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Das Geheimnis des vernebelten Passes
Das Geheimnis des vernebelten Passes
Das Geheimnis des vernebelten Passes
eBook486 Seiten7 Stunden

Das Geheimnis des vernebelten Passes

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Über dieses E-Book

Ein Ehepaar macht Urlaub auf der Insel Madeira, bewandert Bergpfade und Levadas, macht Ausflüge zu den lokalen Sehenswürdigkeiten und besucht zahlreiche Orte. Als Ausgangspunkt für die Entdeckungstouren dient das Berghotel "Encumeada" am gleichnamigen Pass an der Wetterscheide in der Mitte der Insel. Oft wolkenverhangen und in Nebelschleier gehüllt, birgt der Bergpass, wie es scheint, ein Geheimnis, das vor allem dem Ehemann keine Ruhe lässt. Es passieren merkwürdige Dinge, die ihn an seinem Verstand zweifeln lassen. Mysteriöse Visionen aus einer parallelen Wirklichkeit plagen ihn. Sie werden auf eine geheimnisvolle Art immer dann ausgelöst, wenn er sich in der näheren Umgebung des vernebelten Passes befindet. Ungeahnte Fähigkeiten und über die menschliche Geisteskraft hinausgehende Erkenntnisse werden ihm zuteil. Seine Hoffnungen, dass die seltsamen Ereignisse mit der Abreise von der Insel ihr Ende haben werden, erfüllen sich nicht. Die Parallelwelt holt ihn während des Heimfluges ein. Der Handlung im Roman liegen wahre Erlebnisse während eines Urlaubs zugrunde, den der Autor zwischen dem 14. und dem 30. Juli 2014 auf der Insel Madeira verbracht hat. Mit ein wenig Fantasie entstand aus dem Reisebericht eine spannende Geschichte.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum30. Mai 2021
ISBN9783754127728
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    Buchvorschau

    Das Geheimnis des vernebelten Passes - Nikolaus Warkentin

    Nikolaus Warkentin

    Das Geheimnis des vernebelten Passes

    Reiseroman

    Vorwort

    Vielen Dank dafür, liebe Leserin und lieber Leser, dass Sie sich für diesen Reiseroman entschieden haben. Die Reise zum vernebelten Pass auf der Insel Madeira, von der dieser Roman handelt, fand tatsächlich in der Zeit zwischen dem vierzehnten und dem dreißigsten Juli zweitausendvierzehn statt. Mit ein wenig Fantasie ist aus einem trockenen Reisebericht eine – hoffe ich – spannende Geschichte geworden. Die zeitliche Abfolge der Ereignisse dieses Urlaubs ist weitgehend beibehalten, nur hier und da bricht der freie Flug der Fantasie die chronologische Reihe. Dennoch sind alle Geschehnisse mitsamt den dazugehörigen Erinnerungen, Gedanken und Überlegungen wahr. Und zuweilen waren die Letzten dermaßen real, dass seltsame Dinge mich an meinem Verstand zweifeln ließen. Dinge, die nicht von dieser Welt sein durften, Dinge, die nie passiert sein konnten. Aber wer weiß schon, vielleicht hat sich alles in Wirklichkeit genau so zugetragen.

    Nikolaus Warkentin, am 16. Januar 2021

    --------------------------------------------------------------------

    Druck: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

    Texte: © 2021 Copyright by Nikolaus Warkentin

    Umschlag: © 2021 Copyright by Nikolaus Warkentin

    Verantwortlich für den Inhalt:      Nikolaus Warkentin, Weißdornstr. 3,

    53340 Meckenheim, service@leseecke.eu

    *  *  *

    Der erste Blick auf den Pass bot sich aus dem Fenster eines Kleinbusses, der uns vom Aeroporto do Funchal zu dem in der Wildnis versteckten Berghotel Encumeada brachte. Das Bild war beeindruckend. Wie eine weiße von grauen Schatten durchsetzte Haube bedeckte eine aufwallende Wolke den mächtigen Bergkamm in der Mitte der Insel. Immer wenn es ein kalter Windstoß von der Nordseite über die felsigen Bergspitzen auf die Südseite schaffte, bildeten sich neue Schwaden, wirbelten den Hang hinunter und verschwanden wie Gespenster, aufgelöst durch den aufsteigenden warmen Atem der Südküste. Währenddessen erinnerte ich mich an meine ersten Erlebnisse nach der Ankunft auf der Insel.

    Der Busfahrer, der uns vom Flughafen abgeholt hatte, war ein schlanker, eher ein etwas zu schlanker Portugiese Anfang dreißig – ein geselliger Typ, der während der Fahrt hin und wieder etwas über seine Heimatinsel erzählte: sehenswerte Orte, spektakuläre Aussichten und Madeirawein, halt über alles, was seiner Meinung nach Touristen interessieren konnte.

    »Wollen Sie das Haus von Cristiano Ronaldo besuchen?«, fragte er stolz in einem guten Deutsch, nachdem wir zwei jüngere Urlauberinnen von unserem Flug an ihrem Hotel am Rande von Funchal abgesetzt hatten.

    Solche Absichten hatten wir mit Angelina nicht! Ehrlich gesagt war es mir bis zu diesem Augenblick auch nicht bewusst gewesen, dass der Mann von dieser Insel stammte.

    Ich antwortete vielleicht eine Sekunde zu schnell: »Nein, eigentlich nicht!« Man konnte es dem Fahrer ansehen, dass er etwas enttäuscht war, und ich fügte gleich versöhnlich hinzu: »Wir interessieren uns nicht für Fußball.«

    Das stimmte nicht ganz, auf keinen Fall wollte ich aber die einheimische Bevölkerung mit meiner Meinung zu dem einen oder dem anderen Problem in der Welt schon bei der Ankunft konfrontieren.

    »Ja, wir gucken nur ab und zu mal die Weltmeisterschaft, Spiele mit der deutschen Mannschaft«, pflichtete mir meine Frau bei.

