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Vom Leben und Streben der Eissturmvögel
Vom Leben und Streben der Eissturmvögel
Vom Leben und Streben der Eissturmvögel
eBook537 Seiten7 Stunden

Vom Leben und Streben der Eissturmvögel

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Über dieses E-Book

Was geschieht, wenn gehobene und abgesicherte Lebensumstände unerträglich werden, die Übermacht der Institutionen erdrückend wird, Enge und Starrheit des bürgerlichen Daseins der freien Entfaltung entgegenstehen? Heinrich, Mahoud, Marlene und Tamara finden ihre eigene Antwort. Die Handlung begleitet die Protagonisten beim Streben nach Selbstverwirklichung und beleuchtet deren weggewischten Lebenslügen und Skrupel, ihre Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit.

"Er liebte seine Arbeit, solange er am Schreibtisch saß, und fand nichts Schlimmes daran. Er hatte ein System erschaffen, bei dem niemand zu etwas gezwungen wurde. Dennoch wurden sie unglaublich reich damit. Immer hatte er sich danach gesehnt, aus der Mittelmäßigkeit eines ereignislosen Lebens herauszutreten und Außergewöhnliches zu erreichen."
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum29. Aug. 2021
ISBN9783754157442
Vom Leben und Streben der Eissturmvögel
Autor

Ninni Martin

Der Autor lebt im Raum Stuttgart und veröffentlicht unter Pseudonym.

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    Buchvorschau

    Vom Leben und Streben der Eissturmvögel - Ninni Martin

    Impressum

    Vom Leben und Streben der Eissturmvögel

    Ninni Martin

    Text: © Ninni Martin, Oktober 2012

    3. überarbeitete Fassung © Ninni Martin, August 2021

    Umschlag: © Ninni Martin, CorelDRAWX3

    self-published with neopubli GmbH, Berlin

    self-published without guaranty

    ninni.martin.edition@gmail.com

    ***

    ISBN 978-3-754157-44-2

    Bildnachweis:

    Titelbild: Montage, Quellen verändert, Ninni Martin, CorelDrawX3,

    Quellen: a.) Kirt Edblom 'A Lonely Existence', www.flickr.com/photos/kirt_edblom/15194617048, gemäß CC BY-SA 2.0. b.) Arne List, Havhestur, www.flickr.com/photos/arne-list/2518211959, gemäß CC BY-SA 2.0.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Vorwort

    Eissturmvögel sind an Küsten der Nordmeere beheimatet. Ihre Suche nach Lebensräumen an steilen Klippen und schroffen Felsen ist rastlos und ungewiss. Mit solchem unstillbaren Drang zur Veränderung verhält es sich ähnlichen bei Heinrich, Mahoud, Marlene und Tamara, die aus gehobenen, abgesicherten, engen, starren und aussichtslos gewordenen Lebensumständen ausbrechen. Die Handlung begleitet die Protagonisten bei ihrem Streben nach Selbstverwirklichung und beleuchtet deren weggewischten Lebenslügen und Skrupel, ihre Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit.

    'Vom Leben und Streben der Eissturmvögel' ist vollkommen fiktiv und deshalb in jeder Hinsicht frei erfunden. Mögliche Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen natürlichen Personen, mit bestehenden oder vergangenen juristischen Personen sowie mit geographischen oder örtlichen Gegebenheiten oder Begebenheiten sind oder wären deshalb rein zufällig und unbeabsichtigt.

    Sämtliche Rechte in allen Ländern bleiben dem Autor, der diesen Roman unter dem Pseudonym Ninni Martin veröffentlicht, vorbehalten. Die Urheberschaft begründet der Autor nicht zuletzt mittels Veröffentlichung des Romas durch Verlag epubli GmbH, Berlin, im Oktober 2012, gemäß Order der ISBN über epubli GmbH sowie Autorenvertrag mit epubli GmbH im Oktober 2012.

    Zumal das Manuskript kein Verlagslektorat durchlaufen hat, bittet der Autor um Nachsicht für Schreibfehler, welche diesem sicher noch anhaften. Nichtsdestoweniger darf der Leser bei der Lektüre gute, abwechslungsreiche und spannende Unterhaltung erwarten.

    'Vom Leben und Streben der Eissturmvögel' im Oktober 2012 ist nach 'Ferkel fliegen nicht' vom Januar 2010 der zweite Roman des Autors.

    gez.: Der Autor, im Oktober 2012 sowie im August 2021

    I. Mahoud

    1.

    Das Eis war nicht dick genug und Schnee lag darüber. Bretterbohlen, die den Aushub für einen Fundamentsockel hätten abdecken müssen, stapelten sich meterweit daneben. Jeder Polier hätte sie wieder zurück an ihren Platz geschoben. Auf diesem Teil der Baustelle hatte sich seit Langem kein Vorarbeiter mehr sehen lassen. Überhaupt gab es kaum gelernte Fachkräfte um diese Jahreszeit. Die Wenigen, die das ganze Jahr über in dem Subunternehmen durchhielten, waren damit überfordert, immer neue Tagelöhner anzuweisen und zu beaufsichtigen. Der übergroße Termindruck und eine leichtfertige bis fahrlässige Bauaufsicht ließen kaum Vorkehrungen für den Arbeitsschutz zu. Jeden Tag ereigneten sich Unfälle. Ein Werkstattwagen brachte die Verunglückten fort. Wohin wusste niemand. An besonders schlimmen Tagen wurde ein kleiner Zuschlag auf den Lohn versprochen, damit die aufkommende Betroffenheit die Arbeitsmoral nicht schmälerte. Meistens blieb es bei dem Versprechen. Der strenge Frost der vergangenen Wochen hatte in den letzten Tagen nachgelassen. Dafür war über Nacht Schnee gefallen. Für Mahoud zeigte sich die Welt in einem für ihn noch unbekannten Kleid. Natürlich kannte er Winter aus dem Fernsehen. Jedoch konnte er sich nicht vorstellen, wie Schnee sich anfühlt oder riecht. Bislang hatte er gedacht, dass Niederschlag einen Geruch haben musste. Alles Feuchte, das er kannte, roch nach etwas. Besonders Trinkwasser aus den Leitungen, das oft viel zu stark mit Chlor versetzt war, hatte er je nach Herkunft am Gestank zu erkennen gelernt. Auch hier, in einem Land mit Wasser im Überfluss, bildete er sich ein, selbst den Regen noch riechen zu können. Nun bot Schnee ihm eine völlig neue Erfahrung, wenn auch eine schlechte. Mahoud brach durch das Eis. Im Loch stand das Wasser metertief und er konnte nicht schwimmen. Mit seinen dicken Handschuhen fand er am Rand des Eisbruchs keinen Halt und der mit Wasser vermischte Schnee wirkte wie Schmierseife. Sein Parka quoll auf, wurde schwer und drückte ihn hinunter. An einer Eisscholle zog er sich noch einige Male hoch, um kurz Luft zu holen, ehe er davon wieder abrutschte. Seine Kräfte schwanden und die Kälte lähmte ihn. Er hätte besser laut um Hilfe gerufen. Aus dem Gefühl, ohnehin nicht verstanden zu werden, gab Mahoud kaum einen Laut von sich. Soviel er wusste, war er der einzige Araber auf dieser Baustelle. Hingegen arbeiteten hier Pakistaner, Angolaner, Ghanaer und Liberianer sowie einige Kasachen und Usbeken. Kaum jemand verstand Deutsch oder Englisch und gewiss niemand Arabisch. Sein Trupp von Drahtbindern war viel zu weit entfernt und jeder darin allein mit sich selbst beschäftigt, der Kälte zu widerstehen. Niemand von ihnen sollte bemerkt haben, dass er verloren gegangen war. Mahoud verspürte keine Angst, nur Ärger. Er verfluchte seinen Cousin, der ihm geraten hatte, in dieses Land zu gehen. Vor Schnee, Frost und Winter hatte er ihn nicht gewarnt. Der Verwandte hatte keine Ahnung davon. Das Wasser trübte sich von aufgewirbeltem Schlamm und Lehm und er sah die Oberfläche über sich immer dunkler werden. Seltsame Gedanken, die sich niemals in Worte fassen ließen, gingen durch seinen Kopf. Allmählich schwebte er abwärts, obwohl er sich immer leichter fühlte, so als würde er fliegen. Er nahm noch verschwommen Gesichter wahr, die unendlich weit oben über den Rand der Baugrube erschienen. Dann fühlte er einen Stoß, so hart und durchbohrend wie ein Stich und verlor die Besinnung.

