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Der Gerichtsgutachter: Roman
Der Gerichtsgutachter: Roman
Der Gerichtsgutachter: Roman
eBook276 Seiten3 Stunden

Der Gerichtsgutachter: Roman

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Über dieses E-Book

»Georg hatte ein feines Gespür dafür, aus kleinsten Bemerkungen, ja einzelnen Worten, Unausgesprochenes, Hintergründiges herauszulesen, so ähnlich wie Archäologen einen Knochen finden und daraus die Gestalt des ganzen restlichen Menschen rekonstruieren. Das faszinierte und beunruhigte Claire zugleich.«

Täglich bewertet Gerichtsgutachter Georg Förster seine Fälle: Mörder, Räuber, Drogensüchtige. Er weiß ihren Verfehlungen auf den Grund zu gehen. Er erstellt Diagnosen, Kriminalprognosen und begutachtet ihre Schuldfähigkeit. Von niemandem lässt er sich vorführen. Zu gut kennt er die Abgründe der menschlichen Psyche. Doch der kühle Georg wird aus der Bahn geworfen, als er mit einem neuen Gutachtenfall beauftragt wird: Ein Schönheitschirurg soll Frauen unter Drogen gesetzt und sie anschließend operiert haben. Für Georg wird der Fall schließlich zur emotionalen Achterbahnfahrt. Beruf und seine Beziehung zu der 17 Jahre jüngeren Claire werden infragestellt, als Claire entdeckt, dass er ein großes Geheimnis hat...

Ein Kriminalroman.
Eine fatale Beziehungsgeschichte.
Ein Einblick in die Untiefen des Rechtssystems.
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Mehr zum Gerichtsgutachter: https://www.dergerichtsgutachter.de

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Der Gerichtsgutachter liest:

alle Termine auf: https://www.dergerichtsgutachter.de/
SpracheDeutsch
HerausgeberOmnino Verlag
Erscheinungsdatum28. Feb. 2021
ISBN9783958941731
Der Gerichtsgutachter: Roman
Autor

Georg Schreiber

Georg Schreiber wurde 1961 in Angermünde (Brandenburg) geboren und wuchs in Ostdeutschland auf. Er studierte an Universitäten in Jena, Leipzig, Berlin und in Cambridge/USA (Harvard). Er war als Psychologe u.a. als Dozent an der Freien Universität Berlin und leitender Psychologe einer Rehaklinik tätig, betrieb eine Praxis für Körperpsychotherapie und ist seit vielen Jahren selbstständiger Gerichtsgutachter. Er lebt in Mecklenburg.

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    Buchvorschau

    Der Gerichtsgutachter - Georg Schreiber

    Impressum

    Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISBN: 978-3-95894-172-4 (Print) // 978-3-95894-173-1 (E-Book)

    © Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2020

    Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

    E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

    Die Handlung ist frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Geschehnissen oder Personen sind rein zufälliger Natur. Dies gilt insbesondere auch für Namen.

    Inhalt

    IAutomatenzug

    IIHarvard

    IIISchmutz

    IVOffenbarung

    VWahrheit

    Aus Falschem folgt Beliebiges

    Logisches Gesetz

    I

    Automatenzug

    Als Georg nach Hause kam, wollte er als Erstes unter die Dusche, um den Dreck und das Elend des Knasts von sich abzuwaschen. Die verkorksten Lebensgeschichten der Gefangenen, diese Geschichten von Gewalt, Missbrauch, Vertrauensbruch, Verwahrlosung, Entwurzelung und Dummheit, die er sich täglich anhörte, über die er nachdachte und von denen er manchmal auch träumte, strahlten auf ihn aus und nahmen ihn gefangen: Er spürte ihre Schwere in seinen Muskeln und seinen Knochen; sie erschöpfte ihn und raubte ihm die Lebensfreude. Nach einem Gespräch von zwei Stunden fühlte er sich, als hätte er einen Tag gearbeitet. War es möglich, so fragte er sich, dass er durch den ständigen Kontakt mit diesen Kriminellen eines Tages selbst zum Verbrecher werden, vielleicht sogar jemanden umbringen könnte?

