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Krieg nach innen, Krieg nach außen: und die Intellektuellen als "Stützen der Gesellschaft"?
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eBook553 Seiten5 Stunden

Krieg nach innen, Krieg nach außen: und die Intellektuellen als "Stützen der Gesellschaft"?

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Über dieses E-Book

Die hier versammelten AutorInnen fragen nach der Verantwortung der Intellektuellen angesichts der immer mehr ausgeweiteten Kriege und ihrer politischen Rechtfertigung. Sie thematisieren die zunehmende und stärkere Beteiligung Deutschlands an Kriegseinsätzen, die ausgeweitete deutsche Waffenproduktion und bieten Ansätze, diese in ihren Zusammenhängen, ihren Ursachen und Auswirkungen zu verstehen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Dez. 2019
ISBN9783864897849
Krieg nach innen, Krieg nach außen: und die Intellektuellen als "Stützen der Gesellschaft"?

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    Buchvorschau

    Krieg nach innen, Krieg nach außen - Klaus-Jürgen Bruder

    Klaus-Jürgen Bruder, Christoph Bialluch, Jürgen Günther

    Vorwort

    Anfang 2018 hat das »Bulletin of the Atomic Scientists« die seit 1947 bestehende Weltuntergangsuhr erneut vorgestellt. Damit steht die Welt zwei Minuten vor Mitternacht, also kurz vor der Apokalypse.

    Mit dem Symposium »Trommeln für den Krieg« 2014 und dem Kongress »Krieg um die Köpfe« 2015 hat sich die NGfP eingehend mit den institutionellen und psychologischen Vorbereitungen auf Kriege und die Rechtfertigung von Kriegen aus angeblicher Verantwortung heraus, beschäftigt. Wir wollen erneut die von der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten angemahnte stärkere Beteiligung Deutschlands an Kriegseinsätzen, die ausgeweitete deutsche Waffenproduktion und die zunehmenden Feind-Erklärungen nach außen und nach innen thematisieren und in ihren Zusammenhängen, ihren Ursachen und Auswirkungen, verstehen.

    Letztlich geht es um die Zementierung der bestehenden Macht- und Reichtumsverhältnisse. Dafür wird das innenpolitische Klima mit allen Mitteln nach rechts gedrückt, werden demokratische Errungenschaften gekippt, soziale Sicherheiten abgebaut, Kontrollen der staatlichen Apparate über Bord geworfen, wird ein Klima des Verdachts und des Misstrauens untereinander geschaffen.

    Gleichzeitig wird die größte Bedrohung aller Menschen, die seit Generationen vorausgesagt worden ist, die sogenannte »Umweltkatastrophe« mit nichts als leeren Versprechungen beschworen. Zu den Folgen dieser sich immer unabweisbarer anbahnenden Katastrophe gehören unter anderem auch die Ströme von Menschen, die nur durch Flucht der Zerstörung ihrer Lebensgrundlage durch Krieg, Dürre, Überschwemmungen entkommen können.

    Alle diese Einzelphänomene wirken zusammen in der Formierung des innenpolitischen Klimas und Bewusstseins; das Spiel mit der inneren »Sicherheit« wird die Kriegsangst eher in Schach halten, die neokoloniale Lebensweise wird auf Kosten der Ausbeutung des neokolonialen »Rests« der Bevölkerung der Welt zu der zunehmenden Spaltung der Bevölkerung in Profiteure und Verlierer beitragen.

    Sowohl die stetig steigende Zahl der an Hunger Sterbenden, durch Krieg Getöteten oder Verkrüppelten, als auch die ebenso beständig steigende Zahl der durch Verlust ihrer Arbeit aus dem sozialen Leben Ausgeschlossenen; sowie die ständig wachsende Drohung eines Atomkriegs müssten bei jedem Menschen den Impuls auslösen, alles zu unternehmen, um die bestehenden mörderischen Zustände zu beenden und die Gefahr zu bannen – anstatt diese zu verleugnen. Hier müssten in erster Reihe die, die an den ökonomischen, politischen, ideologischen Hebeln der Macht sitzen bzw. einen Zugang haben, die, die diese Zusammenhänge sehen und formulieren können, eingreifen und aufschreien.

    Erinnern wir uns daran, dass es auch eine Tradition gibt, an die wir anknüpfen können: Gegen die Bedrohung durch eine Wiederholung des Einsatzes von Atomwaffen (der erste war bekanntlich der durch die USA gegen die japanischen Großstädte Hiroshima und Nagasaki 1945) meldeten sich viele Intellektuelle und Wissenschaftler zu Wort.¹ Physiker stellten die Zerstörungskraft der Waffen dar und reflektierten ihre Rolle bei deren Herstellung, Mediziner bauten Organisationen wie »Ärzte gegen den Atomkrieg« oder auch »Ärzte ohne Grenzen« auf, Psychoanalytiker deuteten die väterlose Gesellschaft und das schwierige Verhältnis zu Autoritäten, an vielen Fakultäten gründeten sich Gruppen, die ihre Institutsgeschichte in der Nazizeit aufarbeiten wollten. Politiker und Künstler liefen auf den Ostermärschen mit oder wollten in ihren Arbeiten kritisieren und aufklären.

