Gegenmaßnahmen können wir zum jetzigen Zeitpunkt noch durchsetzen? Die Listen sind aufgestellt, die Wahlprogramme sind erarbeitet, kurz: Viel können wir nicht mehr tun. Aber einiges geht noch."

    „Konkret?"

    „Ich will die Fraktion verjüngen."

    Klein spitzte die Ohren.

    „Ich stelle mir das so vor, dass ein paar der Altvorderen auf ihre Ämter verzichten. Die meisten von ihnen haben das sechzigste Lebensjahr bereits überschritten."

    „An wen genau denkst du da?"

    Patricia kam mit der Kanne und schenkte ihnen Kaffee ein.

    „Ich schlage vor, wir fangen vorne an", sagte Wolf.

    Klein fiel die Kinnlade herunter.

    „Du willst Erwin absägen?"

    „Es ist unsere einzige Chance, erwiderte Wolf, „wir wollen stärkste Fraktion werden. Und – sieh mal: Du hättest gleich zwei Vorteile davon. Du würdest den Fraktionsvorsitz übernehmen. Und du wärst Vorsitzender der stärksten Fraktion. Ist das ein Angebot?

    „Das kannst du nicht machen. Erwin ist zu beliebt bei den Menschen im Ort."

    „Erwins Zeit ist vorbei."

    „Hat er dir nicht all die Jahre den Rücken frei gehalten?"

    „Brauche ich jemanden, der mir den Rücken freihält?"

    „Weißt du noch, die Sache mit dem Bauauftrag für die Sporthalle damals? Der kalte Schweiß bricht mir aus, wenn ich daran denke. Es hätte uns allen den Job kosten können."

    „Mit Prämien für verdiente Genossen gewinne ich keine Wahl. Neue Zeiten erfordern neue Maßnahmen."

    „Wenn du einen neuen Spitzenmann aufbauen musst, so kurz vor der Wahl, dann schmälert das deine Chancen."

    „Es wundert mich, das von dir zu hören. Schließlich sollst du der neue Spitzenmann sein."

    „Mich kennen nur wenige Leute in der Gemeinde. Was passiert, wenn ich danach für ein mögliches Wahldesaster verantwortlich gemacht werde?"

    „Wo wir hier unter uns sind, und ich verlasse mich darauf, dass diese Dinge unter uns bleiben: Die Verjüngung ist nur einer der Gründe, warum ich auf Erwin verzichten möchte."

    Wolf setzte sich wieder auf seinen Platz.

    „Also ist deine Verjüngung nur ein Vorwand. Und um mir dieses Lügenmärchen anzuhören, vergeude ich meine Zeit. Ich bin gespannt, was wirklich dahinter steckt."

    „Kannst du dich an den gemeinsamen Antrag von der CDU und den Naturverbundenen Ökologen erinnern, den die beiden Fraktionen in den letzten Monaten mehrmals eingebracht haben?"

    „Den Antrag, den wir mehrmals abgelehnt haben? Mit dem wir die Bevölkerung mehrmals gegen uns aufgebracht haben? Das Naturschutzgebiet."

    „Die Aue hinter dem Sportplatz. Seit dort Biber gesichtet wurden, ist es ein Prestigeprojekt der Naturverbundenen Ökologen gewesen, aber als dann die ersten vom Aussterben bedrohten Schlangen aufgetaucht sind …"

    „Blindschleichen", unterbrach ihn Klein.

    „Gut, Blindschleichen, sagte Wolf, „jedenfalls hat plötzlich die ganze Bevölkerung der Gemeinde ihr Herz für diese Brache entdeckt. Sogar die CDU ist auf den Zug aufgesprungen, nur wir nicht. Nach gültiger Rechtslage kann auf dem Gebiet nach wie vor gebaut werden.

    „Wir waren dagegen, weil das Gebiet von den Bürgern der Gemeinde als Freizeitgelände genutzt wird, zum Beispiel von Erwin, der dort sein Wochenendhaus hat. Wenn das Gelände als Naturschutzgebiet ausgewiesen wird, kann er es nicht mehr mit dem Auto befahren."

    „Nicht nur das. Das Haus ist beim Bauamt nicht genehmigt. Ich habe das überprüft. Wenn wir das Areal als Naturschutzgebiet ausweisen, dann können wir das Haus nicht mehr nachträglich genehmigen. Wir können es im Gegenteil jederzeit abreißen lassen. Wir werden das Gebiet als Naturschutzgebiet ausweisen, das Häuschen, für das keine Genehmigung vorliegt, zurückbauen und das ganze Gelände, soweit nötig, renaturieren. Voilà: Martin Wolf. Umweltfreundlich. Kompetent. Bürgernah. Vergiss nicht, dass in diesem Jahr zusätzlich die Grünen antreten. Das ist die Chance, die NÖP endlich aus dem Gemeinderat herauszubekommen."