    Er wäre auch heute zuerst ins Bad gegangen, wenn ihm nicht ein ungewöhnlicher Brief entgegengefallen wäre, als er im Treppenhaus den Briefkasten öffnete. Georg verharrte vor dem Briefkasten und musterte den Brief: Er hatte keine Briefmarke und keinen Stempel. Die Adresse war handgeschrieben. Die Schrift auf dem Umschlag kannte er. Er hatte schon einmal von diesem Mann einen Brief bekommen, das bestätigte ihm ein Blick auf die Rückseite, auf der der Absender stand: Der Mann hieß Lohmeier, ein Häftling, den er vor ein paar Monaten begutachtet hatte. Lohmeier war ein notorischer Querulant und Betrüger, er hatte ein paar Männer und Frauen krankenhausreif geschlagen. Der Brief war anscheinend von ihm persönlich eingeworfen worden – und zwar heute, nachdem Georg das Haus verlassen hatte.

    Im ersten Brief hatte sich Lohmeier beschwert, dass er zu lange auf seinen Termin warten musste, und dafür Georg verantwortlich gemacht. Georg erinnerte sich noch gut daran:

    »Sehr geehrter Herr Förster, vor fünf Wochen wurde mir mitgeteilt, dass Sie bezüglich meiner beantragten Bewährungsentlassung zum Gutachter bestellt wurden. Man sollte seinen Sachverständigen nicht angreifen, um sich noch eine Chance auf eine annährungsweise objektive Begutachtung zu erhalten. Durch ihre unverschämte Terminpraxis lassen Sie mir aber keine andere Wahl. Mein Entlassungstermin ist bereits verstrichen.«

    Da hatte er zwar recht, das sollte nicht vorkommen, es spielte allerdings nur eine Rolle, falls die Richterin ihn tatsächlich nach zwei Dritteln der Haft auf Bewährung entlassen wollte. Und Richterin Decker hatte offensichtlich nicht diese Absicht. Woher war der sich so sicher, dass er rauskommen würde?

    Georg hatte ihm am Telefon gesagt, dass ihm noch die Hauptakten zu seinem Fall fehlten, und solange er die nicht hatte, machte ein Gespräch wenig Sinn. Er hatte ihn darauf vorbereitet, dass er sich eventuell noch ein paar Wochen gedulden müsste; so lange konnte es schon mal dauern, bis jemand bei der Staatsanwaltschaft den Aktenstapel aus dem Regal zog.

    Genervt und nichts Gutes ahnend öffnete Georg den neuen Brief. »Durch ihr grob fehlerhaftes Gutachten ist meine Entlassung abgelehnt worden.« – Schön, dachte Georg und stieg beim Weiterlesen langsam die Treppe hoch, ist die Richterin also meinem Gutachten gefolgt. – »Sie haben Ihre Sorgfaltspflichten als Sachverständiger grob vorsätzlich verletzt, mit manipulierten Wiedergaben von meinen Äußerungen, wissenschaftlich unhaltbaren Interpretationen der verwendeten psychologischen Tests, fehlerhaften Zitaten aus den Akten und grob fehlerhafter Anwendung von veralteten oder falschen Theorien.« Lohmeier war kein Freund des Genitivs. Es folgten seitenweise Ausarbeitungen seiner These. Er blätterte weiter. »Ein von mir beauftragter Sachverständiger hat Ihr Gutachten geprüft und die von mir aufgezählten Fehler sachlich nachgewiesen. Mein Anwalt bestätigte mir, dass eine vorsätzliche und schuldhafte Verfehlung Ihrerseits faktisch bewiesen ist und das Kammergericht Berlin auf meine fristgerecht eingereichte Beschwerde hin den Gerichtsbeschluss aufheben wird. Ich werde Sie deswegen auf Schadensersatz verklagen. Darüber hinaus erwäge ich strafrechtliche Schritte gegen Sie wegen Erfüllung des Tatbestandes nach § 186 StGB.«