    Ihre geschichtlichen Wurzeln sind die zwei Weltkriege, die von Deutschland ausgingen, und danach die Erfahrung des Kalten Krieges, der sich am stärksten sicht- und fühlbar im geteilten Deutschland abspielte. Vor dem Hintergrund, dass zwei Weltkriege von Deutschland ausgingen und große Teile der Welt zerstörten, bildeten sich Friedensbewegungen, eine neue Politik zwischen BRD und DDR, die auf Ausgleich ausgerichtet war, und weitere Bewegungen. Der Motor dieser Bewegungen war das Aufbegehren der jungen Generation gegen den Widerspruch zwischen der Behauptung von »Verantwortung« und der Verantwortungslosigkeit im Verhalten der politischen Klasse und der Generation der Eltern.

    Diese Kritik ergriff viele bis dahin schweigende Minderheiten und stärkte das Selbstbewusstsein eines nicht unbeträchtlichen Teils der Bevölkerung bis heute. Und tatsächlich gibt es trotz aller Kriegsvorbereitung in Deutschland weiterhin breite Ablehnung gegenüber Kriegseinsätzen und immer noch viel Wohlwollen gegenüber den Geflüchteten; neben einem weit verbreiteten gelasseneren Umgang gegenüber autoritären Vorschriften und Gepflogenheiten. Es gibt noch das Bulletin of the Atomic Scientist, die Ärzte gegen den Atomkrieg, gesellschaftskritische Künstler usw. Doch ihre Stimmen verhallen. Was der »Club of Rome« macht, weiß kaum einer mehr, das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung erhascht kurz in den Zeitungen Aufmerksamkeit, die aber auch schnell wieder verloren geht. Und das Ganze geschieht, obwohl sie Beängstigendes berichten und Aussagen zu globalen Krisen und in der Folge auch zu Kriegen machen.

    Stattdessen wird ein anderer Diskurs geführt, der die »Kriege« als bedauerliches, aber notwendiges und somit auch »legitimes« Mittel der Auseinandersetzung darstellen will. Hier wird die »Verantwortungsübernahme« angemahnt, die das geeinte und demokratische Deutschland in der Welt übernehmen soll. Jetzt werden erneut Kriegsgründe konstruiert, Feindbilder aufgebaut, Hass geschürt und mit den »Säbeln« gerasselt. Es wird unter Missbrauch des von Clausewitz aufgedeckten Zusammenhanges von Politik und Krieg ein anderer Diskurs geführt, der die »Kriege« als bedauerlich, aber notwendiges und somit auch »legitimes« Mittel der Auseinandersetzung darstellen will.

    So fehlt völlig eine Politik des Austauschs und des Ausgleichs – weder zwischen den Völkern, Nationen und Regierungen, noch zwischen den Klassen innerhalb der Gesellschaft. Weiterhin haben sehr große Teile der in Deutschland Lebenden nicht am Reichtum teil, nicht an der Arbeit, nicht an Bildung. Die versteckte Arbeitslosigkeit ist weiterhin hoch, die Löhne sind weiterhin eingefroren, die Arbeitsplätze prekär, an Hartz IV und an der Sanktionierung der Betroffenen wird stur festgehalten. Die neuen Gesetze aus Bayern – sie werden vermutlich in den Bund exportiert –, das Polizeigesetz und das Psychiatriegesetz, lassen einen nur erschaudern. Gerade letzteres, das Psychiatriegesetz, muss uns als Psychologen und Psychotherapeuten beschäftigen.

    Und die »Verantwortung der Intellektuellen«, also unsere Verantwortung? Von den Mächtigen wird ihnen zugemutet, sie von ihren Verbrechen reinzuwaschen, die diese sich auf Kosten der Bevölkerung geleistet hatten oder vorhaben. Wenn die Intellektuellen diese Aufgabe übernehmen, so nicht ohne sie zugleich zu verleugnen, denn sie verletzt ihr Selbstbild des von der Macht unabhängigen nur der Wahrheit verpflichteten Vernunftbürgers. Bert Brecht hat sich seit den Zwanzigerjahren mit der Figur des Intellektuellen beschäftigt. Seine Auseinandersetzung damit hat ihren Niederschlag in zweien seiner Stücke gefunden: Leben des Galilei (1939) und Turandot oder der Kongress der Weißwäscher (1953/54), mit denen er den Bogen spannte, vom »Morgen der Aufklärung bis zu ihrem Untergang«: Am Ende, als TUIs (gebildet aus: Tellekt-Uell-In, einem Anagramm für »Intellektuell«) »verkaufen sie Meinungen«, mit orwellschen Verdrehungen stellen sie sich »auf die andere Seite der Barrikade« – einer die längste Zeit unsichtbaren, aber keineswegs weniger wirkungsvollen Barrikade. Almuth Bruder-Bezzel, die mit dem Schauspieler Michael Weber vom Hamburger Schauspielhaus eine Lesung aus der TUI-Parabel inszenierte, erinnerte daran, dass Franca Ongaro und Franco Basaglia die »Dienstbarkeit der Intellektuellen« gegenüber der Macht als »Befriedungsverbrechen« verurteilt hatten.

