Die Paulis außer Rand & Band
Von Gernot Gricksch und Franziska Harvey
5/5
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Über dieses E-Book
Drei Monate allein? Dennis, Lea und Flummi sind begeistert, als sie hören, dass ihre Mutter ganz plötzlich beruflich verreisen muss. Doch leider hat sie Kratzbürste Tante Heidrun gebeten, auf die Kinder aufzupassen. Da geschieht ein Wunder: Nach einer Hypnosevorstellung der achtjährigen Flummi hält die Tante sich für Pippi Langstrumpf. Nun gibt's schulfrei, Naschtürme, Piratenfrühstuck und Pizza satt. Aber irgendwann reicht es den Kindern - können sie die Hypnose wieder lösen?
Das erste Kinderbuch des erfolgreichen Romanautors (Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande) ist eine geist- und temporeiche Geschwistergeschichte, frech und witzig und am Puls der Zeit!
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Buchvorschau
Die Paulis außer Rand & Band - Gernot Gricksch
1. Kapitel
»Mamaaaa!«, schrie Lea aus ihrem Zimmer nach unten. »Kann ich bitte dein Sommerkleid zerschneiden? Das rote! Ich brauche den Stoff für eine Collage!«
Iris Pauli erschrak. Hatte sie ihre Tochter da eben richtig verstanden? »Was? Nein!«, rief sie die Treppe hoch. »Auf keinen Fall! Das ziehe ich doch noch an! Das ist eines meiner Lieblingskleider! Kannst du nicht einen alten Lappen nehmen oder so was?«
»Ich brauche aber unbedingt etwas mit Rot drin oder mit Orange. Aus künstlerischen Gründen. Und außerdem …«, rief Lea. Den Rest konnte ihre Mutter nicht verstehen, denn in diesem Moment klingelte das Telefon. Iris nahm ab.
»Pauli«, meldete sie sich.
»Frau Pauli«, sagte eine strenge, weibliche Stimme. »Hier ist Gerda Klöbner. Von gegenüber. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihre kleine Tochter gerade wieder ein Bettlaken am Balkongitter …«
»Oh Gott!«, schrie Iris, ließ das Telefon fallen und stürmte die Treppe hoch. »Flummi!«, schrie sie. »Flummi! Runter vom Balkon! Sofort!«
Iris Pauli stürmte über den Flur zum Zimmer ihrer jüngsten Tochter. Dabei kam sie am Zimmer ihres Sohnes Dennis vorbei. Der saß wie üblich am Computer. Aus dem Lautsprecher seines PCs hörte man Säbelklirren, Grunzen und Röcheln.
»Flummi!«, schrie Iris. »Flummi! Komm sofort vom Balkon runter!«
»Mann, geht das vielleicht auch ein bisschen leiser!«, rief nun Dennis. »Wie soll man sich denn da konzentrieren?!«
»Wozu musst du dich denn groß konzentrieren?«, brüllte Lea aus dem Nebenzimmer. »Du tötest doch sowieso nur irgendwelche blöden Monster.«
»Das sind keine Monster, das sind Orks!«, protestierte Dennis. »In Amberworld gibt es keine Monster, weil das alles …«
Während ihre beiden älteren Kinder sich über die korrekte Bezeichnung der klobigen Kreaturen in Dennis’ Computerspiel stritten, riss Iris die Tür von Flummis Zimmer auf. Ihre kleine Tochter machte gerade Anstalten, über die Balkonbrüstung zu klettern. In der Hand hielt sie ein Seil, das sie aus drei verschiedenfarbigen Bettlaken zusammengeknotet hatte.
»Flummi«, schrie ihre Mutter. »Nicht! Nein! Komm sofort zurück!«
»Aber Mami!«, rief Flummi. »Ich will doch nur Banschi springen. Das ist total gar nicht gefährlich. Hab ich im Fernsehen gesehen.«
Iris schnappte sich ihre kleine Tochter, zog sie mit einem Ruck zurück auf die sichere Seite des Balkons und umklammerte sie angstvoll.
»Mensch, Flummi! Da kannst du dir doch alle Knochen brechen oder sogar das Genick«, sagte Iris.