    Der Fahrer wollte das Thema offensichtlich nicht vertiefen, was ganz in meinem Sinne war, und steuerte seinen Kleinbus friedlich ein Liedchen summend auf die Autobahn zu. Es dauerte nicht viel länger als eine Viertelstunde, bis uns die Schnellstraße nach einer Reihe von Tunnelpassagen in ein malerisches Tal brachte, wo ein größerer Verkehrsknotenpunkt mit seinen Kreuzungen, Unterführungen und Viadukten das schöne Bild etwas weniger schön machte. In Ribeira Brava, wo wir laut Beschilderung angekommen waren, endete die vierspurige Strecke und der Fahrer nahm in der Ausfahrt den Abzweig nach São Vicente, der kurz darauf in die Passstraße von Encumeada mündete. Es war die Zielgerade zu unserer Unterkunft, wenn man es so wollte. Den Straßenabschnitt hatten wir uns schon zu Hause mehrmals in der Streetview angesehen, sodass ich mich einigermaßen orientieren konnte.

    Die tiefe Schlucht, die das wilde Flüsschen Ribeira Brava in den Fels gegraben hatte, zog sich vom Encumeadamassiv hoch oben in der Inselmitte bis zum gleichnamigen Ort an der Küste, der schon zu Entdeckerzeiten so manch eine Karavelle erlebt hatte, die ins Ungewisse ablegte. Ribeira Brava teilte sich einige Kilometer aufwärts in viele Wildbäche auf, oder besser gesagt setzte sich aus vielen Flüsschen zusammen, von denen jedes sein eigenes kleines Tal oder eine enge Schlucht im Laufe der Zeit gebildet hatte. Die Straße folgte immer dem Verlauf des weitläufigen, von massiven Felswänden gesäumten Haupttals, bis sie im Túnel da Encumeada verschwand, um nach drei Kilometern wieder auf der Nordseite aufzutauchen. Unser Weg führte aber nicht durch den Tunnel. Nach einiger Zeit verließen wir die viel befahrene Tunnelstraße. An einer Gabelung bog der Fahrer ab auf die alte Passstraße, die noch vor fünfzehn Jahren die einzige Verbindung zwischen den Küsten gewesen war. Eine erlebnisreiche Fahrt zum Pass auf einer Bergstraße, die sich schlangenartig um die Schluchten und Felsvorsprünge nach oben wand, nahm ihren Anfang!

    »Ihr Hotel ist dort!«, rief der Busfahrer fröhlich, als ich mit dem Einordnen meiner jüngsten Erinnerungen fertig war, und zeigte mit der Hand nach vorne, auf die Wolke über dem Berg, die ich bereits mit Interesse beobachtet hatte.

    Ich machte Angelina aufmerksam auf die überwältigende Erscheinung. Sie sah sich das Naturschauspiel fasziniert an, sagte aber nichts, während der junge Mann immer weiter redete.

    »Es ist ein sehr schönes…« Er musste seinen Satz unterbrechen, um in einer der engen Kurven einem Kipplaster auszuweichen, und setzte ihn fort, nachdem die Gefahr vorüber gewesen war und er seine Hand wieder vom Lenkrad genommen hatte, um den Zeigefinger zur besseren Verbildlichung zu benutzen. »… sehr schönes Hotel. Modern. Viele Bergwanderer!«

    Fast den gleichen Wortlaut hatte ich schon in zahlreichen Rezensionen zu dieser Unterkunft in den vergangenen Monaten gelesen, die Madeirareise war nicht wie sonst vier Wochen vor Abflug geplant worden. Bereits vor fünf Monaten, Ende Februar, hatte Geli beim Durchstöbern der Angebote dieses Hotel am Pass Encumeada entdeckt und wir beide hatten gleich wie aus einem Munde gerufen: Das ist es!

    Sie wollte unbedingt einen Wanderurlaub machen. Ich wusste nicht, woher sie ihre Wanderlust hatte, denn bis jetzt hatten sich unsere Erkundungstouren am Urlaubsort in der Regel auf das normale Ausflugsprogramm der örtlichen Anbieter beschränkt – in einem bequemen Reisebus und mit einem Reiseleiter, der die wechselnden Bilder hinter dem Fenster ausführlich kommentierte und auch sonst viel Interessantes über Land und Leute wusste. Diesmal sollte es ein Urlaub mit Wanderungen auf eigene Faust werden. Ich hatte zugestimmt, denn die Beschreibungen und die Ansichten im Reiseangebot hatten bei mir den Eindruck eines einsamen Bergsteigerhotels am Pass entstehen lassen, das verloren zwischen gewaltigen Bergen abseits der Zivilisation lag, den Eindruck eines guten Ausgangspunktes für Wanderungen und Ausflüge in die Natur unter strahlend blauem Himmel!

    »Hoffentlich liegt das Hotel nicht in diesen Wolken, oder?«, erkundigte ich mich beim Fahrer.

    »Não, não, não!«, widersprach er schnell. »Es liegt tiefer und etwas weiter links!« Dabei nahm er wieder seine Hand zur Hilfe, um die genauere Position des Hotels auf dem Hang anzudeuten.

    Diese Nummer mit dem Zeigefinger machte mich mittlerweile etwas nervös, vor allem bei Gegenverkehr, der gelegentlich in einer Kurve um die nächste Felswand auftauchte und für hektische Lenk- und Abbremsaktionen sorgte. Die Straße war zwar gut geteert, aber etwas eng geraten, sodass es zwischen zwei Autos kaum noch den nötigen Abstand gab, um im Notfall weg vom Straßenrand steuern zu können. Es gab kaum Leitplanken und etwa einen Meter rechts von der Straße ging es dreihundert Meter steil nach unten. Es gab nichts, was ein Auto beim Absturz hätte aufhalten können! Das ungute Gefühl irgendwo tief im Bauch verging auch dann nicht, als der Fahrer plötzlich auf die Bremse trat und das Fahrzeug zum Stillstand brachte. Ich sah vor dem Bus keine Straße mehr! Auf unserer Seite fehlten ungefähr sieben Meter Fahrbahn und man konnte durch die Windschutzscheibe ungehindert fünfhundert Meter nach unten blicken und den schnellen Verkehr auf der Zufahrt zum Passtunnel bewundern! Vermutlich war der Hang einfach abgerutscht und hatte die halbe Straße in den Abgrund mitgerissen. Wie lange dieses Stück Straße schon fehlte, konnte ich nicht sagen, aber bis jetzt hatten die Insulaner keine Maßnahmen ergriffen, um den Schaden zu beheben. Andere Länder hatten andere Sitten: Der Portugiese ließ sich durch den Vorfall nicht aus der Ruhe bringen und umfuhr nach kurzem Zögern das liebevoll mit Verkehrshütchen gekennzeichnete Loch über die linke Spur!