    Müssen wir uns als Psychologen nicht den Vorwurf gefallen lassen, den Subjekten noch bei ihrer Anpassung an im Grunde unmenschliche Zustände zu helfen, sie im Sinne der herrschenden Verhältnisse zu subjektivieren und gegebenenfalls zu pathologisieren?

    Die Intervention der NGfP von 2014 in die Kampagne der Bundeswehr und der Bundespsychotherapeutenkammer, deren Ziel es war, die Psychotherapeuten in die Kriegsvorbereitung einzuspannen, hat mit ihrer begrenzten Wirkung gezeigt, wie weit das Bewusstsein dieser Gruppe der Intellektuellen von der Wahrnehmung der Bedrohung entfernt ist.

    Müssen wir nicht das zentrale »Befriedungsverbrechen« der Intellektuellen darin sehen, als »Meinungsmacher« die für die Aufrechterhaltung dieser Zustände nötigen »Erklärungen« zu liefern?

    Zugleich liegt in der Möglichkeit der Kritik dieser »Erklärungen« der Ansatzpunkt für unsere Arbeit. Es geht erst einmal und auf weite Strecken um das Benennen der Zusammenhänge.

    Wir danken den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kongresses für ihre engagierten Diskussionen, den Moderatorinnen und Moderatoren und ebenso unseren Helferinnen und Helfern. Zum Gelingen des Kongresses haben besonders – manche sichtbar tatkräftig, manche eher im Hintergrund – beigetragen: Josef Berghold, Claudia Biehl, Almuth Bruder-Bezzel, Daniel Jakubowski, Benjamin Lemke, Bernd Leuterer, Karsten Münch, Julia Kansok-Dusche, Werner Köpp, Rasmus Overthun, Anton Perzy, Georg Rammer, Milena Wolski und Raina Zimmering. Jeanine Meerapfel hat dankenswerter Weise ihren Dokumentarfilm Wer sich nicht wehrt, kann nicht gewinnen gezeigt. Goetz Steeger und Tobias »b.deutung« Unterberg sorgten mit ihrem wundervollen Konzert für einen eindrucksvollen Ausklang des Kongresses. Wir danken ihnen herzlich.

    Nicht zuletzt bedanken wir uns bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die Unterstützung des Kongresses.

    Nota bene: Wir folgen in diesem Band einer historischen Zitierweise. Bei Quellenangaben im Text gibt die zuerst genannte Zahl das Jahr der Erstveröffentlichung an. Folgt auf einen Schrägstrich eine weitere Zahl, wird damit das Veröffentlichungsjahr der zitierten bzw. der vom Autor verwendeten Auflage bezeichnet. Die etwaig darauffolgend angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die verwendete Auflage. Auch im Literaturverzeichnis folgt die Zitierweise diesem Muster: Nach dem Autor bzw. der Autorin ist zunächst das Jahr der Erstveröffentlichung und nach dem Schrägstrich das Jahr der verwendeten Auflage aufgeführt.

    Klaus-Jürgen Bruder

    »Stützen der Gesellschaft« – Die Position der Intellektuellen im Diskurs der Macht.

    Die letzten Tage und Wochen vor dem Kongress »Krieg nach innen, Krieg nach außen – und die Intellektuellen als »Stützen der Gesellschaft«?² haben das Thema bereits scharf illustriert: Der Krieg scheint das wichtigste Feld unserer Politiker zu sein, die letzte Form ihrer Kommunikation. Wenn nichts mehr geht, so geht immer noch »Krieg!«: Die Kriegsdrohung gegen Russland hat noch nichts an ihrer Gefährlichkeit eingebüßt³ – im Gegenteil, da wird schon die Interventions-Drohung gegen Venezuela gerichtet, der Putschist als Staatsmann herumgereicht.⁴

    Das geht sogar den rechten Regierungen Latein-Amerikas zu weit.⁵ Sie wissen inzwischen sehr gut – nicht erst seit dem Krieg in Syrien: Kriege werden immer gegen die Bevölkerung geführt – auch gegen die Bevölkerung des kriegstreibenden Landes.

    Dem beabsichtigten Völkerrechtsbruch (Paech, 2019)⁶ geht die Zerstörung der Demokratie im Inneren voraus: Den »Rückfall in koloniale Praxis« (Norman Paech, ebd.)⁷ kann sich nur eine Kolonialmacht leisten, beziehungsweise eine, die diesen Status anstrebt und auch innenpolitisch vorbereitet.⁸

    Diese Kriege sind nur möglich, wenn dem Krieg nach außen ein Krieg im Inneren sekundiert. Wenn die Straßen nach Osten Panzerfest gemacht werden, wenn der Transport von Kriegsmaterial Vorfahrt vor dem zivilen bekommt, sind die Verspätungen bei der Bahn, Staus auf den Autobahnen also Kriegstribute auf Kosten der Bevölkerung (IMI-Analyse. 1/2019).