    Mahoud hatte unglaubliches Glück. Ein Kranführer hätte ihn von weit oben nicht beinahe ertrinken gesehen, wenn ein Lastwagen mit den Armierungsmatten nicht in einen Graben abgerutscht wäre. So hatte sich der Entladetermin um einige Minuten verzögert. Der Mann auf dem Kran hätte in alle möglichen Richtungen blicken oder in seiner Gondel einen kleinen Fernsehapparat anschalten können, um die Wartezeit zu überbrücken. Ein vereinzelter Bauarbeiter, der ziemlich orientierungslos über ein Feld aus Eis und Schnee stolperte, wäre ihm kaum von Interesse gewesen. Dreißig Jahre Berufserfahrung ließen ihn das Unglück kommen sehen. Der Kranführer wartete geradezu darauf. Als es geschehen war, und Mahoud um sein Leben kämpfte, rief er über Funk um Hilfe und lotste die Heraneilenden heran. Einer der Männer stach mit einem Armierungseisen dem Versinkenden hinterher und bekam ihn an der Kapuze zu fassen. Mit Mühe und klammen Fingern zogen sie ihn aus dem Wasser und legten ihn auf den Rücken. Mit seinem ganzen Gewicht drückte ein Usbeke Mahoud einige Male auf den Brustkorb. Dann rollten sie ihn zur Seite. Wasser und Erbrochenes flossen aus seinem Mund und Nase und er begann wieder zu atmen. Zwei der Arbeiter packten ihn auf einen Karren. Die anderen wurden von einem Vorarbeiter wieder an ihre Arbeit gescheucht. In einem ungeheizten Baucontainer und auf einer Pritsche liegend fand er wieder zu sich. Er war allein. Jemand hatte eine Flasche Wodka vor ihm hingestellt. Er dachte zunächst nicht daran, den Alkohol anzurühren. Weil er noch immer in durchnässter Kleidung steckte und zu zittern begann, überlegte er, ob Wodka ein wenig helfen würde. Mahoud widerstand der Versuchung. Nichts war ihm wichtiger als trockene, warme Kleidung. Daran mangelte seine Versorgung ohnehin und überhaupt blieben auf der Baustelle Sauberkeit und Hygiene ohne Bedeutung. Tagelöhnern wie ihm standen keine heiße Dusche zu, nur Waschtröge mit bestenfalls lauwarmem Wasser. Mahoud sah sich um. Er befand sich in einem Gerätelager. Handtücher und warme Decken würde er hier nicht finden. Er wollte aufstehen und hinausgehen. Auf der entfernten anderen Seite der Baustelle befanden sich die Schlaf- und Wohncontainer. Dort hatte er in einer Sporttasche eine Garnitur Wäsche zum Wechseln verstaut. Doch seine Beine kamen ihn so wachsweich vor, dass er sich schnell wieder auf den Rand der Pritsche setzte. Dann hockte er einfach da, wartete und fror erbärmlich. Nach einer Weile kam ein Kraftfahrer in den Container, um ihn abzuholen. Sie stiegen in einen Kleintransporter. Mahoud sah auf der Rückbank bereits seine Tasche liegen. Über mehr Habseligkeiten verfügte er nicht und nichts würde er auf der Baustelle zurücklassen. Das Polster des Beifahrersitzes sog sich voll mit Wasser, das aus seiner Kleidung sickerte. Er lehnte sich vorwärts und ließ sich von dem Heißluftgebläse am Armaturenbrett, so gut es ging, wärmen. Als sie die Baustellenausfahrt durchquerten, fuhr ihnen eine Kolonne von Fahrzeugen des Zolls entgegen.

    »Mann, hast Du ein Glück!«, stellte der Fahrer fest und nickte Mahoud zu. »Die filzen zurzeit jede Baustelle nach Schwarzarbeitern. Die würden Dich, wie alle anderen auch, festnehmen, schon morgen auswiesen und in ein Flugzeug setzen. Die Regierung greift durch und ihre Zöllner sind unerbittlich und machen vor nichts halt.«

    Mahoud beherrschte die fremde Sprache noch wenig und doch verstand er, was der Fahrer ihm zu erklären versuchte. Seit Tagen gab es unter den Arbeitern kein anderes Thema. Ständig und eher mit Händen und Füßen erzählte einer von anderen, die auf Baustellen, in Restaurants oder Wäschereien festgenommen worden waren. Mahoud zweifelte, ob der Rat, die Ausweispapiere rechtzeitig zu vernichten, ein guter wäre. Zumindest konnte so die Ausweisung verzögert werden. Er dachte nicht daran, seine Identität zu verschleiern. Sobald er ausreichend Geld verdient haben würde, wollte er ohnehin weiterreisen und bis dahin durfte er sich eben nicht festnehmen lassen. Dieses Land gefiel ihm nicht und bei dem Gedanken, einen Fehler begangen zu haben, verfluchte er abermals seinen Cousin. Der Fahrer verfiel in Schweigen. Sie fuhren stundenlang auf einer Autobahn erst in die Dämmerung und dann in die Nacht hinein. Allmählich begann er etwas trockener zu werden, dafür beschlugen die Seitenscheiben des Transporters zunehmend mit Kondenswasser. Mahoud nickte ein. Als er aufwachte, stand der Transporter auf einem Autobahnrastplatz. Der Fahrer war bereits ausgestiegen und öffnete die Seitentür von außen. Kalte Luft zog in das Fahrzeug.