    Hm, den § 186 des Strafgesetzbuches kannte Georg nicht auswendig, dazu musste er nachschlagen. Er nahm die letzten Stufen bis zu seiner Wohnung im zweiten Stock nun sehr schnell, schloss zügig die beiden Sicherheitsschlösser seiner Wohnungstür auf, ließ die große Flügeltür krachend zuschlagen und ging schnurstracks ins Arbeitszimmer zum Bücherregal, um den Schönfelder zur Hand zu nehmen. Er schlug den Wälzer auf. »Wollen wir mal sehen. § 186 StGB«, murmelte er vor sich hin, während er blätterte, »§ 174 sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, § 177 sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, § 180 Ausbeutung von Prostituierten, § 183 Exhibitionistische Handlungen, § 186 üble Nachrede.« Das war es also. Es irritierte ihn etwas, dass die üble Nachrede so dicht auf exhibitionistische Handlungen folgte; er hätte da spontan keine inhaltliche Nähe gesehen. Bei genauerer Betrachtung entdeckte er nun doch Gemeinsamkeiten: Die Missetäter lehnten sich gewissermaßen zu weit aus dem Fenster, in dem einen Falle mit Worten, in dem anderen mit etwas anderem. Er las: »Wer in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich oder durch Verbreitung von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.«

    Verbreitung von Schriften! Immerhin hatte er ein hundertzwanzigseitiges Gutachten eingereicht. Öffentlich war die Verhandlung jedoch nicht gewesen. Er hatte auch nicht danach getrachtet, Lohmeier verächtlich zu machen, hatte vielmehr von einem fehlgeleiteten kreativen Potenzial gesprochen, dass es zu nutzen gelte. Und dass seine Ausführungen falsch waren, mochte diesem Querulanten so erscheinen, das Gericht sah dies offensichtlich anders. Was hatte er also zu befürchten? – Nichts!

    Ärger bahnte sich trotzdem an. Der würde vielleicht nicht nachgeben und Recht behalten wollen. Er hatte den Brief in seinen Hausbriefkasten geworfen und war bei dieser Gelegenheit sicherlich auch noch die zwei Treppen bis zu seiner Wohnung hochgestiegen, um sich seine Wohnungstür anzusehen, hatte vielleicht sogar gelauscht, was in der Wohnung vor sich ging. Die Wohnungstür war nicht besonders schalldicht; man konnte in der Wohnung jedes Gespräch im Treppenhaus verfolgen und das galt sicherlich auch umgekehrt. Wenn Georg schon etwas früher nach Hause gekommen wäre, hätte er ihm vielleicht im Hausflur begegnen können, oder wenn er schon zuhause gewesen wäre, hätte er beim Verlassen der Wohnung direkt auf ihn prallen können, hätte mit ihm diskutieren und sich dieser lästigen Schmeißfliege irgendwie entledigen müssen. Nicht, dass er das nicht gekonnt hätte, aber schon die Vorstellung der körperlichen Nähe dieses Menschen ekelte Georg an.