    Madeirenser sahen die ganze Sache mit den Bergen und den Straßen nicht so eng. Man kennzeichnete die gefährliche Stelle und hoffte darauf, dass keiner die Warnung missachtete. Und wenn jemand nicht aufpasste, wo er hintrat, dann war derjenige selber schuld! Es war die gängige Praxis in den Teilen der Welt, wo die Menschen ein innigeres Verhältnis mit der Natur hatten als ihre hochzivilisierten Zeitgenossen. Je einfacher die Leute ihr Leben gestalteten, desto mehr vertrauten sie dem gesunden Verstand und setzten ihn auch bei anderen voraus. Was war falsch an der Annahme, dass kein mehr oder weniger klar denkender Mensch auf die Idee kommen konnte, in einem seismisch aktiven Krater mit siedend heißem Wasser ein Bad zu nehmen? Nichts. Genau das dachten sich vermutlich auch die Isländer, wenn sie den Gefahrenbereich rund um die Dampf und Wasser speienden Geysire nur mit einer dünnen Schnur auf Kniehöhe markierten. Denn vor fünfzehn Jahren hatte ich dort keine nennenswerten Hindernisse gesehen, die die zahlreichen Besucher aus aller Herren Ländern davon hätten abhalten können, ihren Finger in einen Tümpel mit schwefelsäurehaltiger Brühe zu stecken. Warum sollte denn etwas daran verkehrt sein, wenn die Madeirenser die Ansicht vertraten, dass ein Autofahrer die Augen offen halten sollte, um eben nicht in ein Loch hineinzufahren? Dachte man darüber intensiver nach, stellte man mit Erstaunen fest, dass einem ziemlich schnell die Argumente ausgingen, wenn man versuchte, seine ablehnende Haltung zu dieser Vorgehensweise zu begründen, und man sah sich auf der Stelle mit einer Reihe anderer Fragen konfrontiert.

    Verloren die Menschen in der zivilisierten Welt nicht zu viel von ihrer Eigenschaft, selbständig zu denken und eigenverantwortlich zu handeln? Warum erwarteten sie, dass jemand für sie Absperrungen baute und Verkehrshütchen aufstellte? Warum verzichteten sie vielerorts freiwillig auf einen bedeutenden Teil Ihrer angeborenen Freiheit der eigenen Entscheidung zugunsten vermeintlicher Sicherheit? Etwa um sich nach einiger Zeit in einer Welt wiederzufinden, wo man die Absperrungen schon ohne ihre Zustimmung errichtete? Es gab mehr Fragen als Antworten.

    Unterdessen erreichten wir – dank der kunstvollen Ausweichmanöver unseres Steuermanns weitgehend unbeschadet – ein Bergdorf, das direkt an der Passstraße lag. Es war nicht viel los im Ort. Die Straßen waren fast menschenleer. Hier und da sah man ein Souvenirlädchen, das noch geschlossen war. Ins Auge fiel eine Reihe von sichtlich schon länger nicht mehr bewohnten Häusern mit verstaubten Fensterscheiben und Schildern Para venda – zu verkaufen – neben dem Eingang, sehr viele Kaufwillige gab es offenbar nicht. Wir hatten ungefähr zehn Uhr am Vormittag, aber die Dorfwirtschaft an der Hauptstraße war geöffnet. Zwei, drei Leute saßen draußen mit halbvollen Gläschen und unterhielten sich. Für ein Schnäpschen war es noch etwas zu früh, überlegte ich, während unser Fahrer wieder Kommunikationsbedarf verspürte.

    »Wenn Sie Madeirawein kaufen oder mitnehmen wollen, bekommen Sie in diesem Dorf den Besten! Die Leute hier haben einen sehr guten Wein.«

    Natürlich, fiel es mir plötzlich ein! Es war kein Schnaps, sondern Madeirawein! Genauso wie bei den Mallorquinern ein Likörchen auch am Vormittag niemals fehlen durfte, gehörte auch hier der Madeirawein, egal wie spät es am Tage war, zu dieser Insel und zu diesen Leuten.

    »Trinken Sie gerne Madeira?«, wollte der Busfahrer wissen.

    Was sollte ich ihm antworten? Angelina hatte so etwas hin und wieder schon mal für irgendwelche Gerichte verwendet. Ich hatte auch mal ein paar Tropfen probiert. Es waren aber immer ganz kleine Fläschchen gewesen, nicht zum Trinken.

    Meine Frau sprang zu meiner Erleichterung in das Gespräch ein und erläuterte dem Portugiesen den aktuellen Sachstand: »Nein, wir nehmen ihn nur zum Kochen. Es gibt keine große Auswahl und er ist auch sehr teuer!« Sie musste es wissen, als Angestellte im Supermarkt war sie mit der Materie vertraut!

    »Was kostet Madeirawein in Deutschland?«, fragte der Fahrer.

    »Der Wein bei uns im Geschäft ist über sieben Euro. Es gibt aber auch welchen für zehn, habe ich gesehen!«, fuhr meine Frau mit dem Bericht über die Lage auf dem deutschen Weinmarkt fort.

    Während sich die beiden über Trinkgewohnheiten von Deutschen und Portugiesen unterhielten, schaute ich aus dem Busfenster auf vorbeiziehende Häuschen und wenige Menschen auf der Hauptstraße, die ihre morgendlichen Erledigungen machten, und dachte immer noch an die Wirtschaft, die wir gerade hinter uns gelassen hatten – an die Männer auf der Terrasse, die an ihren Gläschen genüsslich nippten, an den urigen portugiesischen Wirt, der im Türrahmen seines Lokals stand und das allgemeine Geschehen im Dorf beobachtete, an die Leute, die vorbeigingen und die Kneipengesellschaft grüßten oder manchmal auch stehen blieben, um mit den Gästen den letzten Dorfklatsch zu besprechen. Es waren alles einfache Menschen vom Land, besser gesagt vom Berg, die hier ihr einfaches Leben führten und die Zeit nicht mit der Uhr maßen. In meinem Kopf war nunmehr ein Bild von einem Madeirenser entstanden: Ein älterer stämmiger Mann im offenen karierten Hemd unter einem Sakko, das seine besten Zeiten schon vor etwa zehn Jahren erlebt hatte. Seinen Kopf schmückte eine flache Schirmmütze, die bei jedem Wetter getragen wurde. Auch zu einer Madeirenserin hatte ich bereits typische Merkmale entdeckt: Eine nicht mehr sehr junge Frau, meist in einer fröhlich gemusterten seidenen Bluse, einem knielangen Rock und einem Kopftuch.