    »Endstation!«, rief er und riss Mahoud so derb von seinem Sitz, dass er das Gleichgewicht verlor und auf den Asphalt fiel. Ungerührt stieg der Fahrer zurück in das Fahrzeug und fuhr davon. Nach etwa hundert Metern stoppte der Transporter. Die Seitentür schwang auf und Mahouds Tasche flog im hohen Bogen heraus. Dann fuhr der Wagen wieder an und verschwand endgültig. Auf einem ähnlichen Rastplatz war Mahoud vor mehr als drei Wochen abgeholt und zur Baustelle gebracht worden. Er hatte das Areal die ganze Zeit nicht verlassen und wo er sich befand, wusste er nicht. Es interessierte ihn auch nicht, denn er hatte jede Woche sein Geld in bar bekommen. Schnell lief Mahoud zu seiner Tasche, öffnete sie und wühlte tief hinein. Den Umschlag mit dem Geld fand er nicht. Einer der Tagelöhner musste ihn bestohlen haben. Vor einigen Tagen hatte er einen ertappt, wie dieser einem anderen Arbeiter das Geld aus der Tasche zog. Der Tagelöhner bot ihm davon etwas an, damit er ihn nicht verpetzen würde. Mahoud nahm nichts an, doch verraten hat er den Dieb nicht. Das war ein Fehler gewesen, wie er nun begreifen musste. Unter der Innensohle eines Turnschuhs hielt er eine Banknote versteckt. Erleichtert stellte er fest, dass ihm wenigstens dieses Geld und ebenso sein Ausweis noch geblieben waren. Er schulterte die Tasche und lief hinüber zu einem Restaurantgebäude. Im Eingangsbereich fand er eine Nische, die als Kiosk eingerichtet war. Er wechselte die Banknote in Kleingeld und kaufte Marken für Duschkabinen im Keller. Dort herrschte Betrieb. Viele Fernfahrer bereiteten sich für die Nacht vor und erledigten ihre Toilette. Im Umkleidebereich war die Luft verbraucht, dämpfig und stickig, zumindest war es warm. Mahoud genoss das heiße Wasser und die Zeituhr für den Duschautomaten schien es nicht eilig zu haben. Nach mehr als einer halben Stunde hatte er erst zwei Marken verbraucht. Dann kleidete er sich wieder an, soweit die trockene Unterwäsche reichte. Über Oberbekleidung zum Wechseln verfügte er nicht. Seine nasse Hose, den Pullover und den Parka klemmte er zwischen die Lamellen eines Heizkörpers und setzte sich davor. Die Fernfahrer sahen ihn misstrauisch an. Sie hielten ihn für einen Obdachlosen, der in ihrem Badezimmer nichts verloren hätte. Ihm wurde bewusst, dass er tatsächlich obdachlos war. Der Duschbereich leerte sich allmählich und Mahoud musste keine weiteren Anfeindungen fürchten. Er hoffte, die Nacht über vor der Heizung sitzen bleiben zu dürfen, doch dann erinnerte er sich an das Türschild mit den Öffnungszeiten. Spätestens ab Mitternacht würde er wieder auf die Straße geschickt werden. Ein Nachzügler betrat den Umkleideraum und grüßte ihn wortlos. Als der Fernfahrer unter der Dusche stand, begann dieser ein Lied vor sich hin zu trällern, das Mahoud kannte. Unentwegt wurde es im letzten Jahr in den Radiostationen vieler arabischer Länder gespielt. Er summte mit. Die Melodie erinnerte ihn an seine Heimat und an bessere Tage. Als der Fernfahrer aus der Dusche stieg und sich abtrocknete, bemerkte er, dass Mahoud mitsang.

    »Woher kommst Du?«, fragte er ihn auf Arabisch.

    »Aus Katar«, antwortete Mahoud.

    »Was hast Du ausgefressen?«

    Mahoud schwieg. Der Fernfahrer zog sich an und setzte sich neben ihn.

    »Wenn Du aus Tunesien oder Marokko kommen würdest, wäre es nicht ungewöhnlich, Dich so erbärmlich zu sehen. Aber Du bist Araber eines reichen Lands. Bestimmt hast Du im Wohlstand gelebt. Wer ist hinter Dir her? Ein Emir persönlich?«

    Mahoud fühlte sich berührt und bedrängt zugleich, denn der Fremde schätzte ihn ziemlich treffend ein. Was ginge ihn sein Leben an? Um nicht abweisend zu wirken, schenkte er dem Mann ein unverbindliches Lächeln. Er dachte zwar nicht daran, mit ihm über die Vergangenheit zu reden, doch würde er die Gelegenheit nur ungern verstreichen lassen, überhaupt mit einem Menschen zu sprechen. Seit Wochen suchte er ein Gespräch, und wenn es darin nur um Belangloses ginge. Manchmal meinte er, seine Sprache bereits verloren zu haben.

    »Nimm mich mit!«, bat Mahoud den Fernfahrer unversehens, »ich kann hier nicht bleiben.« Ihm war es gleich, wohin der Mann ihn bringen würde. Er wollte nicht viel erklären, denn er fühlte sich durchschaut und seine Ziellosigkeit war ihm anzusehen.

    »Gut«, sagte der Fernfahrer, »ich werde Dich ein Stück weit mitnehmen. Ich brauche ohnehin jemanden, der mir morgen beim Verladen helfen wird.« Er warf ihm ein gewinnendes Lächeln zu und fragte ihn, ob er Hunger habe. Mahoud nickte, während er sich seinen nicht mehr triefend nassen Pullover überstreifte. Gemeinsam stiegen sie aus dem Untergeschoss die Treppe hinauf und setzten sich in das Restaurant. Der Fernfahrer bestellte für ihn mit, ohne zu fragen, was er essen wolle. Ihm wurde ein schlichtes und preiswertes Gericht serviert, ohne dass der Fremde sich dafür verausgaben musste.

    »Woher kommst Du?«, fragte Mahoud den Fernfahrer, der ihm dem Wesen nach einfach, offen und ehrlich zu sein schien. Er vermutete, dass sein Gastgeber genauso getrieben wurde, nur zu sprechen, um die Muttersprache nicht zu verlernen. Wie angenehm erschien es deshalb beiden, nicht in einer fremden Sprache nach Worten zu suchen, um am Ende doch nicht verstanden zu werden.