    Er las den Brief zu Ende: »Zum einen möchte ich Ihnen durchaus Gelegenheit dazu geben, hierzu selbst gegebenenfalls eine Stellungnahme abzugeben.« – Unverschämtheit! Der spielt sich auf wie ein Richter, und dann noch so geschraubt! – »Zum anderen wäre ich eventuell für eine außergerichtliche Einigung mit Ihnen bereit, da eine gerichtliche Auseinandersetzung für alle Beteiligten belastend sein kann. Sie verursacht auch nicht unerhebliche Kosten. Sofern Sie sich zu diesem Schreiben äußern möchten, setze ich mir hierzu eine Frist von sieben Tagen. Sollte ich bis zum Ablauf der genannten Frist nichts von Ihnen hören, behalte ich mir die Einleitung von entsprechenden rechtlichen Schritten vor.«

    Was meinte er damit? Glaubte er im Ernst, fragte sich Georg, ich würde ihm einen Brief schreiben, in dem ich mich selbst der groben Fehlerhaftigkeit, Pflichtverletzung und vorsätzlichen Falschdarstellung bezichtigte, mich vielleicht sogar entschuldigte? Warum sollte ich das tun? Und selbst wenn ich das tun würde, was hätte er davon? Es dauerte eine Weile, bis Georg begriff, dass dieser Irre ihn erpressen wollte und der ganze aufgeblasene Text nur eine Tarnung war.

    Georg musste etwas tun, um seinen restlichen Tag zu retten, auch wenn er für Querelen dieser Art nicht bezahlt wurde. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und verfasste ein Anschreiben, das er zusammen mit Lohmeiers Brief postwendend an Richterin Decker faxte.

    Doch auch nachdem er den Brief an das Gericht gefaxt hatte, ließ ihm die Sache keine Ruhe. Konnte er Lohmeier wegen Erpressung rankriegen? Und wie konnte er sich vor einer möglichen Eskalation schützen? Konnte er den Gang der Dinge kontrollieren oder würde er zum Spielball eines Psychopathen werden? Grübelnd schaute er nach draußen in den Schneegriesel vor seinem Fenster.

    Ein Geräusch, das er kannte, ließ ihn zusammenzucken; es bot ihm die Chance, aus seinen paranoiden Betrachtungen herauszukommen und nicht weiter in eine düstere Gemütslage abzugleiten: Es war der Klingelton seines Handys. – Wollte er das jetzt? Er fühlte sich gestört, der Ton nervte; wie oft hatte er schon einen anderen auswählen wollen und es schließlich unterlassen, weil er festgestellt hatte, dass er diesen Singsang aus hohen und tiefen Tönen auch bei lauten Umgebungsgeräuschen am besten hören konnte. So war es dabei geblieben. – Plötzlich Ruhe. Der Angreifer hatte aufgegeben. Wer war es gewesen? Er suchte das Handy und fand es schließlich in seiner Manteltasche: Es war Claire.

    Unentschlossen legte er das Telefon auf den Küchentisch. Er ging ins Bad und zog sich aus, um endlich zu duschen. Der hellgelbe Kalkstein der Fliesen beruhigte ihn, er versetzte ihn in die Stimmung des letzten Urlaubs in der Provence, wo sie ein ähnlich gefliestes Bad hatten. Noch bevor er die Glastür der geräumigen Duschkabine geschlossen hatte, hörte er wieder das Klingeln aus der Küche. Er öffnete das Ventil des Wasserhahns und wartete ein paar Sekunden, bis das Wasser die richtige Temperatur hatte. Dann trat er unter den mächtigen Brausekopf. Das warme Wasser umhüllte ihn, massierte seine Kopfhaut, seinen angespannten Nacken, die Schultern und rann dann an seinem Körper herab. Das tat gut. Endlich. Dann stellte er das Wasser ab, nahm das Duschgel und seifte sich ein. Er stellte das Wasser wieder an und beobachtete, wie es den Schaum von ihm abspülte und alle Sorgen und allen Dreck mitnahm, mit dem man ihn heute beworfen hatte. Er schaute nach unten in den Abfluss, wie die ganze Sauerei in dem kleinen Loch verschwand.

    Beim Abtrocknen fiel ihm wieder Lohmeier ein. Dann: Da war doch noch was? Aber was? – Noch nackt ging er in die Küche, um sich einen Kaffee aufzubrühen, und sah das Handy auf dem Küchentisch liegen. Er nahm es, um nachzusehen, wer der zweite Anrufer gewesen war. Es war wieder Claire, sie hatte ihm eine Nachricht hinterlassen; er war sich nicht sicher, ob er das jetzt hören wollte. Erst einen Kaffee, anziehen, dann – vielleicht.

