Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Nebelmeer #7
Nebelmeer #7
Nebelmeer #7
eBook263 Seiten3 Stunden

Nebelmeer #7

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wir wollen den Misserfolg! Das war die Losung seiner Jugend. Inzwischen ist HP Aufseher in der Hamburger Kunsthalle und bewacht Caspar David Friedrich.
Als sein Jugendfreund Maximilian vermisst wird, macht sich HP auf die Suche und entdeckt: Der klaut mir meine Lebensgeschichte, um seine Biographie zu schreiben!
Ein entführtes Kunstwerk, ein toter Ehemann, ein Zwischenfall mit fiesem Hund und eine Buchmesse, auf der zu viel gelacht wird, stören HPs Suche; ebenso eine Anhalterin, die erklärt: Der Umweg ist das Ziel, Baby!

Lutz Flörkes zweiter Roman gleicht einem Roadmovie – eine ebenso groteske wie erheiternde Irrfahrt durch die Erinnerung, den Stoff, aus dem die Träume sind.
SpracheDeutsch
Herausgeberduotincta
Erscheinungsdatum5. Nov. 2021
ISBN9783946086697
Nebelmeer #7
Autor

Lutz Flörke

Lutz Flörke arbeitet er als Schriftsteller, Literaturperformer und Dozent überall, wo er mit seinen Vorstellungen von Literatur Geld verdienen kann. Er lebt in Hamburg und erhielt Förderpreise der Hansestadt und des Landes Niedersachsen. Er schreibt für Menschen mit Lust am Denken und Spaß am literarischen Spiel mit Figuren, Perspektiven, Sprache. Neben Sachtexten hat er zwei Romane im Verlag Duotincta, Berlin veröffentlicht: "Das Ilona-Projekt", ein Liebes-, Abenteuer- und Reiseroman über die zeitgenössische Sehnsucht nach einem Leben als Hauptperson und den Hunger nach Gerschichten. ISBN-13 : 978-3946086321 "Nebelmeer #7", ein literarisches Roadmovie zwischen Hamburger Kunsthalle und niedersächsischer Provinz. ISBN-13 : 978-3946086680

Mehr von Lutz Flörke lesen

Ähnlich wie Nebelmeer #7

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Nebelmeer #7

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Nebelmeer #7 - Lutz Flörke

    verlag duotincta

    Nebelmeer #7

    L U T Z    F L Ö R K E

    Über den Autor

    Lutz Flörke studierte deutsche Literaturwissenschaft und promovierte zum Dr. phil. Seitdem arbeitet er als Autor, Performer und Dozent überall, wo er mit seinen Vorstellungen von Literatur Geld verdienen kann. Er lebt in Hamburg und erhielt Förderpreise der Hansestadt und des Landes Niedersachsen. Er wendet sich an Menschen, die ebenso offen sind für Populär– wie für Hochkultur, aber beiden misstrauen. Sein Lieblingspublikum hat Lust am Denken und Spaß am Spiel mit Figuren, Perspektiven, Sprache. Sein Debütroman »Das Ilona-Projekt« erschien 2018 bei duotincta.

    www.hamburgerliteraturreisen.de

    für Vera

    1 | Abends in der Kunsthalle

    Anfangen. Ich liebe Anfänge, nur Anfänge. – Am Anfang ist alles frisch und einzigartig. Anfänge mit mir als Hauptperson. Mein Leben besteht aus Anfängen.

    Wir wollen den Misserfolg! Das war einmal ein Anfang. Eben muss ich daran denken. Ruhig drehe ich meine Runde durch die Deutsche Romantik, Runge, Friedrich, Overbeck. Ich denke über Anfänge nach, ruft da plötzlich Dorothée:

    – Wir haben einen Notfall!

    Das ist doch sonst nicht ihre Art, mich bei der Arbeit zu überfallen.