    »Aus Marseille. Ich bin dort geboren. Von meiner Herkunft her bin ich Marokkaner. Ich besitze zwar einen französischen Pass und fühle mich dennoch nicht als Franzose. Französisch habe ich nie richtig gelernt, weil es in dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, nicht nötig war«, erzählte der Fernfahrer, während er aß. Mahoud erkundigte sich, was den Marokkaner hierher geführt habe, zumal es sich in Südfrankreich um diese Jahreszeit erträglicher leben und arbeiten ließe. Die Unterhaltung kam in Gang und sein Gastgeber zeigte sich redselig. Er führe für eine französische Spedition vor allem Tiertransporte. Seine Touren reichten innerhalb Europas stets von einem Ort zum anderen, ohne dass Länder und Grenzen von Bedeutung seien. Allein die Auslastung des Fahrzeugs zähle sowie Umsatz und Gewinn. So reise er bereits seit Wochen ausschließlich in den Ländern Nord- und Osteuropas umher. Sein Disponent würde andere Fahrer für Einsätze in südlichen Regionen bevorzugen. Natürlich quäle ihn inzwischen das Heimweh. Bald jedoch würde er alles hinwerfen, endlich heiraten und sich eine andere Arbeit suchen.

    Mahoud hörte zu und dachte zurück. Auch er hatte eine Frau gefunden und war davor gestanden, zu heiraten. Dafür hätten sie ihm den Kopf abgeschlagen. Mahoud verdrängte die Erinnerung und schenkte dem Kraftfahrer wieder seine Aufmerksamkeit. Der Marokkaner erzählte noch eine Weile von sich und beschrieb die Gegend um Fes, woher seine Eltern stammten und wohin er im Alter ziehen würde. Es gäbe keinen besseren Ort als dort, um in Ruhe alt zu werden. Marseille sei dann eine schöne Stadt, wenn sich auch Geld verdienen ließe, solange es überhaupt möglich sei, zu arbeiten. Für Alte, Kranke und für Einwanderer hätten die alt eingesessenen Franzosen dort nicht viel übrig. Die Bedienung erschien, um abzurechnen und um sie hinauszubitten. Der Service würde um Mitternacht schließen. Etwa 50 Kilometer die Autobahn entlang gäbe es jedoch eine weitere Raststätte, welche rund um Uhr geöffnet bliebe. Mahoud und der Fernfahrer verließen das Restaurant und gingen über den Parkplatz auf den Lastwagen mit Anhänger zu. Unter Planen waren die Ladeflächen voll mit Transportkisten, in denen Hühner dicht gedrängt eingeschlossen waren. An einer Seite hob der Fernfahrer die Plane an und kontrollierte mit einem flüchtigen Blick die Fracht. Dann fluchte er. Die Zahl der verendeten Tiere hatte deutlich zugenommen. Er hätte sein Ziel, den Schlachthof einer bekannten Handelskette, längst erreicht haben sollen, jedoch war er stundenlang in einem Stau hängen geblieben. Noch dazu hatte ihn eine Polizeistreife herausgewunken. Frachtpapiere und Fahrtenschreiber waren genau überprüft worden. Die Kontrolleure fanden nichts und suchten weiter nach dem Haar in der Suppe. Bei einem Reifen wurden sie fündig, bei dem das Profil zu sehr abgefahren war. Der Fernfahrer musste von einem Händler einen Ersatzreifen liefen lassen und montieren, ehe er weiter ziehen durfte. Das große Sterben unter den Hühnern hatte derweil längst begonnen, ohne dass die Kontrolleure sich daran störten. Mahoud wollte an der Beifahrerseite einsteigen.

    »Du fährst!«, bestimmte der Fernfahrer kurz und nahm selbst auf dem Beifahrersitz Platz.

    »Ich kann nicht fahren!«, versuchte Mahoud einzuwenden, »ich habe noch nicht einmal einen Führerschein.«

    »Den brauchst Du auch nicht. Du musst nur einige hundert Kilometer geradeaus fahren. Alles andere regeln die Automatik und der Tempomat.« Der Fernfahrer gab ihm einige Anweisungen, um das Fahrzeug zu starten und anzufahren. Er achtete gerade noch darauf, dass er den Lastzug sicher auf der Autobahn einfädelte. Dort herrschte kaum Verkehr. Als Mahoud am Steuer sicherer wirkte, verkroch der Fernfahrer sich im hinteren Teil der Kabine in eine Koje. Bald hörte Mahoud ihn schnarchen. Alles kam ihm wie ein Traum vor. Auf den Golfplätzen war er als Heranwachsender mit Freunden nachts auf Trolleys um die Wette gefahren: steuern, Gas geben und bremsen. Auf ihn wirkte es beinahe unglaublich, dass ihm die dort erworbene Fahrkunst nun von Nutzen wurde. Er fühlte sich viel zu aufgeregt, um sich von der Müdigkeit des Fernfahrers anstecken zu lassen. Straßenschilder mit den Kilometerangaben tauchten im Scheinwerferlicht auf und zogen an ihm vorbei. Sie sagten ihm nichts. Er kannte die Städte nicht und das Ziel dieser Tour war ihm unbekannt, soweit für ihn der Weg nicht bereits das Ziel bedeutete. Für den Moment war Mahoud zufrieden. Er fror nicht und fühlte, dass seine Kleidung allmählich trockener wurde. Er brauchte nirgendwo ankommen und wäre noch Millionen Kilometer weiter gefahren. Dunkelheit und Eintönigkeit nahmen ihm das Zeitgefühl. In den frühen Morgenstunden passierte er eine Unfallstelle. Eine Zugmaschine wurde gerade von einem Autokran aufgerichtet. Die Wechselbrücke ragte noch umgestürzt aus der Böschung und unzählige Bierkästen lagen über die halbe Fahrbahn verstreut. Von den Lichtern und Geräuschen wurde der Fernfahrer wach. Er tippte Mahoud an und mahnte ihn, langsamer an der Unfallstelle vorbeizufahren. Als sie wieder Fahrt aufnahmen, fragte ihn der Fernfahrer, ob er sich mit Hühnern auskennen würde.

    »Sollte ich? Gebe ich dafür den Anschein?«, antwortete er und abermals wunderte er sich darüber, wie gut ihn der Mann einschätzte. Als sie auf dem Parkplatz die Planen angehoben hatten, war diesem aufgefallen, dass er das Federvieh mit Verstand gemustert hatte.