    Die Passstraße führte uns immer weiter nach oben und wurde zunehmend steil. Die Vegetation veränderte sich zusehends und wurde umso dürrer, je näher wir unserem Ziel kamen. Während wir noch vor einer halben Stunde unten in Ribeira Brava subtropische Bananenstauden und Dattelpalmen bewundert hatten, so bestand die Umgebung hier oben zumeist aus Fels und Stein. Nur ab und zu kreuzten unseren Weg kleine Wildbäche, die entlang der zugewachsenen Bergfalten durch das Lorbeergestrüpp beinahe senkrecht nach unten schossen. Gelegentlich waren die Hänge mit Sträuchern bedeckt, die sagenhaft schöne Blüten trugen und Herz und Auge erfreuten.

    »Hinter diesem Berg können Sie schon das Hotel sehen«, machte der Fahrer eine vielversprechende Ansage. »Es ist nicht mehr so weit!«

    Nachdem der Portugiese eine der unzähligen Kurven gekonnt gemeistert hatte, öffnete sich unseren Blicken ein prächtiges Panorama! Die Schlucht verwandelte sich auf einmal in einen riesigen Talkessel, umgeben von gewaltigen Felsformationen, die einst aus dem Ozean gehoben worden waren. Weit, weit unten sah man die Schnellstraße. Die klitzekleinen Autos stauten sich vor der Einfahrt in den Tunnel wie Ameisen auf ihrer Wanderung vor einem plötzlich aufgetauchten Hindernis. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tals zu unserer Rechten beherrschte der Pico Grande mit seinen von Wind und Wetter abgeschliffenen Kanten das Bild. Den Straßenverlauf konnte man jetzt kilometerweit erkennen. Die Passstraße führte immer geradeaus, als ob sie keine Lust mehr dazu hatte, sich durch Serpentinen und scharfe Kurven aufhalten zu lassen. Der Bus kletterte immer höher und höher am steilen Hang auf der linken Seite des Kessels, geradewegs auf sein Ziel zu: Das rotgeziegelte Spitzdach mitten in einer von Grau und Grün angestrichenen Landschaft, meilenweit sichtbar aus jeder Ecke des Tals! Und die sich gespenstisch wälzende Wolke über dem Bergrücken der Insel war auch noch da, nun aber zum Anfassen nahe und nicht mehr so groß wie zuvor! Die subtropische Sonne, die derweil ziemlich hoch am azurblauen Himmel stand, machte ihre Arbeit gut.

    »Wir sind da!«, rief der Fahrer, zufrieden mit sich selbst und der erledigten Aufgabe, bevor er von der Hauptstraße auf den großen Parkplatz vor dem Hotel einbog.

    Er hielt nicht weit vom Eingang und half beim Abladen der Koffer. Dann verabschiedete er sich in großer Eile mit Adeus, umas boas férias!, sprang wieder in seinen Bus und gab Gas, während ich noch in meinen Taschen herumkramte, um ihm etwas Trinkgeld für die aufregende und informative Fahrt zu geben. Man sah den Bus schon nach einigen Augenblicken die Hauptstraße hinunterrasen und hinter einem Felsen verschwinden, nachdem die Bremsleuchten noch ein paarmal in der Kurve hellrot aufgeflackert waren, als hätte er noch mal Tschüss sagen wollen.

    *  *  *

    Der Parkplatz vor dem Hotel war menschenleer, im vorderen Bereich rund um den Eingang waren aber zehn bis fünfzehn Autos geparkt. Es mussten wohl die Mietwagen von den Gästen sein, dachte ich. Erstaunlicherweise hatte der Parkplatz, wenn überhaupt, kaum Gefälle, im Gegensatz zu allem, was uns umgab. Die Straße führte in einem atemberaubenden Winkel zum Pass weiter oben. Begab man sich auf die Fahrbahn, entstand gleich ein leichtes Schwindelgefühl, wenn man zurück zum Parkplatz blickte, der seinerseits plötzlich in eine schiefe Lage zu geraten schien. Der menschliche Gleichgewichtssinn musste sich noch an diese schrägen Zustände etwas gewöhnen.

    »Komm, rauchen wir noch eine«, schlug ich vor und klickte mit dem Feuerzeug. »In das Zimmer können wir eher nicht vor zwölf Uhr, denke ich!«

    Angelina zündete sich auch eine Zigarette an und machte ein paar kräftige Züge. Es war die zweite Zigarette, seitdem wir unsere letzte vor sechs Stunden im Raucherkämmerlein im Frankfurter Flughafen geraucht hatten. Die Zigarette nach der Landung in Funchal hätte man gleich wieder vergessen können, sie war zwischen Kofferschleppen und Transferbussuchen auf dem Parkplatz verglimmt. Das Nikotin zeigte seine Wirkung und munterte uns nach der schlaflosen Nacht etwas auf. Wir waren nun seit gut zwölf Stunden unterwegs und konnten endlich erleichtert über den Stress und die Strapazen der Reise lachen!

    »… Ihre Gitarre, Ihre Gitarre!«, äffte meine Frau eine Mitarbeiterin des Flughafens nach, die uns am Check-In-Schalter und beim Boarding zielstrebig durch alle Wunder ihres Regelwerks geführt hatte.