    Welche Rolle spielen die Intellektuellen dabei? Welche Rolle ist ihnen dabei zugedacht? Wie sehen sie sich selbst, ihre Rolle und ihre Funktion? Die Frage unseres Kongresses (dieses Jahr).

    Stützen der Gesellschaft – diese Bezeichnung haben wir von einem Bild von George Grosz (1893-1959) aus dem Jahr 1926 übernommen.¹⁰

    Wir sehen: vornedran der Akademiker, vielleicht ein Arzt oder Apotheker, Rechtsanwalt oder Lehrer, ausgestattet mit den Insignien der Macht und den Malen der Unterwerfung: mit Schmiss, Säbel und Hakenkreuz; hinter ihm der Politiker (Sozialdemokrat) und der Journalist, und wiederum hinter diesen der Pope und das Militär.¹¹

    Grosz hatte mit diesem Bild der Weimarer Republik den Spiegel vorgehalten: Die Stützen der Gesellschaft sind die des alten Regimes.¹²

    Die Intellektuellen selbst verstehen sich ja gerne als kritische Mahner ihrer Zeitgenossen, als Gewissen der Gesellschaft:¹³

    Diese Darstellung entspricht dem Selbst-Bild der Intellektuellen viel besser. Sie zeigt die Top Ten der »500 wichtigsten Intellektuellen Deutschlands«, zum 1. Mal erschienen 2006 in der Zeitschrift »Cicero«, hier der Stand von 2016. Der Urheber dieser Liste: der Berliner Ökonom und Politikwissenschaftler Max A. Höfer.

    Wie ist diese Liste zustande gekommen? Die Grundlage bilden die 160 wichtigsten deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften. Aus diesen wird erhoben, wie häufig auf die einzelnen Personen Bezug genommen wird. Sodann werden in einer Internetrecherche deren Zitate erfasst und Treffer in der wissenschaftlichen Literaturdatenbank »Google Scholar« gezählt. Schließlich wird ihre Vernetzung anhand von Querverweisen im biografischen Archiv Munzinger festgestellt.

    Wird damit – mit dieser Methode der Erhebung der »wichtigsten Intellektuellen« Deutschlands nicht gerade ihre Rolle (Funktion) als Stützen der Gesellschaft bestätigt? Die Intellektuellen als diejenigen, die die Medien uns als solche präsentieren?

    Die Intellektuellen als Geschöpf der Medien, die ihre Bedeutung erst dadurch erlangt haben, dass die Medien sie uns als diese zeigen: die »wichtigsten Intellektuellen«.

    Ausgerechnet die Medien! – jene »Vierte Gewalt«, deren Gewalt (Macht) darin besteht, dass sie die Ideen der Herrschenden zu herrschenden Ideen machen – und dafür sorgen, dass diese es bleiben.

    Die Medien sind der Bezugspunkt und der bevorzugte Ort der Intellektuellen – als Stützen der Gesellschaft.

    Stützen der »Gesellschaft«? – Das sind die Intellektuellen natürlich nur in dem Sinn, dass sie die Herrschaft der Minderheit der Herrschenden über die Gesellschaft stützen. Sie sind ja selbst Teil der Gesellschaft nur (aber) »privilegierter« Teil – daher die Nähe zu den Herrschenden, weitgehend freigesetzt von schweißtriefender Arbeit, ausgestattet mit den Instrumenten und Mitteln der Produktion von Wissen (und seltener deren Distribution) und der dafür nötigen Zeit.

    Ihre Bedeutung können sie erst entfalten, wenn und soweit nicht nur die Herrschenden, sondern diese Gesellschaft es ihnen gestattet, erlaubt, möglich macht. Sie brauchen eher die Gesellschaft als ihre Stütze, als dass sie umgekehrt Stützen der Gesellschaft wären.

    Die Gesellschaft ist ja frei, die Ideen der Herrschenden als die ihren zu betrachten, aber daran arbeiten die Intellektuellen, das ist ihre Aufgabe, Funktion.

    »Stützen« der Gesellschaft sind die Intellektuellen also aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position zwischen den 99% der vergesellschafteten Individuen und dem herrschenden Rest – oder: zwischen dem Wolf und den Gänsen, wie es die Figur auf dem Brunnen im Hof des Domes zu Regensburg zeigt:¹⁴ Wir sehen das Denkmal des Intellektuellen: Ein Mönch, der den Gänsen predigt. Predigen, das ist eine der, wir könnten sagen die Aufgabe(n) des Intellektuellen.

    Seine Funktion sehen wir, wenn wir um die Figur herum gehen:

    Hier zeigt er sein »wahres Gesicht« würden wir sagen: Seine Predigt dient dazu, die Gänse anzulocken, um sie dem Wolf auszuliefern, ihr Vertrauen zu gewinnen und es zu missbrauchen.

    Wir sehen hier die Skulptur der Bourdieuschen Formel:

    durch Zeigen S2 (Signifikant)

    verstecken S1 (Signifikat)

    beziehungsweise:

    durch Reden S2 (Signifikant)

    verschweigen S1 (Signifikat)

    Während er zu den Gänsen spricht S2 (Signifikant)

    versteckt er den Wolf, der sie erwartet S1 (Signifikat)

    Die »Doppelzüngigkeit«¹⁵ des Mönchs entspricht seiner Zwi­schen­position: zwischen den Gänsen und dem Wolf:

    »Zwischenposition« zwischen gegensätzlichen Interessen – der Wolf möchte die Gans, aber die Gänse wollen nicht vom Wolf gefressen werden.