    »Ich habe Hühner und Tauben gehalten«, antwortete Mahoud und er hätte darüber mehr erzählt. Der Fernfahrer ließ ihn nicht weiter zu Wort kommen und mutmaßte:

    »Sicher nicht der Eier wegen und auch nicht, um sie zu züchten.«

    »Das stimmt«, bestätigte Mahoud. Offenbar beschäftigte den Fernfahrer bereits eine Ahnung, die nach Bestätigung drängte. Er kam der Nachfrage zuvor und fuhr fort:

    »Ich bin Falkner«, sagte er stolz. »Mir dienten Küken und Tauben als Futter sowie als Lock- und Beutetiere für meine Vögel.«

    Der marokkanische Fernfahrer blickte ihn prüfend an:

    »Als Falkner in Katar warst Du bestimmt ein Künstler gewesen, ein geachteter und gemachter Mann. Hier hingegen bist Du nichts. Du musstest Dir dort eine goldene Nase verdient haben. Was hat Dich hierher getrieben? Du bist völlig am Ende. Was hast Du ausgefressen?«

    »Du bist ziemlich neugierig«, entgegnete Mahoud widerstrebend, über seine Lebensgeschichte zu reden, soweit sie über die Falknerei hinausging.

    »Nein, ich vermute nur, dass wir vielleicht eine ähnliche Vergangenheit haben«, erklärte der Marokkaner. »Sieh mich an! Ich bin kein Fernfahrer, sondern Goldschmied und habe in der Werkstatt meines Onkels gearbeitet. Einmal hat er nachgewogen und zwei Gramm Gold fehlten. Ich bekam keine Gelegenheit, den Verlust aus eigener Tasche auszugleichen. Er zeigte mich sofort wegen Diebstahls an.«

    »Und deshalb fährst Du nun Tiertransporte?«, fragte Mahoud ungläubig.

    »Vor Gericht konnte mein Onkel den Diebstahl nicht beweisen, und ich wurde frei gesprochen. Am Tag nach der Verhandlung habe ich von ihm eine Entschuldigung verlangt und dass er mich weiterbeschäftigen solle. Er hat mich ausgelacht. In der Wut habe ihn beinahe erschlagen und ihm die Knochen gebrochen. Dafür bin ich sieben Jahre im Gefängnis gesessen. Ich habe Schulden aus unbeglichenen Anwalts- und Gerichtskosten und zahle noch immer Schmerzensgeld. Jeden Tag weiß ich, warum ich Lastwagen fahre. Als Goldschmied war ich begabt, ein Meister, ein Künstler so wie Du wohl als Falkner. Ich hätte in Lyon oder in Paris mit einem eigenen Atelier Fuß fassen können und ein gutes Leben führen dürfen. Wenn mir heute Leute begegnen, die sich etwas zuschulden kommen ließen, kenne ich deren Last, denn ich kann ihnen nachfühlen. Dir jedoch erscheint meine Menschenkenntnis nur wie Neugierde!« Der Marokkaner versuchte Mahoud hervorzulocken, damit auch er über sich zu erzählen begänne.

    »Ich habe die Nichte eines Ministers geschwängert«, gab Mahoud zu und dachte, dass ihn der Fernfahrer sofort mit zotigen Anspielungen aufziehen würde. Stattdessen schlug er ihm zunächst anerkennend auf die Schulter und erst nach einer langen Weile sagte er:

    »Du siehst gut aus und beeindruckst! Sie hätten eben auf die Kleine gründlich aufpassen müssen.« Gut gelaunt verteilte der Marokkaner ein Kompliment und begann wie erwartet und doch verspätet über seinen Fehltritt zu witzeln. Bald lachten beide über verschiedene lustige Vorstellungen vom Aufpassen, obwohl Mahoud nicht wirklich zum Lachen zumute war. In dennoch guter Stimmung zog die Fahrt sich eine weitere Stunde hin. Bei Anbruch der Dämmerung fuhren sie auf einen Parkplatz am Straßenrand, um auszutreten. Danach übernahm der Fernfahrer selbst das Steuer. Wenig später erreichten sie eine Geflügelschlachterei in einem namenlosen Industriegebiet einer hässlichen mittelgroßen Stadt. Ein Mitarbeiter des Schlachthofs lotste sie auf einen abgelegenen Stellplatz fernab von den Betriebsgebäuden. Er besah die Fracht und ordnete in einem mürrischen Kasernenhofton das Umpacken der Hühner an. Damit hatte der Fernfahrer gerechnet. Mahoud staunte, als er von ihm angewiesen wurde, noch lebende gegen tote Hühner in den Kisten umzusetzen und nach diesem Muster die gesamte Ladung umzusortieren. Gemeinsam brauchten sie für das Umpacken eine gute Stunde. Am Ende waren lebende und tote Hühner sauber voneinander getrennt und kistenweise jeweils auf Lastwagen oder Anhänger verteilt. Den Hänger mit den verendeten Tieren ließen sie zurück, als sie zu gegebener Zeit mit der lebenden Fracht an die Laderampe gerufen wurden. Eine Schar von Tagelöhnern begann mit dem Entladen. Ein Amtstierarzt ging die Runde, begutachtete die Ware und füllte einen Kontrollbogen aus. Bald verschwand der Kontrolleur in seinem Büro. Diese Gelegenheit wurde genutzt, um von dem Fernfahrer auch den Anhänger an die Rampe fahren zu lassen. Nun wurden die toten Hühner entladen, sofort aus den Kisten entnommen und nach unten hängend auf die Transporthaken für die Schlachtstraße gesteckt. Alles musste zügig geschehen. Mahoud wurde von einem Vorarbeiter angeherrscht, nicht nur herumzustehen, sondern mitzuhelfen. Der Tierarzt schien sich mit seiner Pause besonders lange Zeit zu lassen. Möglicherweise wusste er, was vor sich ging. Sobald auch das letzte Huhn geköpft, ausgeblutet, federlos und ohne Innereien in die Zerlegestraße einmünden würde, ließe er sich wieder blicken. Erst dann würde er sich von der tadellosen Güte aller Schlachtkörper überzeugen. Mahoud arbeitete flink und geschickt und sah, wie der Fernfahrer sich mit dem Vorarbeiter besprach und sie mit Handschlag eine Verabredung trafen. Schließlich kam er auf ihn zu, um sich zu verabschieden.

    »Leider kann ich Dich nicht weiter mitnehmen und wünsche Dir viel Glück«, sagte er und reichte ihm die Hand. Mahoud fiel es schwer, die Enttäuschung zu verbergen. Gern wäre er mit bis nach Frankreich gefahren, auch wenn es noch Wochen hätte dauern können, bis eine Frachtroute dorthin führte.