»Quatschi, Mama!«, widersprach Flummi und lachte laut auf. »Das Seil bindet man sich um den Bauch und dann springt man und dann – boing, zwapp, boing – wird man immer so rauf- und runtergeschleudert und das ist total lustig und das heißt Banschi und das machen ganz viele Leute und lass mich doch auch! Ich bin doch kein Baby mehr!«
»Geht das nicht leiser, verdammt noch mal!«, rief Dennis und seine Stimme überschlug sich zu einem seltsamen Kieksen. »Das ist ja voll das Irrenhaus hier!« Kurz darauf hörte man Dennis’ Zimmertür mit einem lauten Rums zuschlagen.
Iris nahm Flummi an die Hand und sagte: »Komm, Süße. Wir essen einen Keks.«
»Ich will aber drei Kekse!«, rief Flummi. »Dann kann ich damit jonglieren, bevor ich sie esse. Aber sie müssen alle gleich groß sein, sonst ist das schwierig mit dem Jonglieren …«
»Jaja«, sagte ihre Mutter und ging mit Flummi an der Hand durch den Flur. Gerade als sie die Treppe nach unten nehmen wollte, kam Lea aus ihrem Zimmer. Sie reichte ihrer Mutter das rostrote Sommerkleid.
»Ich hab einfach nur die Ärmel abgeschnitten«, sagte sie strahlend. »Das war genug Stoff. Das reicht mir. Dann hast du jetzt ein ärmelloses Kleid. Das ist doch auch viel hübscher!«
Iris seufzte bloß, nahm ihr schwer verletztes Kleid wortlos entgegen und ging mit Flummi die Treppe hinunter.
»Ich glaube, ich will Schokokekse! Wenn ich mit Schokokeksen jongliere, macht das so lustige braune Flecken auf der Hand«, strahlte sie.
»Ja!«, brüllte Dennis aus seinem Zimmer. »Der Troll ist tot! Der verdammte Troll ist tot!«
Iris und Flummi verschwanden in der Küche zum Kekse-Jonglieren, Dennis stürzte sich in die nächste Troll-Schlacht und Lea musterte zufrieden die amputierten Ärmel des Lieblingskleides ihrer Mutter.
»Frau Pauli?«, drang eine leise, besorgte Stimme aus dem Hörer des Telefons, das vergessen auf dem Fußboden des Flures lag. »Alles in Ordnung, Frau Pauli?«
Natürlich war alles in Ordnung. Tage wie dieser sind ganz normal im Hause Pauli. Die Familie, die in der Brahmsgasse 12 lebt, ist einfach nur … na ja, etwas eigenwilliger als andere Familien. In dem kleinen Haus mit der efeuumrankten Westseite, das ganz am Ende der Straße steht, ist immer schwer was los. Die Paulis sind eben eine ganz besondere Familie.
Da gibt es erst mal Dennis. Dennis ist zwölf. Er liebt Fantasy-Computerspiele über alles. Wenn er seine Familie beschreiben sollte, würde er wahrscheinlich so etwas sagen wie: »Die Bewohner unseres Clans gehören verschiedenen Spezies an, leben aber in Frieden zusammen. Zumindest meistens. Meine Mutter regiert ihr Reich mit viel Güte und nur wenn es unbedingt sein muss, auch mal mit fester Hand. Die Basis ist sicher, die Versorgungswege kurz und ich sehe keine Gefahr eines Systemabsturzes.« In dem Online-Rollenspiel »Amberworld«, in dem Dennis fast so viel Zeit verbringt wie in der wirklichen Welt, nennt er sich MightyPrince09. Mächtiger Prinz. Die 09 musste er dranhängen, weil schon acht andere Spieler vor ihm auf die Idee gekommen waren, sich MightyPrince zu nennen.
Wenn man Dennis so anschaut, sieht er nicht gerade aus wie einer der Prinzen aus den Märchenbüchern. Er ist der Drittkleinste in seiner Klasse, ziemlich schmächtig und seit einem halben Jahr entdeckt er jeden Morgen ein paar Pickel und Pusteln mehr auf seiner Stirn und den Wangen. Doch niemand zieht ihn wegen seiner Pickel auf und niemand macht sich über ihn lustig. Denn niemand bemerkt ihn. Manchmal hat Dennis das Gefühl, als sei er gar nicht da. Die einzigen beiden Klassenkameraden, mit denen er sich unterhält, sind Arno und Frederick. Die stehen auch auf Fantasy und PC-Spiele. Alle anderen in der Klasse scheinen jedoch auf einem anderen Planeten zu leben. In Amberworld aber ist Dennis jemand. Da ist er ein Held. Da bringen ihm seine cleveren Kampfstrategien und seine geschickten Schlachtenberechnungen Respekt und Bewunderung ein. In seiner Klasse, in der wirklichen Welt, interessiert es aber niemanden, was er draufhat. Man wird nicht zum Star der 7B, weil man in Windeseile proportionale Tabellen berechnen oder alle wichtigen Schlachten der Antike aufzählen kann. Da zählen andere Dinge. Dinge, mit denen Dennis nicht dienen kann. Also ist es doch kein Wunder, dass er sich ein Zweitleben maßgeschneidert hat. Denn das ist ja das Schöne an Rollenspielen. Da kann man sein, wer man sein will. Da kann man klug und stark sein, smart und schön. Die Figur, die sich Dennis für die virtuelle Welt zusammengebaut hat, ist groß, kräftig und hat einen langen, blonden Pferdeschwanz. In dem Moment, in dem Dennis sein Amberworld-Passwort eingibt, ist er ein strahlender Prinz. Basta.