    Diese Zwischen-Position ist die Position der Medien (M): zwischen den Herrschenden und der Bevölkerung.

    Schema des Diskurses der Macht¹⁶

    K: der »Wolf«, [Position des »Herrn« (Kaiphas)¹⁷ – der Platz des »Anderen«, das Unbewusste bei Lacan]

    M: der »Mönch«, [Position der »Magd des Herrn«] die Medien – auf dem Platz des Subjekts im Diskurs des Anderen bei Lacan]

    P und C: die »Gänse«, (Positionen des »Ich« und des »anderen« bei Lacan), stellvertretend für die Bevölkerung.

    Die Medien zeigen diese Interessen-Gegensätze auf der Ebene des Diskurses, das heißt sie verstecken sie, indem sie (andere) Erklärungen der Politik der Herrschenden aufkleben:

    durch Erklärungen S2 (Signifikant)

    verstecken S1 (Signifikat)

    indem sie andere Gründe vorbringen, für das Handeln der politisch Verantwortlichen, für deren die Fehler, andere Ursachen für das Unheil, das aus ihren Fehlern folgt.

    Mit orwellschen Verdrehungen waschen sie die Verantwortlichen von ihren Verbrechen rein, die diese sich auf Kosten der Bevölkerung geleistet hatten oder dies vorhaben; als »Weißwäscher« bezeichnet sie Brecht deshalb, als TUIs¹⁸

    Die FAZ bringt täglich überwältigendes Anschauungsmaterial dafür. Eine »Glanzleistung« stammt vom 08.02.19: »Wer ist der Putschist?« fragt Tjerk Brühwiller in einem Beitrag zu Venezuela. Nach vielen abenteuerlichen Hasensprüngen kommt er zum glorreichen Ergebnis: »Bei Guaidos Vorgehen handelt es sich eben nicht um einen kalkulierten Putschversuch, sondern um den Versuch, zur Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren«.

    Die TUIs stellen sich damit »auf die andere Seite der Barrikade« – einer die längste Zeit unsichtbaren, aber keineswegs weniger wirkungsvollen Barrikade. Sie verkaufen Meinungen (Brecht).

    Im Konzept des »two-step flow of communication«¹⁹ wird das Verstecken der Interessen-Gegensätze noch einmal versteckt – indem es – als allgemeines Phänomen der »Massenkommunikation« behauptet wird.

    Die »Zwischenposition«, die die Intellektuellen – oder sagen wir besser: die Akademiker – besetzen, ist auch außerhalb der Medien im engeren Sinne ihre Position, zum Beispiel die der Psychotherapeuten. Damit sind wir bei uns selbst und der Frage der Verantwortung der Psychologen – als Stützen der Gesellschaft: Basaglia et al.²⁰ hatten von ihnen als »Befriedungsverbrecher« gesprochen. Die NGfP hatte mit ihrer »Stellungnahme zur Psychotherapie von Soldaten« gegen den Missbrauch der Therapie (von Soldaten, die wieder an die Front geschickt werden sollen) auf

    ihrem Symposium »Trommeln für den Krieg« vom 8. März 2014 protestiert.²¹

    Auch in der aktuellen Diskussion über die Rückkehr des Autoritarismus (Autoritären)²² nehmen Teile der Intellektuellen die Rolle von Stützen der Gesellschaft ein, indem sie dem wachsenden Rechtsradikalismus einen Autoritären Charakter supponieren. Wieder sehen wir das bekannte Verhalten: Sie benutzen ihre Zwischenposition zur Wende nach der anderen Seite:²³ Die Schuld (für das Versagen der Stützen der Gesellschaft) finden sie wie immer beim »Volk« – statt die Wiederkehr des alten Regimes in den Parolen des »Neo-« zu benennen: des neo-liberalen, neo-konservativen, oder des anti-»ewig-gestrigen«, anti-dogmatischen, oder gar anti-faschistischen, auf jeden Fall antikommunistischen – Diskurses.

    Nicht ein »Charakter« ist der Grund der Rechtswende, sondern diese ist die Folge der Parolen (S2), mit denen sie ihre Politik (S1): der Enteignung und der Zerstörung des Politischen, legitimieren – und: des »Ernst-Nehmens« der Parolen.

    Was der Charakter dazu beiträgt- Riesman hatte das bereits in den Fünfzigerjahren ausgeplaudert, als er den Typus des »außen-geleiteten« (Riesman 1950)²⁴ diagnostizierte, was nichts anderes ist, als dem Diskurs der Macht folgend – dem Diskurs der Medien.