    »Du kannst hier bleiben«, bot der Fernfahrer an. »Ich habe mit dem Vorarbeiter gesprochen und sie lassen Dich auch ohne Papiere arbeiten. Auf dem Betriebsgelände gibt es eine Unterkunft für die Arbeiter. Sie zahlen nicht schlecht. In ein paar Wochen wirst Du genug Geld beisammenhaben, um allein weiterzukommen.«

    Mahoud nahm es als einen schwachen Trost. Er dankt dem Fernfahrer und wünschte ihm eine gute Fahrt. Den ganzen Vormittag arbeitete er an verschiedenen Stellen der Zerlegestraße, wodurch der Vorarbeiter seinen Einsatzwillen sowie Fingerfertigkeit und Auffassungsgabe beurteilen konnte. Er schien mit ihm als neuen Arbeiter zufrieden zu sein. In der Mittagspause führte er ihn zu den Unterkunftsräumen im Keller einer Lagerhalle. Ein gruftartiger Zugang unter einer Bodenklappe sollte nicht leicht zu finden sein und blieb tagsüber mit Verpackungskisten verstellt. Diese waren zunächst beiseite zu räumen, hätte jemand außer Plan die Unterkunft aufzusuchen. Mahoud ahnte, was auf ihn als Neuen zukommen würde, und das Kistenstapeln versprach, morgens und abends zu seiner täglichen Übung zu werden. Der Vorarbeiter wirkte nicht gerade freundlich und sprach recht gut Englisch. Er erklärte ihm die Verhaltensregeln. Vom Geld und der Höhe der Entlohnung sprach er nicht. Mahoud wagte es nicht, danach zu fragen. Für die restlichen Minuten der Mittagspause schickte der Vorarbeiter ihn zum Essen. Es gab Hühnersuppe und nichts anderes hätte er erwarten dürfen. Am Nachmittag kam ein weiterer Tiertransport an. Das Sortieren toter und lebender Tiere vollzog sich nach dem gleichen Muster wie am Morgen. Gegen Abend wurden die Arbeiter mit Hochdruckreinigern zum Säubern der Schlachträume und Hallen eingeteilt. Mahoud erhielt keinen Gehörschutz und das laute Zischen und Tosen des Wasserstrahls führte zu einem unerträglichen Lärm. So hörte er nicht den Warnruf des Vorarbeiters. Er bemerkte nicht, dass er allein mit einem Afrikaner, der ebenso taub wie er war, zwischen den Förderbändern herumstand. Unversehens stürmte eine Gruppe Uniformierter heran und packte zu. Ein Vollzugsbeamter redete auf ihn ein, ein anderer auf den Afrikaner. Dieser schien gut vorbereitet zu sein und spielte zunächst vor, als würde er nichts von alledem verstehen. Als ihm die vorgebliche Ahnungslosigkeit nicht länger weiterhalf und der Zöllner die Geduld mit ihm zu verlieren drohte, wechselte er plötzlich in ein einwandfreies Englisch. Wie ein Wundermittel zog der Afrikaner einen Studentenausweis aus der Tasche. Die Visitenkarte einer Anwaltskanzlei, die der unbestreitbare Studiosus gleich darauf nachreichte, beeindruckte den Zöllner weit tiefer. Offensichtlich ahnte der Beamte voraus, was ihm blühte, wenn er den Studenten nicht sofort laufen ließe. Mit einigen ermahnenden Worten kam der Afrikaner davon. Neidvoll erkannte Mahoud, dass er mit solchen überzeugenden Argumenten nicht aufzuwarten in der Lage war. Nun bereute er, sich allein darauf verlassen zu haben, niemals gefasst zu werden. Von zwei Beamten wurde er zu einem Kleintransporter geführt. Als sie an der Verladerampe vorbeikamen, sah er seine Sporttasche in einer Ecke liegen. Er bat die Zöllner, diese mitnehmen zu dürfen und die Beamten ließen die Bitte zu. Neugierig geworden überprüften sie den Inhalt. Dabei fanden sie seinen Ausweis und waren zufrieden, endlich einen Einwanderer aufgegriffen zu haben, dessen Identität sie ermitteln konnten. Ein Glücksgriff wie dieser schien ihnen in der Vergangenheit nicht oft gelungen zu sein. Die Beamten fuhren Mahoud in ein Untersuchungsgefängnis. Auf der Fahrt dorthin gingen ihm die vergangenen Wochen durch Kopf. Er hatte hart gearbeitet und sich geschunden. Gelohnt hatte sich die Mühe nicht. Beinahe wäre er ertrunken. Welcher große Fehler war ihm unterlaufen? Ihm lag es fern, sich selbst zu bemitleiden oder zu bedauern. Jedoch bereitete ihm die Ungewissheit darüber, wie es nun mit ihm weiterginge, Unruhe und Angst, denn die Rückweisung in sein Heimatland käme einem Todesurteil gleich. Mahoud wurde in eine Zelle gebracht. Ein Beamter erklärte ihm auf Englisch die Rechtslage und den Ablauf des kommenden Verfahrens. Für den nächsten Tag sei ein Dolmetscher für Arabisch bestellt. Allein in der Zelle setzte er sich auf die Pritsche. Bald stand er auf, ging hin und her und fühlte sich wie ein Tier im Käfig. Nur langsam wich die Angst und allmählich nahm ihn eine seltsame Gleichgültigkeit ein.

    2.