    »Und was hast du jetzt davon, dass ich die Gitarre mitgenommen habe?«, fragte ich Geli und erinnerte mich an unser Flughafenabenteuer:

    … Vermutlich war das übermäßig geschminkte schlanke Fräulein noch am Anfang ihrer Ausbildung, denn alles, was sie machte, ging mit beneidenswerter Kontinuität daneben. Der Höhepunkt der Tragikomödie bestand darin, dass die arme Frau offensichtlich felsenfest davon überzeugt war, alles richtig zu machen. Sie kam sich dabei äußerst wichtig vor, schließlich musste sie eine wichtige Aufgabe nach einer Vorschrift erledigen, die sie gut gelernt hatte. Nur die Fluggäste nervten sie bei der Ausübung des Amtes mit ihrer Uneinsichtigkeit für die scheinbar ganz einfachen Regeln. Was diese Regeln für den Fall vorsahen, falls sie ein Flugzeug mit dem Zielflughafen Funchal mit Passagieren nach Palma de Mallorca besetzte, war ein Betriebsgeheimnis geblieben. Es musste aber etwas dringestanden haben, denn ich sah später durch das Fenster, wie das Mädchen aufgescheucht hin und her auf dem Rollfeld lief und die Fluggäste im Shuttlebus fachgerecht nach Zielflughafen sortierte. Ich hatte eine leise Vermutung, dass der Grund für ihre Verwirrung auch möglicherweise meine Gitarre sein konnte!

    Das Drama hatte seinen Lauf bereits beim Einchecken am Tresen der Gepäckaufgabe genommen. Als wir nach einer anstrengenden Fahrt in einem Bahnwagen, wo die Fahrgäste dicht gedrängt wie Sardinen in der Büchse beieinandergestanden hatten, endlich das Terminal des Flughafens erreichten, war das Einchecken für unseren Flug schon in vollem Gange. Wir reihten uns brav in die Schlange vor dem Schalter ein, während das fleißige Lehrmädchen ihre Amtshandlungen vollführte. Hinter einem Bildschirm saß vorsichtshalber noch eine reguläre Mitarbeiterin und gab ihr halblaut irgendwelche Anweisungen. Das Thema der heutigen Unterweisung lautete offenbar Einchecken und Boarding. Der versteinerte und hochoffizielle Gesichtsausdruck der jungen Frau ließ keine Widerreden zu, wenn es darum ging, die Gäste daran zu hindern, einen Koffer mit Übergewicht an Bord zu schmuggeln. Sie übte sich gerade geschäftig im Anbringen von Papierschlaufen an die Gepäckstücke, ihren Adleraugen entging aber nicht der vorschriftswidrige Umstand, dass unsere Koffer ein Kilogramm und fünfhundert Gramm zu viel auf die Waage brachten. Angelina musste ja aber auch so eine Angewohnheit haben, die Koffer bis zum Rand vollzumachen, – ungeachtet der Tatsache, dass wir schon mehrmals all unsere Kleider, Pullover und Socken im Flughafen auf dem Boden hatten ausbreiten und umpacken müssen. Es war schon immer so gewesen und hätte sich voraussichtlich auch nicht in der Zukunft geändert, bis dass der Tod uns schied.

    »Sie müssen etwas herausnehmen oder eine Gebühr für das Übergewicht bezahlen. So kann ich ihre Koffer nicht durchlassen!«, sagte die junge Dame mit großer Entschlossenheit. »Die Kasse ist dort!«, fügte sie kurz hinzu, zeigte die Richtung und starrte uns auffordernd mit ihren ausdrucksvollen braunen Augen an.

    Sie war richtig in Fahrt gekommen! Jetzt hatte sie jemanden, dem sie ihre Wichtigkeit zeigen konnte. Da Einwände oder Aufrufe zum gesunden Menschenverstand aus Erfahrung sinnlos waren, räumten wir die überschüssigen Kilos in unser Handgepäck um, ohne große Proteste, denn ich hatte noch meinen wichtigsten Trumpf in der Hand und ahnte schon, dass er gleich zur Hauptattraktion werden sollte.

    »Entschuldigung«, meinte ich und holte meinen Gitarrenkoffer hinter dem Tresen heraus, damit die verantwortungsbewusste Auszubildende ihn in voller Größe ihrem prüfenden Blick unterwerfen konnte. »Könnte ich das hier mit in die Kabine nehmen? Bitte.«

    Ihr Kinn schnellte nach unten und der Mund öffnete sich vor Staunen, ihr Gesicht erstarrte zu einer Maske der Ratlosigkeit. Na, was sagst du jetzt?, dachte ich im Stillen mit einem Hauch von Schadenfreude und empfand im gleichen Augenblick eine tiefe Scham für meine Herzlosigkeit. Es war nur ein Mädchen in der Ausbildung. Sie versuchte nur so gut es ging, das zu tun, was ihr aufgetragen worden war. Welche Verantwortung konnte sie letztendlich dafür tragen, dass die Fluggesellschaften eine Serviceleistung nach der anderen um die Wette strichen, damit sie mit ihren Niedrigpreisen so tief gehen konnten, dass die Passagiere bald schon Geld dafür bekamen, wenn sie einen Flug buchten? Keine. Ebenso wenig konnte sie etwas dafür, dass auch angesehene Fluganbieter, das Personal anwiesen, von den Passagieren die genauste Einhaltung ihrer Bedingungen zu verlangen.

    Paradoxerweise fanden sich immer noch mehr als genug Liebhaber der Billigflüge, obwohl mittlerweile wahrscheinlich fast jeder die Erfahrung gemacht haben durfte, dass die Low-Coster-Preise gar nicht so low waren, wenn man am Ende alles zusammenaddierte. Sie nannten es Geschäftsmodell, ich nannte es Bauernfängerei! Oder wie sollte man den Schwindel sonst nennen, wenn Passagiere mit Flugtickets angelockt wurden, die fast umsonst waren, und der eigentliche Flugpreis erst im Nachhinein, wenn es nach der Buchung kein Zurück mehr gab, durch Gepäck, Sonderleistungen und zusätzlichen Service zustande kam? Wer schon mal Strafgebühren für den Flughafen-Check-In oder ein Kilo Übergewicht bezahlen musste, war über die Niedrigpreise bestens informiert. Wo lag eigentlich die Grenze, an der die Leute gesagt hätten Sie können den Flug auch umsonst anbieten, ich fliege aber nicht mit? Mit der Einführung der ersten gebührenpflichtigen Bordtoilette? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

    Solch tiefgreifende Überlegungen beschäftigten das Fräulein aktuell sicherlich weniger, ihre volle Aufmerksamkeit galt eher der Frage, wie sie in dieser Situation reagieren sollte. Doch eine Ahnung davon, wie man dieses kleine lokale Problem löste, hatte sie auch nicht, denn sie stammelte nur eine Ansammlung von wenig zusammenhängenden Wörtern in unsere Richtung.