    Derrida (1993)²⁵ hat diesen Diskurs nicht ohne Grund einen »herrschsüchtigen« genannt: er »organisiert und beherrscht überall die öffentliche Kundgebung, die Zeugenschaft im öffentlichen Raum« (ebd. S. 90f). »Dank der Vermittlung der Medien« [»M«] werden die unterschiedlichen Diskurse der politischen Klasse, der massenmedialen Kultur und der akademischen Kultur miteinander verschmolzen«. »Sie kommunizieren und zielen in jedem Augenblick auf den Punkt der größten Kraft hin, um die politisch-ökonomische Hegemonie und den Imperialismus [»K«] zu sichern« (Derrida, 1993/95, S. 91)

    Der Ort des Diskurses der Macht ist der Bezugspunkt und der bevorzugte Ort der Intellektuellen – als Stützen der Gesellschaft.

    Die Zwischenposition ist allerdings nur die Bedingung der Möglichkeit, für die Funktion als Stützen der Gesellschaft. Sie ist zugleich auch die Bedingung der Möglichkeit, die Richtung des Diskurses umzudrehen: von den Gänsen zum Wolf. Indem sie sich »mit denen in Solidarität verbünden, die sich gegen die Herrschaft der herrschenden Minderheit zur Wehr setzen, und indem sie ihnen das Wissen zur Verfügung stellen, das sie ursprünglich im Dienste biopolitischer Bemächtigung und ökonomischer Ausbeutung produziert hatten. Damit unterlaufen sie subversiv diese Wissensproduktion und wirken zugleich mit ihrer eigenen Selbstbefreiung aus ihrer Indienstnahme durch die heteronomen Zwecke der Kapitalakkumulation« an der Selbstbefreiung derer mit, die sich gegen die Herrschaft der herrschenden Minderheit zur Wehr setzen – sprich: der sozialen Revolution« (s. Voßkühler 2019).²⁶

    Der Autor

    Klaus-Jürgen Bruder, Prof. Dr. phil. habil., ist Psychoanalytiker, Professor für Psychologie an der Freien Universität Berlin und erster Vorsitzender der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP). Wichtigste Publikationen: Lüge und Selbsttäuschung (mit Friedrich Voßkühler, 2009, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht), Subjektivität und Postmoderne. Der Diskurs der Psychologie (1993, Frankfurt/M.: Suhrkamp), Jugend. Psychologie einer Kultur (mit Almuth Bruder-Bezzel, 1984, München: Urban & Schwarzenberg) und Psychologie ohne Bewußtsein. Die Geburt der behavioristischen Sozialtechnologie (1982, Frankfurt/M.: Suhrkamp).

    Michael Schneider

    Die Medien-Intellektuellen und der Kreuzzug gegen die Aufklärung und die konkrete Utopie

    Quotendiktatur und anonyme Zensur

    Der Schlachtruf des Neoliberalismus »Alle Macht den Märkten!« bedeutet auch für die Multimedia-Industrie Markterweiterung um jeden Preis. Infolgedessen wird heute die Programmpolitik der großen Multimedia-Konzerne gnadenlos dem Diktat der Quote unterworfen.

    Durch das Privateigentum an den Medien und die Patronage der großen Werbekunden erfolgt eine generelle Anpassung der Programmausrichtung an die Bedürfnisse der großen Firmen, denen die Medien Marktsegmente potentieller Verkäufer vermitteln. Der Marktwert eines Mediums aber wird von seiner Profitrate bestimmt, und diese hängt im Wesentlichen vom Volumen und der Kaufkraft der veräußerbaren Marktsegmente ab, welche die Tarife der Werbezeiten bestimmen. Das zentrale Operationsziel des Massenmediums liegt daher in der Erhöhung der Zahl seiner Hörer, Leser oder Zuschauer, nicht in einem breiten Angebot hochwertiger Unterhaltung und Information. Sendungen, die wenig Publikum anziehen, das heißt vor den anonymen Zensurinstanzen der Einschaltquoten und »ratings« versagen, finden keine Werbefinanzierung und fallen früher oder später aus dem Programm heraus. Das Programm-Resultat dieser kommerziell-quantitativen Logik ist der sichere Dreischnitt zum Profit der Aktionäre: Sport, Gewalt (Krimis) und Sex. Diese sind denn auch zum wahren »Opium des Volkes« geworden. Kanäle, die täglich 24 Stunden Sportereignisse, Musik- und Videoclips übertragen, seichte Serien, vor allem Krimis und Thriller, Soaps, endloses Talkshow-Gequassel, Zeichentrickfilme für Kinder und Warenverkauf per Bildschirm (telemarketing) zusammen mit »interaktiven Programmen«, bei denen dem Zuschauer bei Anruf des entsprechenden Kanals ein Gewinn versprochen wird, komplettieren das von den Kommunikationsexperten und Programmdirektoren zusammengestellte »Menu« und besetzen wohl über neunzig Prozent der Sendezeiten für die Bewohner des »global village«. Der sogenannte »Pluralismus des Programmangebotes«, der durch eine Vielzahl neuer TV-Kanäle scheinbar beglaubigt wird, ist pure Augenwischerei. In Wahrheit herrscht eine betäubende Einfalt und was nicht passt, wird passend gemacht.