    Oberregierungsrat Beck saß an seinem Schreibtisch, sah aus dem Fenster und gönnte sich eine Pause. Der Schneefall war am Vormittag in Regen übergegangen und übertünchte die schmucklose Fassade auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofs mit einem düsteren Grau. Obwohl es auf die Mittagszeit zuging, blieb es draußen noch so dunkel, dass in etlichen Büros das Licht brannte. Einige unbeleuchtete Zimmer erinnerten Heinrich daran, dass nicht wenige seiner Kollegen die Faschingswoche für einen Skiurlaub nutzten. Er hätte sich besser ebenso freigenommen, um auf der Baustelle nach dem Rechten zu sehen. In diesem Jahr gab es kaum Brückentage. So sah er sich gezwungen, mit dem Urlaub hauszuhalten, denn in den Sommermonaten würde er viel freie Zeit für eigene Renovierungsarbeiten zu opfern haben. Heinrich kämpfte mit dem Entschluss, noch vor der Mittagspause mit der Bearbeitung einer neuen Akte zu beginnen. Eine leichte Arbeitswoche erwartete ihn. Zwischen Aschermittwoch und dem Wochenende standen nur drei Verhandlungstermine auf dem Plan. Die jeweiligen Stellungnahmen hatte er bereits in der Vorwoche verfasst und er kannte Richter und Anwältin, auf die er jedes Mal von Neuem treffen würde. Ebenso war er ihnen nicht fremd. Überraschungen sollte es für niemanden geben. Heinrich Beck galt ohnehin nicht als ein Mensch, der sich zu unerwarteten oder gar außerordentlichen Aktionen hinreißen ließe. Seine Vorgesetzten schätzten an ihm diese Berechenbarkeit im Mittelmaß. Bei Kollegen hingegen galt er als Langweiler und Aktenfresser sowie bei Richtern und Rechtsanwälten als seelenloser Bürokrat. Wann immer ein Entgegenkommen notwendig wurde und Verfahren mit Vergleichen abgeschlossen werden sollten, handelte Heinrich stets nach dem gleichen Muster: Einmal festgezurrte Grundsätze hatten für die Ewigkeit zu bestehen. Seit fünfzehn Jahren, länger als jeder andere Kollege, ging er dieser Arbeit nach. Sie bereitete ihm keine Freude, bot ihm keine Herausforderungen, sorgte nicht für Abwechslung, führte nicht zu Erfolgserlebnissen und brachte ihm wenig, eigentlich keine Bestätigung seiner selbst. Das Gemenge an Trostlosem kümmerte ihn kaum, denn nach dem Besonderen suchte er nicht. Er war damit zufrieden, als Jurist in seinem gelernten Beruf zu arbeiten und dafür ein sicheres, regelmäßiges und angemessenes Gehalt zu erhalten. Heinrich kannte Studienkollegen von früher, die als Notare, Wirtschaftsprüfer, Steueranwälte oder Geschäftsführer ein Vielfaches verdienten. Sie besaßen Ferienhäuser und Jachten und hielten sich in Zweitwohnungen Geliebte wie bescheidenere Normalverdiener Kanarienvögel. Kehrseitig erfuhr Heinrich von zwei Studienfreunden, die sich umgebracht hatten. Er hingegen verstand es, mit der Mittelmäßigkeit gut zu leben. Anfangs und in einer kurzen Ehrgeizphase war ihm der berufliche Aufstieg noch leicht gefallen und hatte ihn mit allen Verheißungen des gesellschaftlichen Vorteils gelockt. Bald verloren die Verlockungen ihren Reiz und Heinrich hatte mit der Karriereleiter nichts weiter anzufangen gewusst. Warum und wozu hätte er sich für einen andauernden Gipfelsturm schinden oder verstellen sollen? Sicherlich begünstigte eine ausgeprägte Antriebslosigkeit seinen eher steten, wenn gleich nicht unüblichen Entwicklungsweg. Er wurde zu einem Menschen, der andere weder um ihr Glück beneidete noch um ihr Unglück bedauerte. Offenbar zeichnete gerade diese Eigenheit ihn für die Arbeit als Jurist in einer höheren Ausländerbehörde besonders aus. Persönliche Gefühle oder gar Anteilnahme am Schicksal anderer wären hierbei nur hinderlich. Im Tagesgeschäft des Ausweisens, Abschiebens, Duldens oder Anerkennens zählten vor allem Routine und Berechenbarkeit. Heinrich Beck blieb es verborgen, dass ihm bereits vor Jahren ein damaliger Vorgesetzter Gefühlsblindheit und emotionale Führungsschwäche attestiert hatte. Ein entsprechender Vermerk war in die Personalakte nicht eingegangen. So lag es wohl an dieser geheimen Beurteilung, die dazu führte, dass Heinrich Beck niemals für eine Beförderung zum Ressortleiter vorgeschlagen wurde. Allerdings hatte er sich nicht nach einem Aufstieg in eine Führungsposition gesehnt. Ihn plagte kein Misstrauen, weil er sich längst hätte übergangen fühlen müssen, und er sah keinen Grund, Nachforschungen anzustellen. Heinrich blickte hinüber zu seinem Kollegen und beobachtete, wie der junge Assessor sich mit einer abschließenden Textpassage mühte. Ihm fehlten eindeutig Erfahrung und etwa zwei Dutzend Textbausteine, über die hingegen Heinrich wie ein Jongleur verfügte. Im Handumdrehen konnte er juristische Standardphrasen auf nahezu jeden nur denkbaren Einzelfall anpassen. Ottmar von Mannwitz hieß der Nachwuchsbeamte. Er hatte im letzten halben Jahr, seitdem er in das Ressort versetzt worden war, kaum ein Verfahren für sich entscheiden können. Bei den Richtern galt er als eloquentes, wenngleich auch als ziemlich unfähiges Großmaul. Die Anwaltschaft begann, auf von Mannwitz herabzusehen, und kaum würde er den Respekt der Anwälte wiedererlangen. Vor Wochen hatte der Abteilungsleiter Heinrich gedrängt, den Assessor unter die Arme zu greifen und ihn für die Dienstprüfung besser vorzubereiten. Die Hilfe hatte nicht viel gebracht, außer eine Art von Alibi, und Ottmar von Mannwitz erwies sich noch immer als vollkommen unbelehrbar. Ungeachtet seiner unzureichenden Eignung für den Staatsdienst sollte der Nachwuchsbeamte am frühen Nachmittag in einer kleinen Feierstunde zum Regierungsrat ernannt werden. Dieser offizielle Akt würde anschließend in eine amtsinterne Rosenmontagsfestlichkeit mit ausgiebigem Umtrunk übergehen, wovor es Heinrich bereits grauste.

    »Lust auf einen Kurzen?« Der Assessor zerknüllte das Blatt mit seinem Textentwurf und warf es mit sportlicher Leichtigkeit zielsicher in den gemeinsamen Papierkorb. Übung machte den Meister. Dann holte er aus einer Schublade zwei Whiskeyfläschchen hervor und warf eines davon Heinrich zu, der es mit sicherer Hand fing. Auch hier machte Übung den Meister. Sie prosteten einander zu und tranken den Whiskey in einem Zug.

    »Putz Dir nachher die Zähne und nimm Mundwasser!«, mahnte Heinrich den Assessor. »Der Regierungspräsident ist empfindlich. Als trockener Alkoholiker befindet er sich gerade auf einem Kreuzzug gegen Suchtgefahren im Amt. Anstatt Dir die Ernennungsurkunde zu überreichen, wird er Dich in eine Therapie schicken.«