    Nach dem Anziehen griff er sich die Süddeutsche und las zur Ablenkung einen der täglichen Schmähartikel über Berlin. Es ging um das Nachlassen des Kulturstandortes, die Theater würden immer schlechter, die Museen immer kleiner und in der Freizeit wüsste man gar nicht, was man noch tun könnte: nicht einmal Ski fahren.

    Das Telefon klingelte wieder, genervt nahm er ab. »Ja!«

    »Störe ich?«

    »Mama! Entschuldige bitte, vielleicht ein bisschen. Ich bin gerade nachhause gekommen und das ist schon der dritte Anruf. – Wie geht es dir?«

    »Mir geht es gut. Ich mach es kurz, um deine Zeit nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen: Einer Freundin von mir, Sibylle Klein, du kennst sie, glaube ich, geht es nicht gut, ihr Mann ist vor einem Monat gestorben und ich mache mir Sorgen um sie, am Telefon klang sie gar nicht gut. Könntest du sie nicht mal anrufen und mit ihr sprechen?«

    Georgs Blutdruck schoss in die Höhe. »Ich kenne sie doch gar nicht. Ist sie depressiv?«

    »Ja, ich glaube.«

    »Vielleicht eine ganz normale Reaktion, wenn der Mann gerade gestorben ist, findest du nicht?«

    »Ich hab gedacht«, sie machte eine Pause, in der sie dramatisch die Luft ausatmete, »weil du Psychologe bist, du könntest mal mit ihr reden.«

    »Wieso besuchst du sie denn nicht? Du kennst sie doch, vielleicht auch ihren Mann, das würde ihr sicherlich viel mehr bedeuten und helfen als ein Anruf von mir.«

    »Hm. Das war’s schon, du sagtest ja, dass du nicht so viel Zeit hättest, da will ich mal nicht weiter stören. – Geht es dir gut?«

    »Jaa, mir geht es gut.« (Und wenn du mich nicht angerufen hättest, dann würde es mir noch viel besser gehen.)

    Georg hätte jetzt ein Telefon aus vergangenen Zeiten gebrauchen können, bei dem man noch den schweren Hörer so richtig auf die Gabel knallen konnte. Einen zu langen Moment erwog er, das Handy gegen die Wand zu werfen. Wie schaffte sie es nur immer wieder, dass er ein schlechtes Gewissen hatte? Jahre des Psychologiestudiums und seiner eigenen Psychotherapieausbildung inklusive einer fünfjährigen Selbstanalyse hatten daran nicht viel geändert. Er wusste zwar, dass er im Recht war, er kannte all die klugen Erklärungen, wo diese Schuldgefühle herkamen, er konnte das auch wunderbar seinen Klienten erklären und hatte damit bei manchen von ihnen erstaunliche Behandlungserfolge erzielt; nur bei ihm selbst half das alles wenig. So kam es ihm jedenfalls an Tagen wie diesem vor.

    Sein Blick fiel auf das kleine schwarze Gerät, das vor ihm auf dem Küchentisch lag und immer noch eine nicht abgehörte Nachricht anzeigte. Er war sich sicher, dass diese Nachricht nur von Claire sein konnte. Er ahnte auch, was sie ihm aufs Band gesprochen haben könnte. Er war sich nur nicht sicher, ob er dafür jetzt die Nerven hätte. Dann atmete er tief durch und drückte auf die grüne Taste.