    Mit der Herausbildung der weltumspannenden Multimedia-Konzerne im »global village« hat sich der Kampf um Marktanteile derart verschärft, dass auch die öffentlich-rechtlichen Sender immer mehr unter Druck geraten sind und die Quote zu ihrem obersten Leitprinzip erhoben haben, auch wenn ihre Programmchefs dieses Faktum brutum noch so sehr zu bemänteln suchen. Auch das ZDF und die ARD- Anstalten sahen sich, angesichts der Konkurrenz der zahllosen privaten Anbieter, gezwungen, ihre Programmgestaltung in vielen Bereichen derjenigen der privaten Schmuddelsender anzupassen, unter anderem durch Ausweitung der Talkshow-Programme, durch Einkauf trivialster TV-Serien und Soaps, durch Kürzung oder Streichung kritischer Nachrichtenmagazine, Reportagen und Features. Ähnliches gilt für den Rundfunk.

    Die Diktatur der Quote aber hat letzten Endes eine viel nachhaltigere und wirksamere Zensur (und Selbstzensur) im Gefolge, als jede staatliche Zensurbehörde sie durchzusetzen vermöchte. Denn sie vollzieht sich anonym, vermittelt nur über den Druck und die »natürliche Auslese« des Marktes, darum ist sie auch schwerer fassbar und angreifbar als die klassische Zensur einer staatlichen Aufsichtsbehörde. An deren Stelle ist heute die anonyme Zensur des Marktes getreten, die sich als Schere im Kopf der meisten Medienmacher reproduziert.

    Die Medien als vierte Gewalt im Staate nehmen denn auch immer weniger ihre kritische und aufklärerische Kontrollfunktion wahr, die ihnen das Grundgesetz zuweist. Unter dem Diktat der Einschaltquote und der Auflagensteigerung degenerieren sie vielmehr zu Agenturen einer globalen Unterhaltungs- Zerstreuungs- und Verdummungsindustrie. Gehaltvolle Berichterstattung und Kultur aber, die der Aufklärung und kritischen Selbstverständigung der Bürger dienen könnte, rutschen ab ins Dritte Programm, ins Nachtprogramm oder in die exklusiven Minoritäten-Programme (Arte, 3sat, Phoenix); denn sie drücken die Einschaltquote. Im Rauschen der multimedialen Bilder- und Informationsflut, die uns Tag für Tag berieselt, wirken die wenigen gehaltvollen Sendungen und Berichte wie Tropfen im Ozean.

    Medienmogule und Meinungsmonopole

    Die verschärfte Konkurrenz auf dem Medien- und Printmarkt und der verschärfte Kampf um die Marktanteile führen – wie auch in anderen Bereichen der freien Wirtschaft – zu gigantischen Konzentrationsprozessen, mit dem Resultat, das heute wenige Medienmultis und Medienmogule den internationalen Unterhaltungs- Informations- und Meinungsmarkt beherrschen.

    Rupert Murdoch beispielsweise, ein wahrhaftiger »global Player«, beherrscht siebzig Prozent des Zeitungsmarktes in Australien, vierzig Prozent des Zeitungsmarktes in Großbritannien (unter anderem gehört ihm das mächtige Boulevardblatt The Sun), 25 Prozent des amerikanischen Fernsehmarktes, den größten Satellitensender ­Asiens, der von Israel bis Kamtschatka sendet, den kompletten Pay-TV-Markt in England und eines der größten Hollywoodstudios, von seinen Buchverlagen, Multimedia-Aktivitäten und Zeitschriften ganz zu schweigen. Murdoch ist so mächtig, dass er ganze Regierungen kaufen kann. Mit seinen Preiskriegen zwang er alteingesessene und ehrwürdige britische Blätter in die Knie. Ähnlich liegen die Verhältnisse beim amerikanischen Medienmogul Ted Turner. Die Einschaltquoten des Nachrichtenkanals von CNN liegen derzeit bei ca. hundert Millionen Haushalten in 210 Ländern. Durch die Fusion von Time Warner Inc. und Turner Brodcasting System Inc. mit dem Internet-Dienstleister AOL entstand der größte Medienkonzern der Welt.

    Die grundgesetzlich verankerte Presse- und Informationsfreiheit – droht sie nicht, angesichts des gezielten Einsatzes globaler Medienmacht, zu einem rührenden Anachronismus, zu einem altehrwürdigen Residuum aus dem liberalen Ideenfundus der bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts zu werden?

    Am Beispiel des Golfkrieges von 1991 konnte man sehen, wie die US-Propagandalügen und die Bilder der vom Pentagon zensierten Kriegsberichterstattung, die per CNN um den Globus gingen, die Weltöffentlichkeit manipulierten, bis auch der letzte deutsche TV-Moderator und Nachrichtensprecher und das letzte deutsche Käseblatt die Propagandalügen des Pentagons, unter anderem bezüglich der sog. Brutkastenlüge, gehorsamst wiederkäuten. Im Falle des Golfkrieges von 2003 allerdings konnte – dank der allzu offenkundigen Lügen der Bush-Regierung und der vielen Patzer der US- Propagandaabteilungen, vor allem aber dank der massiven Mobilisierung und Aufklärung einer weltweiten Friedensbewegung – dieser globale mediale Konsens nicht mehr hergestellt werden. Ein Hoffnungszeichen für die Zukunft!?