    „Ich verstehe, fasste Klein zusammen, „und Erwin als Besitzer dieses Wochenendhauses würde dieses Projekt natürlich hintertreiben. Das würde ich zumindest tun, wenn mir das Haus gehören würde.

    „Jedenfalls muss Erwin weg. Und du wirst ihn beerben. Das war‘s schon. Schönen Feierabend. Und vergiss nicht: morgen Abend! Fraktionssitzung!"

    „Alles klar!"

    Als er ging, hinterließ Klein ein schlechtes Gefühl beim Bürgermeister. Martin Wolf hätte gerade bei Christian Klein mehr Enthusiasmus und weniger Zweifel erwartet. War er nicht jung und ehrgeizig genug, sich auf den Fraktionsvorsitz zu freuen? Fürchtete er sich? Wenn ja, vor wem? Vor dem Fraktionsvorsitz? Vor dem Wähler? Oder doch vor Erwin? Wie weit ging seine Loyalität? Martin Wolf nahm sich vor, bei der anstehenden Umstrukturierung seiner Mannschaft äußerste Vorsicht an den Tag zu legen.

    3.

    Erwin Lohse drückte auf das Gaspedal.

    „19 Uhr, meldete die sonore Stimme des Nachrichtensprechers der Europawelle, „Saarbrücken – Nach dem Rücktritt von Bundesfinanzminister Lafontaine wird dessen Privathaus in Saarbrücken weiterhin von Journalisten belagert ….

    Erwin drückte auf den Ausschaltknopf. Er konnte es nicht mehr hören, außerdem musste er sich auf den Verkehr konzentrieren, bei der Geschwindigkeit. Hoffentlich werde ich nicht noch von der Polizei angehalten, dachte er.

    19 Uhr. Das heißt, die Fraktionssitzung hatte schon begonnen. Es war peinlich, wenn ausgerechnet der Fraktionsvorsitzende zu spät kam.

    Er war am Nachmittag mit Hedi im Baumarkt einkaufen gewesen, danach hatte er begonnen, die frisch erworbene Stichsäge auszuprobieren, um die Renovierung des Partykellers fortzusetzen. Die Spanplatten, mit denen er die Wand des Kellers auskleiden wollte, lagen funktionsbereit im Keller, und es hatte nahe gelegen, schon mal mit der Montage zu beginnen. Darüber hatte er dann die Zeit vergessen. Ein Spaziergänger überquerte die Straße in Höhe des Rathauses. Beinahe hätte Erwin ihn übersehen, denn es war bereits dunkel, und der Spaziergänger trug keine Leuchtkleidung. Erwin, in dem die Wut wieder aufstieg, hupte. Seit Oskars Demission am Tag zuvor war er schlecht gelaunt.

    Er parkte den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Rathaus, der jetzt relativ leer war. Er stürzte die Treppe zum Ratssaal hinauf. Neben dem prächtigen Ratssaal, in dem die Gemeinderatsitzungen stattfanden, befand sich ein kleinerer Konferenzraum, in dem die Fraktionssitzung stattfand.

    Um 19.00 Uhr.

    Er blickte auf seine Armbanduhr.

    19.10 Uhr.

    Zu spät.

    Mist!

    Er trat ein.

    Martin Wolf hatte die Sitzung bereits eröffnet, was eigentlich Erwins Part als Fraktionsvorsitzender gewesen wäre. Er blickte in die Runde. Die Gesichter seiner Fraktionskollegen blickten ausdruckslos. Kein Scherz kam über ihre Lippen, es herrschte Totenstille. Hatte sie die politische Situation so mitgenommen?

    Er klopfte auf den Tisch, der der Tür am nächsten lag, und an dem sein Kollege Rainer Späth Platz genommen hatte und schmetterte ein kraftvolles „Guten Abend" in die Runde. Rainer Späth zupfte nervös an seinem Vollbart und blickte ihn grimmig an. Er grüßte nicht zurück.

    Erwin nahm am Rande der U-förmigen Tischformation Platz, an der Wölbung des U saß der Bürgermeister wie eine Art Lehrer.

    „Schön, dass du es noch geschafft hast, Erwin", sagte Martin.

    Seine Tonart klang einen Schwung kälter als er es von Martin gewohnt war.