    »Hallo mein Schatz – ich hab ein ziemlich schlechtes Gewissen wegen gestern; ich war nicht nett zu dir, entschuldige bitte. Ich glaube, ich habe ein paar Dinge zu dir gesagt, die ich so nicht meine. Ich weiß nicht einmal genau, was ich gesagt habe; ich weiß auch gar nicht mehr, warum ich es gesagt habe. Ich war einfach sehr betrunken, du kennst mich ja: Dann sage ich manchmal etwas, was ich so gar nicht gemeint habe; das hat nichts zu bedeuten. Ich, ich … ach Scheiße, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich kann mich einfach gar nicht erinnern, was überhaupt los gewesen ist. Es tut mir jedenfalls sehr leid. Kannst du mir noch einmal verzeihen? Ich liebe dich doch! – Jetzt kann ich dich nicht erreichen, du gehst nicht ans Telefon. Du bist wahrscheinlich sauer. Oder bist du noch gar nicht aus dem Knast zurück? Ich weiß nicht, wie lange man da bleiben darf. Eigentlich ist es ja schon früher Abend. Wenn du das abhörst, dann ruf mich bitte zurück. Ich hab kein Geld bei mir und weiß nicht, wie ich nachhause kommen soll. Kannst du mich vielleicht abholen? Ich muss nachher zum Nachtdienst. Bitte sei nicht mehr böse, mein Schatz. Ich liebe dich.«

    Georgs Herzschlag hatte sich ungefähr verzehnfacht, er war kurz vor Schnappatmung. Er rief sie an: »Was soll denn das heißen, du hast kein Geld bei dir und ich soll dich abholen? Wo bist du denn und was ist mit deinem Geld?«

    »Oh Gott, du bist doch noch sauer. Es tut mir so leid. Ich muss mein Portmonee verloren haben oder es hat mir einer geklaut.«

    »Wo bist du denn?«

    »Moment, warte mal«, Georg hörte Stimmen im Hintergrund, Claire versuchte sie zu übertönen, indem sie in den Raum rief: »Wo sind wir hier? … Na die Adresse?!« Ein Mann antwortete ihr: Eisenbahnstraße 18. »Eisenbahnstraße 18«, sagte Claire ins Telefon, »ich glaube, das ist in Kreuzberg«.

    »Ja, das ist in Kreuzberg«, sagte Georg.

    »Kannst du mich bitte abholen?«

    »Du hast vielleicht Nerven! Ich denke überhaupt nicht daran! – Hast du denn deine Bankkarten schon sperren lassen?«

    »Nein, noch nicht. Meinst du, ich sollte das gleich machen?«, fragte sie mit sanfter Stimme.

    »Nein, natürlich nicht, ich würde noch drei Wochen warten!«

    »Ich wollte heute Abend in der Bar nachfragen, ob sie mein Portmonee gefunden haben oder ob es jemand abgegeben hat.«

    »Na gut, das ist jetzt auch egal, entweder das Konto ist schon abgeräumt oder du hast Glück gehabt.«

    »Also, du willst mich wirklich nicht abholen?«

    »Wieso sollte ich? Nachdem, was du dir geleistet hast? – Habt ihr Sex gehabt?«

    »Hm … äh ich, ich glaube.«

    »Sag jetzt nicht, dass du es nicht weißt!«

    Im Hintergrund hörte Georg die Stimme eines Mannes: »Will er dich nicht abholen? Was is’n das für’n Arschloch?! Kannst auch hierbleiben, wenn de willst.«

    »Das darf ja wohl nicht wahr sein! Ist das der Typ, mit dem du gevögelt hast?«

    »Georg, glaube mir, ich weiß es nicht richtig.«

    »Wer, wer kommt denn noch infrage? Nach Kondomen brauche ich wohl unter diesen Umständen gar nicht erst fragen?!«

    Nun brach Claire in Tränen aus. »Es tut mir so leid, bitte, bitte hol mich hier ab!«