    Sie steht vor dem Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich, Öl auf Leinwand, um 1817. Der Wanderer auf dem felsigen Gipfel wendet ihr den Rücken zu. Dorothée könnte sich über seine Schulter hinweg ebenfalls im Anblick des Nebelmeers verlieren, aber sie ruft:

    – Wir haben einen Notfall!

    – Ich bin Melancholiker.

    – Papperlapapp!

    Melancholie wehrt sich gegen alle selbstgestellten …

    – Papperlapapp!

    – Ich habe mich in die Kunsthalle zurückgezogen aus Gründen der Melancholie …

    Sie unterbricht:

    – Meinst du nicht, dass das einfach in deinem Charakter begründet liegt?

    – Lediglich insofern, als Charakter die individuell gebrochene Spiegelung gesellschaftlicher Zustände meint, entgegne ich.

    Darauf sie:

    – Das ist doch depressiv!

    Darauf wieder ich:

    – Ich habe mich in die Hamburger Kunsthalle zurückgezogen, um mich gegen alle selbstgestellten ebenso wie medial propagierten Forderungen nach einem frohgemuten Sich-Einlassen auf den Abbau eigener Glücks- und Reflexionsmöglichkeiten zu wehren.

    Darauf wieder sie:

    – Papperlapapp.

    Dieses Gespräch hat keinen Sinn. Es hat keinen Sinn, ihr zu erklären, weshalb ich nicht Karriere gemacht habe, dennoch nicht gescheitert bin und mir nichts wünsche, als zu sein, was ich bin, Bodyguard für Caspar David Friedrich. Obwohl mir manchmal Zweifel kommen. Aufseher schauen stumm, sie gehen im Kreis herum, Bilder betteln still um Gunst, ist das noch Kunst?

    Sie läuft mir nach:

    – Es handelt sich um einen Notfall. Ich brauche deine Hilfe.

    Vielleicht sollte ich anders beginnen. Ohne Dorothée. Stürzt da plötzlich eine wildfremde Frau in Gummistiefeln herein. Stolpert auf mich zu und schreit vor dem Wanderer über dem Nebelmeer:

    – Er ist die Treppe hinuntergestürzt.

    In jedem Fall ein dynamischer Anfang. Stürzt plötzlich eine Frau in Gummistiefeln herein, den Mantel eng um sich gewunden, bricht zusammen und haucht mit rauchiger Stimme aus lila Lippen:

    – Er liegt am Fuß der Treppe. Aber ich war’s nicht.

    Zielgenau würfe sie sich in meine Arme. Natürlich wäre das ein Notfall. Museumsbesucher blieben stehen und beobachteten uns. Endlich wäre etwas los zwischen den Bildern. Die Kollegen guckten neidisch; alle Aufmerksamkeit läge bei mir. Ein Anfang als Hauptperson, nicht etwa bloß als Protagonist, sondern als Erzähler einer Geschichte.

    Ereignisse ereignen sich, wie, wann und wo sie sich eben ereignen. Wenn ich sie erzähle, muss ich mich aber nicht ihrer Abfolge unterwerfen. Die Konturen von Ereignissen verdanken sich der Erzählung, in der sie auftreten. Etwa dieser hier. Die Erzählung legt fest, was wir zu den relevanten Ereignissen hinzuzählen und was nicht. Na also! Die Entscheidung über Relevanz und Reihenfolge müssen die Ereignisse mir überlassen.

    HP – Hauptperson und Erzähler in eins.

    – Nun bleib doch endlich stehen, ruft Dorothée, und hör zu!

    Ich verschiebe die hereinstürzende Frau in Gummistiefeln auf ein späteres Kapitel.

    – Dorothée, sage ich, wir hatten so einen schönen Anfang damals.

    – Wir sollten unser Leben nicht mit Rückblenden verschwenden! Weißt du, was dein Freund Maximilian sich geleistet hat?

    Wenn sie Krach mit ihm hat, ist er mein Freund. Zwar kenne ich ihn seit der Schulzeit, aber sie hat mit ihm seit Jahren eine feste freie Beziehung, während ich ihn kaum sehe.