    Umso durchschlagender war die multimediale Gleichschaltung im Falle des NATO-Krieges gegen das serbische Rest-Jugoslawien gewesen, ein Krieg, der ebenfalls ohne die UNO und »out of area«, ohne Kriegserklärung und völkerrechtliche Grundlage geführt wurde. Der mediale Konsens, dass es sich hierbei um einen »gerechten Krieg« zur Verhinderung einer »humanitären Katastrophe« handle, wurde in den »freien Demokratien des Westens« so flächendeckend und effizient durchgesetzt, wie man es sonst nur von totalitären Regimen kennt. Dieser Konsens erstreckte sich über das gesamte Rechts- Liberal- Pseudolinks- Spektrum, welches von Axel Springers Imperium über Rudolf Augsteins Nachrichtenblatt, über den Tagesspiegel, die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit bis zur taz reichte. Und hätten zwei mutige Redakteure des kritischen ARD-Magazins »Monitor« nicht vor Ort nachrecherchiert, hätte die deutsche Öffentlichkeit wohl nie erfahren, dass es sich bei etlichen »Dokumenten« und »Beweisstücken«, mittels derer Rudolf Scharping bei seinen täglichen Pressekonferenzen der deutschen Öffentlichkeit zu suggerieren suchte, im Kosovo gehe es darum, ein »zweites Auschwitz« zu verhindern, um manipulierte und getürkte Propaganda-Materialen der albanischen paramilitärischen Organisation UÇK und der ihr nahestehenden Geheimdienste handelte.

    Die neuen Medien-Intellektuellen

    Die medial gesteuerte Öffentlichkeit hat auch das Bild und die Rolle der Intellektuellen radikal verändert, wie Régis Debray in seinem Aufsehen erregenden Buch I.F. Suite et Fin (Paris 2001) dargelegt hat. (Die Abbreviatur I.F. steht für »intellectuel français«, also »Französische Intellektuelle«) In groben Zügen zeichnet Debray die Karriere des französischen Intellektuellen vom »ursprünglichen Intellektuellen« (»intellectuel original«, I.O.) zum »endgültigen Intellektuellen« (»intellectuel terminal«, I.T.) nach – eine Diagnose, die sich problemlos auch auf die Karrieren deutscher Intellektuellen beziehen ließe. Mit den »ursprünglichen Intellektuellen« verbindet sich die Affäre Dreyfus, in der auch der Begriff des Intellektuellen als Kampfbegriff geprägt worden ist. Bekanntlich setzte sich der Schriftsteller Émile Zola damals gegen die Übermacht der öffentlichen Meinung wie fast der gesamten Elite in Wirtschaft, Staat und Militär für den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus ein, der zu Unrecht des Landesverrats bezichtigt und in einem unbeschreiblichen Militärstrafverfahren verurteilt worden war. Zola wurde mit seinem berühmten J’Accuse…! Stilbildend, nicht nur für das intellektuelle Frankreich. Er und viele andere europäische Intellektuelle und Schriftsteller standen für Aufklärung und Emanzipation, Autonomie und Kritik und bildeten – obschon machtlos – eine Gegenmacht zur Realpolitik und zum herrschenden Konsens.

    Der »endgültige Intellektuelle« dagegen – so Debray – ist keine Gegenmacht mehr, er steht nicht mehr für eine »dritte Sache«, er streitet nicht mehr für eine alternative und gerechtere Gesellschaftsform, sondern er wechselt seine geistigen und politischen Magazine im Rhythmus der Konjunktur aus, um am Mainstream teilzuhaben. So wird er zum Bestandteil des Betriebs der Mächtigen in den Medien, beziehungsweise zum Sprachrohr der Eliten in Politik und Wirtschaft. Er ist zum Medienintellektuellen geworden, der erstens sich selbst verkauft und vermarktet, und zweitens das, was der Betrieb verlangt.

    Zu den derzeit bekanntesten Medienintellektuellen der französischen Szene gehören Bernard-Henri Lévy, André Glucksmann und Philippe Sollers, die sich in allen Gazetten und Medien mit ihren pfannenfertigen Instant-Meinungen, seichten Hypothesen und Fast-Think-Prognosen tummeln. Leicht lassen sich zu ihnen die zeitgenössischen deutschen Pendants aufzählen.

    Exemplarisch, ja, unübertroffen für den flinken Wechsel von Meinungen und Ansichten im Gezeitenwechsel der politischen Konjunkturen ist der ehemalige Kursbuch-Herausgeber Hans-Magnus Enzensberger. Alles erlaubt, außer schlecht geschrieben? Den Ruf als wendigster Intellektueller der Bundesrepublik Deutschland hat sich der Essayist und Schriftsteller Enzensberger über Jahrzehnte hinweg erworben. Nicht von ungefähr wählte er schon früh den »fliegenden Robert« zu seinem Schutzheiligen und Markenzeichen: »Eskapismus, ruft ihr mir zu/ vorwurfsvoll.

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