    In Georgs Kopf hämmerte es: »Nein! Nein! Nein, tu’s nicht! Nicht schon wieder. Soll sie zusehen, wie sie da wieder rauskommt. Lass dich nicht zum Hans Wurst machen. Sie muss spüren, dass sie zu weit gegangen ist.« – »Aber«, mischte sich eine andere Stimme ein, die Georg nur allzu gut kannte, »dann bleibt sie bei diesen Typen in der Wohnung! Willst du das? Am Ende vögeln sie nochmal und nehmen noch mehr Drogen und dann weißt du erst recht nicht, was passiert. Zur Arbeit wird sie dann wahrscheinlich auch nicht gehen, und wenn sie eine Stunde vorher dort anruft – wenn sie anruft! – dass sie krank ist, glaubt ihr das kein Mensch. Dann fliegt sie da vielleicht raus und kann ihre Ausbildung an den Nagel hängen.« – »Egal!«, mischte sich wieder die andere Stimme ein, »sie ist für sich selbst verantwortlich, du kannst ihr nicht ewig aus der Patsche helfen. Willst du, dass es so weitergeht, oder willst du, dass sich etwas ändert?« – »Und wo bleibe ich?« Wer war das denn nun, der da sprach? Den hatte Georg schon lange nicht mehr gehört. »Und wo bleibe ich? Ich hab es so satt! Was bildet die sich überhaupt ein! Warum ist die immer wichtiger als ich?« – »Memme! Misch dich jetzt nicht ein, sei ein Mann. Wenn du jetzt rumzickst, wird sie dir das ewig vorhalten: Du hast mich im Stich gelassen, als ich dich so dringend brauchte! Bist auf meinen Schwächen herumgeritten! Wegen dir habe ich jetzt AIDS!«

    »Georg? Georg, bist du noch dran?« Claire schluchzte noch, klang jedoch etwas ernüchtert.

    »Ja, ich bin noch dran.«

    »Oh Scheiße, mein Handy ist alle …«

    »Claire! Claire!« – Nichts.

    »Sie wird doch wohl noch ein anderes Telefon in der Nähe haben?«, meldete sich nun wieder die Stimme von eben. – »Aber ob sie auch deine Nummer weiß? Sie drückt doch immer nur auf deinen Namen.« – »Dann ist es jetzt entschieden, du kannst nichts tun und sie muss sich selbst helfen.« – »Na ja, ich könnte hinfahren, die Adresse hab ich ja.« – »Aber du weißt nicht, wo du klingeln musst.« – »Ich könnte es probieren, vielleicht steht sie ja schon vor der Tür.« – »Bei der Kälte wird sie bestimmt nicht vor der Tür stehen, mach dich nicht zum Hans Wurst!«

    Claire rief nicht mehr an. Drei Tage vergingen, die Georg guttaten. Sie taten ihm so gut, dass es ihn schon beunruhigte. Er dachte nicht einmal oft an sie. Zuerst war er so sauer, dass er froh war, dass sie sich nicht meldete; er hatte eher umgekehrt die Befürchtung, dass sie anrufen oder plötzlich vor seiner Tür stehen könnte oder – noch schlimmer – dass sie bereits in seiner Wohnung sein könnte, wenn er nach Hause käme; schließlich hatte sie einen Schlüssel (falls sie den nicht auch verloren haben sollte!). Dann, als ihm seine Erleichterung auffiel, dass sie sich nicht meldete, fragte er sich, ob er Claire noch liebte.

    Er erinnerte sich noch gut daran, wie sie in seine Praxis kam. Sie duzten sich von Anfang an.

    »Mein Leben ist ein einziges Chaos; ich habe es satt. Manchmal denke ich daran, mich umzubringen«, begann sie mit beachtlicher Klarheit und Festigkeit in ihrer Stimme. »Irgendeine magnetische Kraft zieht mich immer wieder vom geraden Weg des Lebens zur Seite, sosehr ich auch versuche, Kurs zu halten.«

    »Das ist sehr poetisch – und auch ein bisschen abstrakt. Und es klingt

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