    „Mit derartiger Undiszipliniertheit ist die Kommunalwahl natürlich nicht zu gewinnen", warf Erwins Stellvertreter Klein unaufgefordert ein.

    Nur mühsam konnte Erwin ein Wort des Unmuts unterschlucken.

    Bleib ruhig, dachte er.

    Wolf wälzte sich durch weitere Tagesordnungspunkte, die Erwin mit einem flauen Gefühl in der Magengrube verfolgte. Ihm fiel auf, dass seine Genossen, in deren Mitte er saß, nicht über seine Witzchen lachten, ihm nichts zuflüsterten, kurz: ihn beständig ignorierten. Auf seine Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge wurde nicht eingegangen. Was ist los mit ihnen?, fragte er sich.

    „Kommen wir zum Tagesordnungspunkt ‚Verschiedenes‘, eröffnete Martin das letzte zu besprechende Thema. „Hier ist besonders die aktuelle politische Situation zu nennen, und die Auswirkungen, die sich daraus für unseren Wahlkampf ergeben.

    Es herrschte gespanntes Schweigen, was Wolf zu genießen schien.

    „Eines ist klar: Solange die politischen Führungskräfte, die uns kurz vor dem Wahltag im Stich lassen, uns nicht helfen, müssen wir es selbst tun. Das bedeutet, dass unser personelles Angebot attraktiver werden muss. Zwar sind die Listen für die Gemeinderatswahl bereits aufgestellt, dennoch sollten wir noch nachsteuern."

    Er legte eine Folie auf den Projektor, der neben seinem Schreibtisch stand und knipste das Gerät an, das zunächst mit einem kräftigen Brummen antwortete, um nach kurzer Bedenkzeit sein Licht in Richtung der Wand auszustrahlen.

    Auf der Grafik waren mehrere Balken in verschiedenen Farben abgebildet. Von links nach rechts wurden die Balken höher.

    „Diese Grafik zeigt die Entwicklung der Durchschnittsalter unserer Gemeinderäte im Verlauf der letzten sieben Legislaturperioden", sagte der Bürgermeister.

    „Das Durchschnittsalter, das in den wilden Siebziger Jahren noch bei 45 Jahren gelegen hatte, ist nach und nach angestiegen. Die Juso-Vorsitzenden aus dieser Zeit sind in einigen Ortsteilen noch heute die jüngsten Vorstandsmitglieder. In den letzten beiden Legislaturperioden sind nur vier neue Leute für uns in den Gemeinderat hinein gekommen. Und von denen ist keiner unter vierzig. Statt unsere jungen Mitglieder zu fördern und sie frühzeitig in den Gemeinderat zu schicken, wie es die CDU tut, schicken wir sie Plakate kleben, und denken, damit hat es sich. Ein fataler Fehlschluss. Das Ergebnis ist, dass uns die jungen Leute nicht mehr wählen. Von der Kriegsgeneration wählen die meisten schon aus Prinzip die CDU, übrig bleiben die Alt-68er und die Bergleute. Und davon gibt es jeweils immer weniger. Das bedeutet: Wir müssen attraktiver für die Jugend werden", schloss Wolf.

    Dann geschah, was Erwin Lohse nicht für möglich gehalten hatte: Wolf erntete frenetischen Applaus.

    Erwin stockte der Atem.

    „Wenn ich da mal kurz einhaken darf, sagte er, „Martin, du hast verhindert, dass Manuel Schneider in Kuhbach auf Platz zwei aufgestellt wird. Jetzt kommst du mir mit Verjüngung der Partei? Das ist doch nicht konsequent!

    „Anstatt dass wir hier über vergossene Milch reden, lass mich dir erläutern, wie ich mir diese Neuorientierung vorstelle, fuhr der Bürgermeister fort, „wir werden das am besten so machen: Alle Kandidaten, die älter als 65 Jahre sind, treten von ihren Listenplätzen zurück, um Platz für die Jungen zu machen.

    Erwin schluckte. Der einzige in der Fraktion, der älter als 65 war, war er.

    Was für eine ausgemachte Sauerei!

    Eine solche Hinterlist hätte er Wolf niemals zugetraut.

    „Martin, ich glaube nicht, dass solche Schnellschüsse geeignet sind, unsere Chancen bei der Wahl zu steigern. Ein solches Zeichen der Nervosität kommt beim Wahlvolk schlecht an. Außerdem ist Jugendlichkeit nicht alles. Die Leute wollen Männer mit Erfahrung. Mich kennt in Altweiler jeder. Bei den Vereinen habe ich einen guten Ruf. Die Leute wissen, was ich geleistet habe, und sind froh, dass ich nochmal antrete."