    Sie zieht mich auf die Bank herunter und drückt mir ein Tablet in die Hand.

    – Sieh dir das an!

    Maximilian sitzt an seinem wie stets leergeräumten Schreibtisch. Vor ihm liegt ein Blatt Papier.

    – Und?

    Dorothée startet das Video. Maximilian starrt nach links oben, nach rechts oben, direkt in die Kamera und liest:

    – Wir wollen den Misserfolg.

    Den Satz kenn ich und die folgenden Sätze auch:

    – Wir kennen die Notwendigkeit, Geld zu verdienen; keinesfalls erkennen wir sie an. Wir wehren uns gegen alle selbstgestellten ebenso wie medial propagierten Forderungen nach einem frohgemuten Sich-Einlassen auf den Abbau eigener Glücks- und Reflexionsmöglichkeiten. Wenn Arbeit wirklich so toll wäre, dann würden die Reichen sie für sich behalten, schreibt Mark Twain. Wir wollen den Misserfolg. Wir wollen nicht dem Erfolg hinterherhetzen wie ihr! Kein Burnout, keine Frühvergreisung des Geistes, keine Gesellschaft mit beschränktem Horizont.

    – Der anarchistische Ton passt gar nicht zu ihm, stellt Dorothée fest.

    – Wir haben das gemeinsam geschrieben, damals, sage ich. Unser Manifest, zusammen vorgetragen auf der Abiturfeier. Natürlich hat es keinen interessiert. Als wir fertig waren, haben sie einfach weitergefeiert. Beim Klassentreffen zwanzig Jahre später erinnerte sich niemand mehr daran.

    – Wieso fällt Maximilian eure postpubertäre Rebellion heute wieder ein? Der will doch nicht ernsthaft den Misserfolg.

    – Wir wollten die selbstbewussten Performer des eigenen Misserfolgs sein, sage ich.

    – Quatsch. Maximilian verkörpert den Typus des kreativen Erfolgsmenschen, beruflich, privat, freizeit- und körperorientiert, als Konsument oder Produzent. Er ist Inbegriff der postpostmodernen, authentisch-marktkonformen Persönlichkeit.

    Ich habe ihn gewarnt. Schon damals, als er sein kleines Vermögen erbte, sagte ich zu ihm:

    – Vergiss nicht, wir wollen den Misserfolg!

    – Klar, antwortete er, ist ja bloß Spaß.

    Und investierte in Aktien. Ich warnte:

    – Pass auf! Du gerätst in die Erfolgsspur.

    – Nee, sagte er, das ist nur ein klitzekleines Portfolio.

    Er investierte in Immobilien und einen Kultur-Reisedienst und sagte:

    – Das Geld ist mir egal, wirklich.

    Wieder machte er alles richtig. Die ökonomische Krise brachte eine Sinnkrise mit sich. Aus Angst vor Armut, Einsamkeit und undurchschaubaren Veränderungen verlangten Mittelschichtler nach sozialer Distinktion durch Bildung und Kultur. Der Kunstkenner Maximilian war ihnen lieber als ein Künstler, er belästigte sie nicht mit schwerverständlichen Werken, sondern konnte alles erklären: Kommt mit, ich zeige euch, was mir am Herzen liegt in Wien, Barcelona, Paris.

    Ich sagte:

    – Vorsicht, Maximilian, Erfolgsgefahr. Die Leute wollen keine Kunst, sondern ein bisschen am Abglanz teilhaben.

    – Was willst du, antwortete er. Ist doch ihr Recht, oder?

    – Denk an Adorno!, sagte ich: Das Wahre und Bessere in jedem Volk ist wohl vielmehr, was dem Kollektivsubjekt nicht sich einfügt, womöglich ihm widersteht.

    – Ach, sagte Maximilian, Adorno …

    Er gewann seine ersten eigenen 500.000.