    »… Ihre Gitarre … Handgepäck … Maße … verstauen …«, sagte sie und suchte mit einem verzweifelten Blick nach Hilfe bei ihrer Kollegin.

    »Schauen Sie …«, fuhr ich fort, »ich würde jetzt ungern das Instrument als Gepäck aufgeben. Es kann leicht von den schweren Koffern eingedrückt werden. Dafür bedeutet mir die Gitarre aber zu viel. Sie wiegt vielleicht nur zwei Kilo und passt wunderbar in das Ablagefach über dem Sitz. Das hat schon immer funktioniert und es gab noch nie Probleme!«

    Die Kollegin sah hinter ihrem Monitor heraus und schaute sich den Gitarrenkoffer auch an. Sie bat mich, ihn auf die Waage zu legen, sah auf die Anzeige und erklärte der Auszubildenden etwas, was ich nicht hören konnte. Was auch immer es gewesen war, es hatte Wunder gewirkt: Die junge Dame war wie ausgewechselt. Sie erlaubte uns großzügig, die Gitarre mit an Bord zu nehmen, und lächelte sogar dabei! Etwas chaotisch und sehr zögerlich drückte sie uns die Bordkarten mit den aufgeklebten Abschnitten für das abgefertigte Gepäck in die Hand und wünschte uns einen guten Flug! Ihre Vorgesetzte war gerade abgelenkt, sie sprach mit jemandem am Telefon, und bekam nichts von den letzten Aktivitäten der Auszubildenden mit.

    Eine halbe Stunde später begaben wir uns zu den Flugsteigen, nachdem wir erfolgreich und ohne besondere Vorkommnisse die Sicherheitskontrolle passiert hatten. Auf dem Notebook waren keine Sprengstoffspuren entdeckt worden und das öffentliche Herunterlassen der Hose war mir auch erspart geblieben! Ich war ganz gut gelaunt, zuvor hatte ich mit dem Laptop das Klickgeschehen auf meiner Webseite gecheckt, das Geschäft lief blendend, sodass ich mich bis zur Ankunft auf Madeira entspannen konnte. Außerdem war meine Gitarre bei mir und nicht im Bauch des Flugzeugs.

    In der großen Wartehalle hatte sich vor einem Flugsteig bereits eine Schlange gebildet und wir gingen ein Stückchen nach vorn zum Tresen, vorbei an Urlaubern, die alle ausnahmslos Wanderschuhe anhatten, um nachzusehen, ob an der Infotafel unsere Flugnummer stand. Ja, wir waren hier richtig, stellte ich fest, als ich über dem Schalter den Zielflughafen Funchal eingeblendet sah! Eine zusätzliche Bestätigung bekam ich, nachdem ich mir die Frau am Schalter genauer angesehen hatte. Natürlich, es war unsere alte Bekannte, die jetzt hier ihren Dienst nach Vorschrift verrichtete! Wir drehten uns um und wollten gerade zurück zum Ende der Schlange gehen, als ein schriller hysterischer Schrei im hohen Frequenzbereich die Wartehalle erfüllte.

    »Ihre Gitarre! Sie müssen … Bitte kommen Sie hierher mit Ihrer Gitarre!«, kreischte das Lehrmädchen uns hinterher.

    Es wurde ohrenbetäubend still. Wie auf ein Kommando hin drehten sich alle Köpfe in unsere Richtung, da ich weit und breit der einzige Mann mit einem Gitarrenkoffer war. Um uns herum bildete sich ein menschenleerer Raum und alle starrten uns an! Gesenkten Hauptes und den fragenden Blicken ausweichend, ob wir wohl Terroristen gewesen wären, bewegten wir uns möglichst unauffällig entlang der Schlange unserem Schicksal entgegen! Auf dem Tresen lag die weiße Gepäckschlaufe, die für den Gitarrenkoffer bestimmt war.

    »Das müssen Sie unbedingt auf Ihre Gitarre anbringen. Es ist ein Gepäckstück, das die zulässigen Abmessung für das Handgepäck übersteigt!«, schoss das Mädchen wie aus einem Maschinengewehr mit Vorschriften um sich. »Geben Sie mir Ihre Gitarre, ich werde es richtig anbringen.«

    Ich war mit allem einverstanden und wollte nur, dass es bald aufhörte und ich die Frau nie wiedersah.

    »Geben Sie Ihre Bordkarten!«, ließ sie nicht locker und wollte anschließend noch die Ausweise sehen.

    Endlich piepste der Scanner bestätigend beim Lesen der Bordkarten und wir waren durch!

    »Phuuu…«, konnte ich letzten Endes erleichtert aufatmen.

    Eigentlich hätten wir uns bei der guten Frau noch bedanken sollen, dass sie uns die Wartezeit in der Schlange erspart hatte. Ich fragte mich: Hatte sie nun tatsächlich die ganze Zeit an nichts anderes gedacht als an die Papierschlaufe für den Gitarrenkoffer, die sie beim Einchecken vergessen hatte? Ob die Aktion mit meiner Gitarre die heranwachsende Fachfrau so verwirrt hatte, dass sie danach nicht mehr imstande war, zwischen Funchal und Palma de Mallorca zu unterscheiden, konnte nicht mehr geklärt werden. Es war vorbei und es war auch gut so!

    Ich hatte mich längst beruhigt und beobachtete schon eine ganze Weile aus dem Fenster des Flugzeugs, wie das Lehrmädchen in hochhackigen Schuhen den verlorenen Mallorcaurlaubern hinterherjagte, die auf dem Rollfeld umherwandelten, als plötzlich eine Flugbegleiterin mit suchendem Blick auf uns zukam.

    Sie fragte mich freundlich: »Ist es Ihr Gepäckabschnitt?«

    Ich sah mir den Aufkleber an. Es stand mein Name darauf. Auf der Bordkarte waren aber schon zwei Aufkleber vorhanden, die zu unseren Koffern gehörten! Ich ahnte schon, was es war. Natürlich. Was denn sonst? Es war der Abschnitt vom Gitarrenkoffer. Warum der Koffer noch einen Abschnitt haben musste, wo er sich doch oben im Ablagefach befand, und wo die Flugbegleiterin ihn plötzlich herhatte, wollte ich nicht mehr wissen.