    „Aber du musst doch zugeben, dass du langsam zu alt dafür bist", meinte Herbert Franz.

    „Kompetenz ist keine Frage des Alters, Herbert."

    „Ich kann die betroffenen Genossen nur davor warnen, jetzt Unruhe in die Partei zu bringen, indem man aus persönlichen Gründen gegen die Strategie der Partei opponiert, sagte Günther Schmidt, der Pressereferent des Gemeindeverbandes, der bislang eng und problemlos mit Erwin zusammengearbeitet hatte, „das müsstest du als unser langjähriger Fraktionsvorsitzender doch am besten wissen.

    „Ich denke, dass wir nun genug Aussprache zu diesem Thema hatten und bitte darum, dass diejenigen, die meinen Vorschlag unterstützen, die Hand heben", sagte Martin.

    Erwin hoffte, dass genügend Freunde, die er in der Fraktion hatte, diesen Vorschlag des Bürgermeisters ablehnen würden. Er glaubte aufgrund seiner Erfahrung, dass die meisten auf seiner Seite stünden. Dann wäre die Sache geklärt, und Erwin würde sie auf sich beruhen lassen und nicht nachkarten. Doch die Stimmung war bedrohlich.

    Sie hatten ihn heute Abend wie einen Eindringling behandelt, der nicht wirklich willkommen war. Deshalb hätte er das Abstimmungsergebnis kommen sehen müssen. Dennoch traf es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als alle außer ihm selbst ihre Hand hoben und sich für seine Demission aussprachen.

    Vorbei.

    Nach fünfunddreißig Jahren Mitgliedschaft im Gemeinderat von Altweiler hatte man ihn abserviert. Einfach so. Erwin fühlte eine große Leere in sich aufsteigen. Neben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit für die Arbeiterwohlfahrt und seiner Vorstandstätigkeit im örtlichen Kaninchenzuchtverein waren der Gemeinderat und die Arbeit für seine Partei eine Leidenschaft, die einen großen Teil seiner Lebensqualität ausmachte. Er konnte nicht fassen, dass die Leute, die ihm alle etwas zu verdanken hatten, für die er sich jahrelang aufgeopfert hatte, ihn einfach fallen lassen konnten.

    Er blickte um sich. Seine Genossen setzten die Sitzung fort, als wäre nichts. Sie widerten ihn an. Erwin erhob sich von seinem Platz und verließ die Sitzung grußlos.

    4.

    16.45 Uhr.

    Michael Lohse hielt das Bier in seiner Linken, die Fernbedienung in seiner Rechten und glotzte auf den Fernseher.

    Er war kein Freund des Herumzappens, es machte ihn nervös. Dennoch switchte er heute Nachmittag hin und her. Switchte von Stadion zu Stadion. Er konnte sich nicht richtig auf die Bundesliga konzentrieren, die im Fernsehen lief.

    Früher wäre er samstags um diese Zeit nicht vor dem Fernseher anzutreffen gewesen. Früher hätte er mit seinen drei Kindern den Zoo besucht. Vor zwanzig Jahren hatte er sogar selbst samstags gespielt. Das waren noch Zeiten gewesen.

    Jetzt glotzte er in diesen Kasten, in der Hoffnung, irgendeine Fußball-Sensation könnte ihn für kurze Zeit davon abhalten, sich selbst zu bemitleiden.

    Es ist unglaublich, dachte er, dass man gar nicht merkt, wie man langsam aber sicher vereinsamt. Es ist ein schleichender Prozess. Irgendwo hatte er mal gelesen, dass Frösche, die in kochendes Wasser geworfen werden, sofort wieder herausspringen. Wenn das Wasser aber langsam erhitzt wird, während sie darin sitzen, dann bleiben sie drinnen. Und sterben.

    Er nahm einen großzügigen Schluck aus seiner Flasche. Auf dem Wohnzimmertisch standen fünf weitere davon, die waren leer.

    Genau wie der Frosch in das kochende Wasser, war er in die Einsamkeit gelangt. Er hatte es nicht bemerkt, als seine Kontakte allmählich weniger wurden. Er fand, dass an seinem Leben die Einsamkeit das mit Abstand schlimmste Übel war. Die Monotonie an sich war nur das zweitschlimmste. Er war nicht für die Einsamkeit gemacht.

    Es begann, als er Renate kennen lernte. Er war damals siebzehn gewesen und hatte aktiv Fußball gespielt. Sie hatten ihn dafür bewundert, dass er mit Renate liiert war, einem Mädchen mit sportlichem Körper und glänzendem schwarzen Haar. Wenn man ehrlich war, hatte sie sich seitdem äußerst gut gehalten.