Seine Schwester Lea ist zwei Jahre jünger als Dennis. Sie kann Computer nicht leiden. Sie mag Farben, Skulpturen und Leute, die sich von Kopf bis Fuß mit Nutella beschmieren und Gedichte rückwärts zitieren, während sie dabei auf dem Kopf stehen. Nein, Lea bewundert nicht Menschen, die in psychiatrischen Kliniken leben. Lea bewundert Künstler. Sie möchte selbst eine moderne Künstlerin werden. Das heißt: Ihrer Meinung nach ist sie es sogar schon. Es hat sich nur noch nicht herumgesprochen. Lea würde ihre Familie vermutlich nicht mit Worten beschreiben, sondern mit einem Gemälde oder einer Skulptur. Dieses Kunstwerk wäre dann sicher so wild und seltsam und bunt, dass sie es einem erst mal erklären müsste.
Lea ist der festen Überzeugung, dass ein Künstler gleichzeitig sein eigenes Kunstwerk sein muss. Sie hat sich im Internet Fotos von berühmten Kunstschaffenden angesehen und weiß deshalb, dass man als Künstler einen ganz besonderen Look braucht. Etwas ganz Eigenes. Der Künstler Andy Warhol, der unter anderem dadurch berühmt geworden ist, dass er ein Bild von einer Dose Tomatensuppe gemalt hat, trug auf dem Kopf einen lustigen, schlohweißen Haarschopf, der aussah, als hätte sich ein kleiner Yeti auf seinem Kopf zum Schlafen zusammengerollt. Und Salvador Dalí, dieser total verrückte Spanier, der Uhren gemalt hat, die wie wabbelige Lappen im Baum hängen, und Frauen, die Schubladen im Bauch haben, der hatte einen unglaublich langen, total verzwirbelten Schnurrbart.
Juniorkünstlerin Lea experimentiert noch mit ihrem eigenen Look. Diese Woche hat sie aus der Kiste mit dem Weihnachtsschmuck, die im Keller steht, ein paar Fäden Goldlametta geholt und sich ins rotblonde Haar geflochten. Das sieht hübsch aus und trotzdem künstlerisch. Jedenfalls viel besser als neulich, als sie sich die Augenbrauen abrasiert hatte. Gott sei Dank wachsen die inzwischen langsam wieder nach. Viele in ihrer Klasse halten Lea für eine Spinnerin und ärgern sie mit miesen Sprüchen. Doch missverstanden und unterschätzt zu werden, ist das Schicksal vieler Künstler. Lea tut so, als würde sie sich nichts aus den spitzen Bemerkungen ihrer Mitschülerinnen machen. Denn die hören erst dann auf, wenn Lea so wird wie alle anderen. Und das will Lea auf keinen Fall: als eines von vielen Schafen in einer Herde herumrennen. Nur: Warum können die anderen Schafe nicht trotzdem nett zu ihr sein?
Flummi schließlich, mit acht Jahren die jüngste Bewohnerin der Brahmsgasse 12, würde nicht lange für die Beschreibung ihrer Familie brauchen. Sie würde einfach rufen: »Meine Familie ist superduftemegatoll! Ich habe alle ganz doll lieb!« Und dabei würde sie an einem vorbeizischen, spindeldürr, wie sie ist, in ihrem fliederfarbenen Glitzertrikot und mit der silbern funkelnden Tiara in den wuseligen, feuerroten Haaren. Flummi würde dabei Bälle jonglieren, ein Rad schlagen oder durch einen Reifen springen. Vielleicht sogar auch alles gleichzeitig.