    »Boarding completed«, informierte eine Stimme aus den krächzenden Lautsprechern des Bordfunks die Anwesenden über den aktuellen Stand der Dinge, nachdem die verantwortliche Stewardess die Außentür verriegelt hatte. Es war eine Durchsage für das Flugpersonal und den Piloten, die nur eins bedeutete: Wir konnten starten …

    »Wenn du deine Gitarre bei dir hast, bist du weniger unzufrieden, wenn dir im Urlaub irgendwas nicht gefällt.« Angelina unterbrach meinen Gedankenlauf und ich fand mich auf dem Hotelparkplatz wieder, hoch oben in der Berglandschaft Madeiras. »Früher hast du aber immer die Gitarre mitgehabt und keiner hat sich aufgeregt!«

    »Ja, früher … Früher bekam man während des Fluges auch dreimal Getränke angeboten: Kaffee, Tee, Wasser! Gehörte zum Standardservice. Heute halten sie schon wegen Leitungswasser direkt die Hand auf! … Meine Gitarre? … Meine Gitarre habe ich diesmal zum letzten Mal in den Urlaub mitgenommen. Du hast mich überredet! Ich wollte sie auch gar nicht mitnehmen, so was habe ich schon vermutet.«

    »Ooooh!«, gab meine Frau spöttisch einen lang gezogenen fallenden Ton von sich. »… Ihre Gitarre, … Ihre Gitarre!«

    Wir hatten zu Ende geraucht und machten unsere Stummel aus. Es wurde Zeit, das Hotel von innen zu besichtigen und die portugiesisch-madeirensische Gastfreundschaft kennenzulernen. Wir brachten unser Gepäck in den Vorraum hinter der Eingangstür und fanden uns vor einer zweiläufigen Treppe wieder. Mein Optimismus ging beim Anblick der Stufen leicht zur Neige.

    »Das fehlte noch! Ich gehe dann mit einem schweren Koffer schon mal nach oben zur Rezeption und du kannst vielleicht die leichteren Sachen nach und nach die Treppe hochtragen. Dann komme ich zurück und nehme noch den zweiten großen. Okay?«

    Wir setzten uns in Bewegung, einer mit einem großen Koffer, der wirklich verdammt schwer war, und die andere mit ein paar Stofftaschen, die seit unserer Umpackaktion im Flughafen zu unsrem Reisegepäck gehörten.

    Das Foyer war sehr geräumig. Rechts befand sich in einiger Entfernung die Empfangstheke und links ging es zum Aufenthaltsbereich, der mit mehreren Sitzgruppen ausgestattet war. Die größeren hatten zwei Dreisitzsofas, zwei Sessel und einen Couchtisch in der Mitte, die kleineren nur vier Sessel und einen kleinen Tisch. Außer dem Rezeptionisten war kein Mensch in der Empfangshalle, nur irgendwo in der hinteren Ecke huschte eine Putzfrau mit ihrem Wagen vorbei und verschwand in einem seitlichen Gang. Ich rollte meinen Koffer, der auf dem hellbraun gefliesten Boden einen furchtbaren Lärm verursachte, auf die Rezeption zu.

    »Hallo, sprechen Sie Deutsch?«, begrüßte ich den Madeirenser hinter der Theke, einen stämmigen, untersetzten Mann in den Vierzigern, der mit seinen Papieren beschäftigt war und etwas mürrisch dreinblickte. Er sah mich fragend an und gab mir zu verstehen, dass er kein Wort verstanden hatte.

    »Hi! Do you speak English?« Ich wechselte zu Englisch und fragte ihn, ob er dieser Sprache mächtig war. Das hätte jeder Angestellte in einem international agierenden Hotel sprechen müssen.

    »Good morning, Sir. What can I do for you?«, fragte er in seinem Portugenglisch, was ich denn wünschte.

    »We would like to check in now please«, verriet ich ihm meine Absicht einzuchecken.

    Er schaute mich mit einer leichten Note der Verwunderung an, als ob es ihm zuvor noch nie untergekommen war, dass Gäste an seiner Rezeption eincheckten.

    Nach kurzer Überlegung meinte er: »You can check in after two o'clock!« Er zeigte respektvoll auf eine verschlossene Tür, die mit einem Schildchen Manager versehen war.

    Ich versuchte die Information zu verarbeiten: Ab zwei Uhr im Büro des Managers.

    »You can leave your baggage here and wait«, machte er ein großzügiges Angebot, das Gepäck an der Rezeption abstellen zu dürfen, nachdem er gesehen hatte, wie Geli sich mit Taschen und Koffern auf der Treppe abmühte.

    Ich hatte den Eindruck, hier lief etwas falsch. Es war keine Seltenheit, dass man erst ab zwei Uhr ein Zimmer beziehen durfte. Aber warum um Gottes willen mussten wir zum Einchecken in das Büro des Hoteldirektors? Um Missverständnissen vorzubeugen, kramte ich aus der Koffertasche unsere Reiseunterlagen heraus, die in einer Klarsichtfolie im wilden Durcheinander lagen. Zwischen all den Zug-zum-Flug-Tickets und Reisebestätigungen musste irgendwo auch ein Blatt mit der Überschrift Hotel Voucher sein, daran konnte ich mich noch genau erinnern.

    »We booked our room five months ago, Sir. Can you check our booking please!«, bekräftigte ich unsere Absichten, indem ich auf unsere frühzeitige Buchung vor fünf Monaten verwies, und reichte ihm den Gutschein, den ich glücklicherweise gefunden hatte.

    Leicht überrascht hob der Mann am Empfang wieder den Blick von seinen Papieren und nahm die bedruckte Seite misstrauisch in Augenschein.

    »What's this?«, fragte er, was es denn war, und versuchte den Inhalt zu entziffern, der teilweise in Deutsch verfasst war. »Voucher …«, las er das ihm bekannte Wort vor. »Okay, I will check it!«, erklärte er sich freundlicherweise bereit, die Buchung zu checken.