    Er nahm einen weiteren Zug aus seiner Flasche.

    Er hatte heute Nachmittag keinen Bock auf die Bundesliga. Warum hatte er sich dieses verfluchte Pay-TV gekauft? Würde besser mal wieder auf den Fußballplatz gehen, dachte Michael. Treffe ich den einen oder den anderen? Aber, wenn er es sich ehrlich überlegte, hatte er auf diese „Anderen" keine Lust. Immer dieselben alten Nasen, die hier hängen geblieben sind, dachte er verbittert, so wie ich. Ich mag sie nicht mehr sehen.

    Er nahm einen weiteren Schluck.

    Das Bier schmeckte heute mal wieder erstklassig.

    Ein Tor ist gefallen.

    „Was interessiert es mich?", sagte er laut. Was sagte es überhaupt über die Qualität einer Spielklasse, wenn ausgerechnet eine Mannschaft aus der Pfalz ihr amtierender Titelträger war? Ein Saarländer verzieh der Bundesliga so etwas nicht.

    Er wusste, dass er etwas tun musste, um wieder einen Rhythmus in sein Leben zu bekommen. Doch es war nicht die leichteste Übung. Er war in diesem Trott drin, er konnte den Trott nicht aus seinem Leben herausbekommen, wenn sich sonst in seinem Leben nichts änderte.

    Was aber sollte er denn schon ändern? Er lebte in diesem Kaff, er schuftete noch in demselben Betrieb, in dem er damals seine Lehre gemacht hatte, er und seine Frau schwiegen sich täglich von morgens bis abends an. Seine Kinder wurden ihm täglich fremder.

    Ich lebe wie Al Bundy, dachte Michael. Nur mit dem Unterschied, dass dessen Frau nicht fremdging. Er nahm noch einen Schluck. Er wusste, dass sie es tat. Es war so offensichtlich.

    Je länger diese Fußballspiele dauerten, desto mehr fiel ihm die Sendung auf die Nerven. Wieso habe ich diese Scheiße gekauft?, fragte er sich, früher hätte ich mich dafür geohrfeigt. Fußball war doch der Arbeitersport! Und Michael war ein Sozialist der reinen Schule gewesen. Früher wäre er niemals auf die Idee gekommen, sich an der kapitalistischen Ausplünderung seiner Lieblingssportart zu beteiligen.

    Wir werden eben alle älter.

    Michael fragte sich, wo diese Schlampe war.

    Er verspürte bereits ein leichtes Rauschgefühl vom Alkohol. Dummheit frisst, Intelligenz säuft, das hatte schon sein Großvater Jonathan immer gesagt. Erstaunlich war jedoch, dass er sich trotz des Alkohols in seinem Blut nicht besser fühlte. Je länger er da saß und in die Glotze stierte, desto gereizter wurde er.

    Er beschloss, die Glotze auszumachen und sich anzuziehen. Er entschied sich für seinen Sonntagsstaat. Blaues Hemd. Krawatte rot. Die schwarze Jacke. Wenn Renate samstags nachmittags das Haus verlassen konnte, dann konnte er das auch. Von seinen Mädchen ließ sich sowieso keine mehr blicken.

    Es war kalt für einen Märztag. Es fiel ihm auf, als er die Straße betrat. Der Kragen der Jacke verursachte einen üblen Juckreiz an seinem roten Bart. Er fühlte sich nicht wohl.

    Du blödes Kaff, dachte er. Seit fünfundvierzig Jahren wohne ich in dieser trüben Einsiedelei.

    An der Einmündung seiner Tannenstraße in die Neuenwalder Straße musste er sich entscheiden, ob er rechts Richtung Sportplatz „Zu den drei Eichen" abbiegen wollte, um seinem alten Club, den Sportfreunden Altweiler, beim Landesliga-Match gegen die benachbarte Kleinstadt zuschauen sollte oder ob er nach links Richtung Ortsmitte gehen wollte.

    Er überlegte kurz, stellte sich vor, welche Leute in seinem Alter wohl auf dem Fußballplatz herumlungern würden, und entschied sich flugs für den Weg nach links. Das Herz schlägt links, dachte er.

    Vielleicht hätten sich die Dinge anders entwickelt, wenn er stattdessen zum Sportplatz gegangen wäre.

    Linke Hand vor dem Erreichen der Ortsmitte passierte er die Eulenklause.

    Er blieb kurz stehen und dachte nach.

    Dann betrat er die Kneipe.

    Die holzgetäfelten dunkelbraunen Wände der Gaststätte versprühten ihren altertümlichen,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1