Flummi heißt eigentlich Alexandra, aber alle finden, dass ihr dieser Name nicht gerecht wird. Alexandra ist ein langsamer Name. Ein Name, bei dem man sich mühsam durch vier Silben mit drei langen As quälen muss. Ehe man damit fertig ist, wäre Flummi schon wieder ganz woanders. Die kleine Schwester von Dennis und Lea ist nämlich ein Hochgeschwindigkeitskind. Wer versucht, Flummi zu bremsen, muss sich auf einen harten Aufprall gefasst machen. Wenn sie groß ist, will Flummi zum Zirkus. Natürlich nicht als Zuschauerin, sondern als Attraktion.
In ihrer Klasse ist sie das schon jetzt. Denn alle Kinder lieben Flummi. Sie versteht sich einfach mit jedem, hat im Gegensatz zu vielen Klassenkameradinnen keine Ahnung, wie man zickt, und weiß auch gar nicht, wozu Zicken überhaupt gut sind. Für Flummi ist jeder Mensch ein potenzieller Freund und die ganze Welt eine riesige Manege, in der man herumtollen und Spaß haben sollte.
Die Mutter dieser drei Kinder hat Nerven aus Stahl. Sie lässt sich fast nie aus der Ruhe bringen und ihre gute Laune vermiesen. Wenn andere Leute, zum Beispiel die grantige Frau Klöbner von gegenüber, sie fragen, wie sie das bloß schafft, ganz allein mit drei solch … nun ja: besonders lebendigen Kindern, dann lächelt sie bloß. Leute wie Frau Klöbner verstehen das nicht. Frau Klöbner hat bloß einen unglaublich fetten kleinen Hund, dem sie im Winter einen Strickpulli anzieht. So eine vor sich hinschlurfende Hundekugel macht natürlich nicht so viel Chaos wie drei Kids. Aber auch nicht so viel Spaß.
Iris Pauli ist Ökologin. Das heißt, sie forscht und engagiert sich im Umweltschutz. Sie arbeitet sehr viel, manchmal halbe Nächte durch. Weil ihre Arbeit wichtig ist und weil sie eine Familie ernähren muss. Aber wenn eines ihrer Kinder sie braucht, ist sie immer zur Stelle. Iris findet, Eltern sollten wie Fußballtrainer sein. Sie sollten ihre Mannschaft lieben, ausbilden und alles für sie tun. Aber sie müssen auch lernen, einfach mal nur am Spielfeldrand zu stehen, zuzuschauen und den Mund zu halten. Eltern und Fußballtrainer sollten sich nicht ständig einmischen. Nur bei groben Fouls und echt schlimmen Regelverstößen.
Der Vater der drei Kinder ist vor fünf Jahren gestorben. Er hieß Ralf, war Bühnenbildner am Theater, lachte viel und konnte unglaublich gut mit den Ohren wackeln. Dennis hat auf einem virtuellen Grabstein in Amberworld den Namen seines Vaters eingraviert. Dieser Stein steht auf dem Friedhof, wo die Heiligen ruhen. Lea hat unzählige Bilder von ihrem Vater gemalt. Sie alle sind in leuchtenden Farben und zählen zu den schönsten, unkompliziertesten und freundlichsten Arbeiten in Leas umfangreicher Kunstsammlung. Die kleine Flummi kann sich nicht an ihren Vater erinnern. Sie war noch zu klein, als er starb. Aber sie weint trotzdem manchmal ein bisschen, wenn jemand über ihn spricht.
Verrückte Vorfälle und Trubel aller Art sind in der Brahmsgasse 12 also keine Seltenheit. Die gehören einfach dazu. Was die Familie Pauli aber im letzten Sommer erlebte, warf selbst die Paulis völlig aus der Bahn. Es war die verrückteste Geschichte, die man sich vorstellen kann. Es war der pure Wahnsinn.
2. Kapitel
Der ganze Trubel begann an einem Sonntagabend, als Mutter Iris ihre Kinder ins Wohnzimmer bestellte und ihnen eine wichtige Mitteilung machte.
»Kinder«, sagte Iris, »setzt euch.«
Sie stand in der Mitte des Wohnzimmers und wies mit der Hand auf das Sofa. Dennis ließ sich auf die Couch fallen und blätterte einen Stapel Amberworld-Sammelkarten durch, während Lea umständlich im Schneidersitz vor ihm auf dem Berberteppich Platz nahm. Sie hatte sich zwei bunte Plastiklöffel ins Haar gebunden. So wie japanische Geishas sich manchmal