    Er begab sich zum Computer und fing damit an, irgendwelche Zeichen über die Tastatur einzugeben, während ich zur Treppe zurückkehrte, um meiner Frau mit dem restlichen Gepäck zu helfen. Ich stellte fest, dass sie schon ganz fleißig gewesen war und sogar den schweren großen Koffer bis zur Mitte der Treppe nach oben gezogen hatte. Ich übernahm und ließ mir nicht die Gelegenheit entgehen, schwere Kritik an dem Konzept der Kofferbefüllung von meiner Frau zu üben.

    »Mensch, was hast du da überhaupt reingelegt?«, äußerte ich meinen Unmut, nachdem ich die ersten zwei Stufen mit dem Koffer in der Hand erklommen hatte. »Liegen da Steine drin?«

    Die Retourkutsche ließ nicht lange auf sich warten: »Was, was, was! … Was denn sonst? Dein Kaffee, Zucker, Milch, Wasserkocher! Das wolltest du doch alles haben oder nicht?«

    Das stimmte und ich beschloss, es dabei zu belassen, obwohl mich immer noch ein stiller Verdacht wurmte, dass noch etwas außer den erwähnten Gegenständen schwer ins Gewicht fiel.

    Der Mann hinter der Theke strahlte vor Freude, nachdem wir mit dem großen Rest des Gepäcks die Rezeption erreicht hatten. Zweifellos war der Buchungscheck erfolgreich verlaufen und wir durften nun seine madeirensische Gastfreundlichkeit in vollen Zügen genießen! Meinem Blick entging nicht, dass auf dem Tresen auch ein Zimmerschlüssel bereitlag, den der aufmerksame Rezeptionist für uns aus dem Schlüsselschrank hinter ihm schon herausgeholt hatte. Es schien alles in bester Ordnung zu sein, ich hörte auf, mir darüber Sorgen zu machen, ob wir heute Nacht ein Dach über dem Kopf bekamen, und der Portugiese nahm uns gleich die letzten Zweifel.

    »I am sorry. You don't need to wait. Your room is ready. You can occupy it right now!« Nunmehr durften wir das Zimmer unverzüglich beziehen.

    »We could wait till two o'clock, no problem …«, meinte ich unvorsichtig, dass wir auch bis zwei Uhr hätten warten können, und brach dann mitten im Satz ab, nachdem ich mich an ein gutes Sprichwort erinnert hatte, dass man schlafende Hunde nie wecken sollte!

    »No, no! No, no! You can get your room now. Can you give me your passports?«, bat uns der Rezeptionist, ihm unsere Pässe zu geben, um Kopien davon zu machen.

    Ich hielt dem Mann unsere Ausweise über die Theke zum Kopieren hin, damit er seiner Meldepflicht an die örtlichen Behörden nachkommen konnte, und wir tuckerten bald darauf mit den Koffern über die Fliesenfugen, den Zimmerschlüssel in der Hand, unserem neuen Domizil entgegen. Vorbei an einer wandgroßen Glasvitrine neben einem offenen Kamin, gefüllt mit verschiedensten Flaschen, die alle die Aufschrift Madeira trugen. Es waren offensichtlich keine Ausstellungsstücke, denn neben den Weinflaschen fand man auch Preisschilder, wo zumeist zweistellige Zahlen standen. Es konnte ja lustig werden, dachte ich, während wir an einer Wendeltreppe weitergingen, die zu den Zimmern im Obergeschoss führte, und sah schräg gegenüber einen ganzen Berg von Koffern und Reisetaschen, die in einer Ecke neben einem Diensteingang verstaut waren. Ob das die Sachen von Leuten waren, die auf ihren Transferbus zum Flughafen warteten? Es sah nicht danach aus, denn das Hotel schien ziemlich leer zu sein und diese Koffer mussten mindestens zwanzig Gästen gehören. Ich wollte mir nicht den Kopf darüber zerbrechen. Des Rätsels Lösung hätte sich schon von alleine gefunden, beschloss ich. Wir waren hundemüde. Glücklicherweise befand sich unser Doppelzimmer auf der gleichen Ebene mit der Rezeption, sodass wir uns nicht mehr im Gewichtheben üben mussten. In einem langen, halbdunklen Gang sahen wir sofort das Zimmer mit der Nummer eins. Unser Schlüsselanhänger hatte die Nummer acht – also irgendwo an Ende des Flurs. Letzte Anstrengung, letzter Meter, letzte Tür. Wir waren da!

    *  *  *

    Ich wachte in aller Früh auf. Meine Armbanduhr zeigte vier Uhr dreißig an, was sich mit meinen Gewohnheiten als Frühaufsteher absolut deckte, wenn man den Zeitunterschied bedachte. Auch zu Hause fing der Tag für mich zwischen fünf und sechs Uhr morgens an. Es war noch stockdunkel im Zimmer, aber hinter den zugezogenen Gardinen konnte man schon vage Zeichen der einsetzenden Dämmerung erkennen. Was die ruhige Lage des Hotels anging, hatte der Reiseveranstalter nicht zu viel versprochen. Zur Stunde herrschte absolute Ruhe, nur meine Frau schnarchte irgendwo rechts von mir leise und friedlich vor sich hin. Es machte keinen Sinn, noch einmal mit dem Schlafen zu versuchen. Zum einen hätte es nicht funktioniert und zum anderen musste ich noch ganz viel Arbeit vor dem Frühstück erledigen, weil danach eine Levadawanderung in der näheren Umgebung auf dem Programm stand.

    Ich richtete mich auf, schlüpfte in meine Hausschuhe, um den Waschraum aufzusuchen, und musste feststellen, dass es doch ziemlich frisch war. Der Wärmestrahler, den wir gestern im Zimmer vorgefunden und in einer Ecke abgestellt hatten, war nicht nur für die Wintermonate gedacht, denn ich musste mir auch im Juli trotz Schlafanzug noch schnell einen Wollumhang von meiner Frau überziehen, der mir schon seit vielen Jahren als Ersatz für einen Morgenmantel im Urlaub diente. Das Licht im Schlafbereich blieb aus, um Angelina nicht zu stören, nur im Bad hatte ich es weiterbrennen lassen, damit ich im halbdunklen Zimmer überhaupt etwas sehen und finden konnte

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