Parität jetzt!: Wider die Ungleichheit von Frauen und Männern Eine Streitschrift
Von Rita Süssmuth
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Über dieses E-Book
Von 1918–1987 wurde im Parlament nie ein Frauenanteil über 10 Prozent erreicht. Das Wahlrecht wurde gegeben und in Teilen wieder genommen, Berufswege wurden erweitert und wieder eingeschränkt, die Quote mühsamst durchgesetzt und nicht beachtet. Parität muss das Ziel heißen – dafür streitet Rita Süssmuth seit vielen Jahren. Und in den aktuellen existenziellen Krisen wird die Ungleichheit der Lebenschancen größer. Jeden Tag werden wir konfrontiert mit der Ungleichheit der Geschlechter – bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, dem viel zu hohen Anteil von Frauen in Teilzeit mit negativen Konsequenzen für Einkommen, Alterssicherung und beruflichen Aufstieg sowie dem hohen Frauenanteil bei den Schwächeren unserer Gesellschaft.
Rita Süssmuth
Rita Süssmuth, geb. 1937 in Wuppertal, Politikerin und Erziehungswissenschaftlerin, ehemalige Bundesministerin für Jugend, Familie, Gesundheit und Frauen, hat in ihren gesellschaftlichen und politischen Funktionen nicht aufgehört zu kämpfen gegen Ausgrenzung – trotz aller Widerstände. Sie sieht die Welt mit ihren grundlegenden Veränderungen positiv und negativ. Sie hält fest an der Überzeugung: Wir können gestalten und neu aufbauen. Wir sind nicht verloren.
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Buchvorschau
Parität jetzt! - Rita Süssmuth
1
Der Planet Erde schlägt um sich – wir alle sind gefordert
Die Erde tobt und bebt und windet sich unter der Last der Menschen, die sie bewohnen – die Folgen heißen unter anderem: Erderwärmung, Dürre und Trockenheit, ein ansteigender Meeresspiegel, Überflutungen, Erdrutsche und Stürme mit rasender Geschwindigkeit. Dies sind beunruhigende Tatbestände.
Ein weiteres abschreckendes Bild gibt der Mensch selbst und direkt ab: Gewalt, Krieg, Hunger und Vertreibung mit unvorstellbaren Vernichtungen von Leben, Natur und Kultur. Die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht sind, ist die Höchste seit dem Zweiten Weltkrieg: 70,8 Millionen¹ Alte und Junge, Frauen und Männer, Menschen aller Kulturen und Religionen. Und auch die Corona-Krise und die mit ihr einhergehenden politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen sind historisch ohne Vergleich.
All dies bringt unseren Planeten – und uns mit ihm – in die größte Gefahr. Wer bietet der Welt und ihren Geschöpfen Schutz? Wer stellt die Ordnung wieder her und stoppt das Chaos? Die Götter? Der Schöpfer selbst? Wir Menschen? Es ist höchste Zeit, wir sind gefordert. Sehr viele Junge haben das verstanden, aber auch Ältere, unabhängig von Geschlecht und Herkunft. Überall auf der Welt sind wir Menschen betroffen.
Klima und Umwelt sind aufgrund unseres schonungslosen, egoistischen Verbrauchs nahezu abgewirtschaftet. Und mit »uns« meine ich vor allem: uns in der westlichen Welt. Es wurde viel diskutiert seit den 1970er-Jahren, aber zu wenig oder erst spät gehandelt. Jetzt wird es eng. Es ist nicht mehr fünf vor, sondern fünf nach zwölf.
Gerade die junge Generation mit weiblicher Initiative und Führungskraft lässt uns Politiker nicht mehr schalten und walten, ohne uns auf die Finger zu schauen und uns zu kontrollieren: Jetzt ist es daran zu handeln, bevor es endgültig zu spät ist! Dafür stehen mit beispiellosem Mut die heute 18-jährige Greta Thunberg und ihre Mitstreiterinnen.²
*
Dieser Drang zu handeln und die Welt zum Besseren zu verändern, geht von Frauen und Männern gleich welchen Alters aus. Jedoch: Fällt uns nicht auf, dass die weibliche Stimme lauter wird? Dass ihr Weckruf international unüberhörbar wird? Dies ist die Stunde der Frauen. Kein Dornröschenschlaf mehr, kein Abwarten, kein Dulden und Delegieren. Sie packen sichtbar an, suchen das Rettende und die Möglichkeiten konsequenter, radikaler Veränderung ohne Gewalt – so lange es noch möglich ist. Nicht nur »Fridays for Future« stehen dafür, sondern Millionen Menschen, die jeden Tag für ihre und unsere Zukunft engagiert unterwegs sind.
Warum sage ich »radikal«? Einfach deshalb, weil weniger nicht mehr ausreicht. Zu diesem Radikalsein gehören die Kraft zur Lebensumstellung, alternative Ideen, Haltungen und Zielsetzungen, schöpferische Fantasie. Ein Blick zurück in die Geschichte belegt mit einer Fülle von Beispielen, was gerade Frauen hier in bitterer Not, in größter Bedrängnis und Entmutigung mit ihrer unermüdlichen Tatkraft, ihren praktischen Fähigkeiten und ihrer Bereitschaft zur Hoffnung geleistet haben.
Wie viele neue Zeichen wurden von ihnen gesetzt und Aufgaben gemeistert! In diesem Sinne waren sie oft »radikal«, weil sie nicht aufgehört haben, gegen große Widerstände und inmitten scharfer Konflikte einem Weg zu folgen, der genaues Hinsehen und Zuhören und Verständigung den Vorzug gibt. Und nach dem Scheitern wieder aufzustehen, um weiter zu machen, war ihnen zur zweiten Natur geworden.