    Ottmar von Mannwitz lachte unbekümmert über seinen Rat, obwohl er einzuordnen hätte, dass die Warnung durchaus nicht als Witz gemeint war. Heinrich lächelte milde zurück. Mehr konnte er für seinen Schützling nicht bewirken und beinahe bedauerte er, dass er ihn bald als Zimmergenossen verlieren würde. Heinrich hatte längst aufgehört, die Nachwuchskräfte zu zählen, die an ihm vorbei in die Beamtenlaufbahn der höheren Ränge weit nach oben geschleust wurden. Er vermutete, dass er Ottmar nach einem halben Jahr vergessen haben würde und ihm dessen Stimme oder Gesicht entfallen wären. Nach einem Jahr legte er sich auch auf den Namen nicht mehr fest. Er käme eher auf Edgar von Gallwitz oder auf einen ähnlichen Namen, wenn er auf den ehemaligen Kollegen angesprochen werden würde. Am Morgen hatte ihm der Assessor ein Rundschreiben herübergereicht, in dem auf eine Ausschreibung für die Besetzung einer freien Position im Baurechtsamt hingewiesen wurde. Warum er sich nicht ebenfalls darauf bewerben möchte, hatte ihn von Mannwitz gefragt. Nach fünfzehn Jahren Ausländerbehörde müsse schließlich jeder den Wunsch nach einer beruflichen Veränderung hegen. Sicher bestünden für ihn beste Aussichten, für die Baurechtsstelle berücksichtigt zu werden. Heinrich schüttelte über den Vorschlag den Kopf und sagte nichts dazu. Er schätzte, dass diese Position dem werdenden Regierungsrat von Mannwitz längst zugeschoben war. Nichtsdestominder würde dieser auch dort jämmerlich versagen. Heinrich wünschte von Mannwitz einen Mentor, der ihn wenigstens vor dem gröbsten Unfug bewahrte. Er hingegen brauchte nur aus dem Fenster zu blicken, um sich bestätigt zu fühlen, dass berufliche Veränderungen für ihn einen Alptraum bedeuteten. Über nasse Baustellen zu waten, sich beinahe die Füße abzufrieren, mit abgehobenen Architekten und verschlagenen Bauherren zu streiten, widerstrebte ihm zutiefst. Es ginge stets um viel Geld und er hätte sich mit erstklassigen Rechtsanwälten herumzuschlagen. Im Vergleich dazu schien ihm der Umgang mit Asylanten ein Kinderspiel. Die Anwälte, mit denen er sich auseinandersetzen musste, hielt er zumeist für Idealisten und Gutmenschen, die nicht viel auf Streitwert und außerordentliche Honorarabrechnungen gaben. Aus Mangel an Gier blieben sie zahnlos. Sie bissen ihn nicht und Oberregierungsrat Heinrich Beck lernte, sein Arbeitsumfeld in jedem Fall von Neuem zu schätzen. Der Whiskey wärmte ihn von innen auf. Ottmar von Mannwitz schlug eine zweite Runde vor, die aus Heinrichs Schubladenvorrat bestritten werden sollte. Heinrich lehnte ab und sah auf die Uhr. Er würde noch eine halbe Stunde warten müssen, bis er in die Mittagspause gehen durfte. Dennoch räumte er seinen Schreibtisch leer, stand auf und griff an der Garderobe nach seinem Mantel. Heinrich hatte es eilig. Bis zur Mittagsstunde war er mit der Anwältin der drei aktuellen Fälle für ein kurzes Gespräch in einem Café verabredet. Anschließend hatte er vor, einen Bankberater von seinen Plänen zu überzeugen.

    »Wir sehen uns auf Deiner Ernennungsfeier. Wenn jemand nach mir sucht, sage einfach, ich wäre auf der Toilette«, bat Heinrich den Assessor um eine Ausrede. Verstohlen warf er einen prüfenden Blick in den Stockwerksgang, denn niemand sollte bemerken, dass er ging. Er verließ das Gebäude des Präsidiums an einem Seitenflügel durch einen Notausgang, den die meisten Bediensteten im Haus für fest verschlossen hielten. Nur wenigen Mitarbeiter war diese Möglichkeit geläufig, die elektronische Zeiterfassung an der Pforte zu umgehen.

    Im Café wartete die Anwältin bereits auf Heinrich. Ihr schien wie üblich die Zeit zu drängen. Heinrich kannte sonst keinen Anwalt, der wie sie den Terminkalender überfrachtete. Die Dame war weit über sechzig und hatte es im Grunde nicht mehr nötig, zu arbeiten. Innere Unruhe und wohl die Angst vor Bedeutungslosigkeit trieben sie unentwegt an, auch die hoffnungslosesten Fälle anzunehmen. Um den Verdienst ging es ihr eher nicht und gerade deshalb fand Heinrich sie recht sympathisch. Mit keinem anderen Anwalt hätte er sich außerhalb des Präsidiums oder des Gerichtsgebäudes für ein Gespräch getroffen. Zudem war sie die Taufpatin seines Sohns und die Schwester seiner Schwiegermutter. Ungeachtet der verwandtschaftlichen Verbindung und Nähe wahrten sie einander eine förmliche Distanz und blieben beim 'Sie'. Es hätte an ihr gelegen, Heinrich das Du anzubieten. Hauptsächlich aus beruflichen Gründen dachte sie nicht daran, und auch persönlich vermied sie es unverkennbar, mit ihm vertraulich zu werden. Überhaupt hatte Heinrich früh den Eindruck gewonnen, dass die Verwandtschaft seiner Frau nicht viel von ihm hielt und am aller wenigstens seine Schwiegermutter. Bei der Beerdigung von Marlenes Vater nur wenige Monate nach der Hochzeit hätte er der trauernden Witwe so gut wie kein Mitgefühl gezeigt, so der Vorwurf. Auch Marlene hatte ihm vorgehalten, am Grab kalt und teilnahmslos gewirkt zu haben, und er hatte somit ihre erste Ehekrise heraufbeschworen. Die Schwiegermutter begann, ihn zu hassen und äußerte sich unter vorgehaltener Hand abfällig über seine Arbeit. Außer Hörweite bezeichnete sie ihn fortan als Inquisitor, Hexenverbrenner, Scharfrichter oder Henker. Schließlich bekleidete sie den Vorsitz der lokalen Sektion einer internationalen Menschenrechtsbewegung und war um jedes Feindbild dankbar. Heinrich konnte den moralischen Wertevorstellungen von Mutter und Tochter niemals gerecht werden. Als er Marlene den Antrag machte, konnte er es kaum fassen, dass sie ihn als Ehemann annahm. Sie willigte wohl ein, um wenigstens ein einziges Mal der Dominanz ihrer Mutter getrotzt zu haben. Aus deren Sicht wäre für ihre Tochter nur ein Mann mit überragendem moralischen Anspruch infrage gekommen. Weil Heinrich jedoch als höherer Beamter für eine gesicherte Zukunft zu sorgen versprach, gab sich Marlenes Mutter, wenn auch nur oberflächlich, mit ihm zufrieden.

    Mit einem verkrampften Handschlag begrüßte Heinrich die Anwältin und setzte sich zu ihr an den Tisch.

    »Renate, schön Sie zu sehen!«, sagte Heinrich und versuchte lockerer zu wirken. »Leider bleibt mir nur wenig Zeit, denn wegen eines weiteren Termins heute Mittag bin ich in Eile«, entschuldigte er sich im Voraus.

    »Auf der

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