*
Ohnmächtig und ohne Ideen sind wir Frauen nie gewesen. Aber im hohen Maße ausgegrenzt von politischen Mandaten und Ämtern, unterschätzt und von Ideologien umstellt. Auch in Europa, das von seiner Namensgeberin her weiblich ist und eigentlich die Europa heißen müsste, wurden allzu lange unsere angeblichen Defizite thematisiert: zu emotional, zu wenig Distanz und Sachlichkeit, zu wenig Befähigung für das Politische.
Angeblich. Denn in diesem beschämend falschen Bild fehlt die Beachtung der unersetzlichen Leistungen von Frauen auf allen Gebieten, vor allem in den Bereichen Sorge und Fürsorge, aber ganz besonders in den dunkeln Zeiten, als die Welt durch Kriege in Schutt und Asche gelegt worden war: Da haben Frauen die Gesellschaft am Leben erhalten, wenn die Männer weg waren, und Frauen haben das Land wieder aufgebaut, wenn ihre Männer traumatisiert, verwundet und oft apathisch zurückkehrten.
Berufe im Bereich Gesundheit, Soziales oder Erziehung – die sogenannten Care-Berufe –, vor allem auch in der Pflege sind durch einen hohen Frauenanteil geprägt. 85 Prozent des Pflege- und Betreuungspersonals in Heimen und ambulanten Diensten sind nach der jüngsten Pflegestatistik (2019) weiblich. 68 Prozent der Frauen in der Altenpflege arbeiteten in Teilzeit. Betrachtet man die Erwerbstätigen insgesamt, so verschärft sich das Bild: Nach Ergebnissen des Mikrozensus lag die Teilzeitquote über alle Wirtschaftsbereiche hinweg im Jahr 2019 bei 29 Prozent. Bei Frauen betrug sie 48 Prozent, bei Männern 12 Prozent.³
*
Das Corona-Virus und seine ökonomischen Folgen treffen uns alle. Besonders bitter bekommen es aber diejenigen zu spüren, die bis heute aufgrund von Teilzeit und geringerem Verdienst vorbelastet sind – die Frauen. Wir sind nicht im Aufstieg zu einer paritätischeren Welt, sondern, mehr denn je, im Abstieg begriffen, weg von ihr. Eine um sich greifende Verunsicherung mit zwei ganz unterschiedlichen Ausrichtungen zeichnet sich ab:
Die Tendenz Nummer eins: weg vom Globalen hin zum Nationalen und Nationalistischen, zurück in die Vergangenheit mit nationalen Allianzen zur eigenen Absicherung, Abwehr von Flüchtlingen, weg von interkulturellen Einflüssen, Aufbau von Fremd- und Feindhaltungen, Ausgrenzung und Diffamierungen.
Die Tendenz Nummer zwei: die Rettung des Planeten Erde, verschärfter Umweltschutz, neues friedfertiges und kooperatives Denken und Verhalten – lokal, national und international. Diese Entwicklung wird sichtbar in der gegenwärtigen Avantgarde für die Zukunft, in der jungen Generation mit radikalen Zielen und Erwartungen an eine Veränderung der Lebensverhältnisse und individuellen Verhaltensweisen. Eine der weltweiten Anführerinnen ist die genannte Greta Thunberg. Doch sie rüttelt nicht nur andere auf mit ihren Unterstützer*innen, sie tut viel mehr, arbeitet praktisch und wirkt politisch, so jung sie ist. Sie besteht auf dem »Jetzt« ohne Verzug, in Europa und der Welt.⁴
Aber ist es überhaupt möglich, das bisherige Denken und Handeln ohne schrittweise Kompromisse durch radikale Vereinbarungen zu erreichen? Gegner dieser Gangart arbeiten mit schwerwiegenden Zweifeln und Argumenten gegen zu viel Eile. Die beobachtbaren Indikatoren verstärken die berechtigten Forderungen nach einem schnellen und weltweit getätigten Klimaschutz. Das Problem ist komplex, greift tief in selbstverständlich gewordenes Handeln, in unsere gewohnte Lebenswelt ein und fordert nachhaltige Lösungsansätze, die uns oft befremden.
Wurde etwas erreicht? Die zukunftsentscheidenden Fragen sind auf dem Tisch und werden nicht länger verdrängt, immerhin. Sie betreffen alle, erfordern Zusammenarbeit, Gemeinsinn von vielen, alternative Antworten. Sie verlangen Tempo und einen langen Atem, um ihre Tauglichkeit und internationale Wirksamkeit zu prüfen und unter Beweis zu stellen. Verzagtheit und Bequemlichkeit stehen uns oft im Weg, wenn wir neues Wissen und Erfahrungen sammeln.
*
Aber was uns gegenwärtig umtreibt ist breiter angelegt als die Klimakatastrophe und Corona. Es betrifft unseren Zustand als Gesellschaft, unser Lebensgefühl und unser Lebensverständnis mit neuen Verunsicherungen. Das Vertrauen in die Zukunft ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Die menschliche Allmacht zeigt Risse, sieht sich plötzlich überrascht einer drängenden Fragwürdigkeit ausgesetzt. Das Selbstverständliche ist nicht mehr selbstverständlich. Eine erste Reaktion darauf hieß: »Das dauert nicht lange an. Die alte Normalität kehrt bald wieder!« Nun sind wir schon im dritten Jahr der Corona-Krise. Sie hält noch immer an. Und sie schlägt um in schlechte Stimmung, Aggressivität und Ratlosigkeit.
Gleichzeitig wachsen Reform- und Innovationsideen im Umgang mit Energie, Ernährung, Wohnungsbau und Wohngestaltung quer durch die Generationen. In vielen Kommunen erleben wir gegenwärtig mehr Lust auf Verantwortung statt Resignation. Das trifft für