    – Hör mal, insistierte ich, du bist erfolgreich, da beißt die Maus keinen Faden ab.

    – Nö, sagte er, darum geht es nicht.

    Und gründete eine Kette von Art-Hotels. Entschleunigte Kultur für Menschen, die den Gedanken liebten, Genuss und Lebensstil seien wichtiger als Erfolg. Bereits beim Einchecken erhielt jeder Gast Eintrittskarten für überregional beachtete Kultur-Events.

    – Du kriechst den Leuten in den Arsch, sagte ich.

    – Wir bilden eine Erlebnisgemeinschaft, antwortete er.

    – Wir wollten den Misserfolg, weil wir aufmüpfig waren, und ich bin es noch immer, erklärt Maximilian auf Dorothées Tablet. Aber inzwischen steht Misserfolg nicht mehr für Lifestyle, sondern für Versagen.

    – Was für Probleme hat der denn?, ruft Dorothée so laut, dass ein Kollege um die Ecke schaut. Sind das Depressionen? Glaubst du, dass er sich was antut?

    – In den Augen anderer darf man keinen Misserfolg haben, sagt Maximilian, gerade wenn man ihn propagiert.

    Ich schaue Dorothée an.

    – Ja, sagt sie, ich habe auch zuerst gedacht, jetzt kommt eine Frau ins Spiel.

    – Ich wollte den Erfolg, um ihn verachten zu können, erklärt Maximilian in die Kamera.

    – Ich verstehe den Kerl nicht, sagt Dorothée. Ist er wirklich lebensmüde? Oder erzählt der das nur, um nicht mit mir nach Tübingen ziehen zu müssen? Ich bestehe ja gar nicht darauf. Ich habe nur gesagt: Entscheide dich! Komm mit nach Tübingen, ich bekomme da eine Eins-a-Stelle an der Uni.

    Glücklicherweise schieben da doch tatsächlich Besucherinnen, die sich unbeachtet wähnen, ihre Finger, Gesichter, Ärsche zu nahe an den Wanderer über dem Nebelmeer. Noch bevor die Alarmanlage anschlägt, springe ich auf und flüstere:

    – Dies ist ein Museum! Anfassen können Sie drüben in der Europa-Passage.

    – Nun lass die doch, zieht mich Dorothée auf die Bank zurück. Hier ist dein Notfall.

    – Als ich das vierte Hotel eröffnete, erklärt Maximilian, hatte ich längst keine Lust mehr, Geld zu verdienen. Es ging ausschließlich um den kreativen Akt, nicht um den ökonomischen Erfolg. Beim fünften Hotel lag ich sechs Tage mit Migräne im Bett. Ich wollte es am liebsten verschenken, aber mein Steuerberater erklärte mir, das solle ich mir überlegen.

    Steuerberater? So eine billige Ausrede.

    – Ich überlegte und überlegte, sagt Maximilian, und während ich noch überlegte, kommt die Nachricht … Also … Selbstverständlich habe ich mich gefreut. Zuerst. Was mich persönlich betrifft. Nur ganz kurz. Es ist ja eine Anerkennung, das muss man anerkennen. Meine Firma wurde zum Start-up des Jahres gekürt. Doch, doch. Darüber habe ich mich gefreut. Ohne Wenn und Aber. Aber plötzlich ging ein Riss durch meine Seele.

    – Start-up des Jahres, sagt Dorothée. Was will er denn noch?

    – Vielleicht im Erfolg seinen Misserfolg bewahren, über den er sich einst definiert hat?

    – Habe ich mein Leben verpfuscht?, fragt Maximilian pathetisch. Oder ist das bloß Nostalgie? Egal. Sucht nicht nach mir.

    Dorothée hat eine Nachricht an alle Bekannten geschickt. Ergebnislos.

    – Stell dir vor, der bringt sich um.

    Sie schnieft kurz. Ich sage:

    – Er will nicht, dass du ihn suchst.

    – Deshalb wirst du ihn suchen.

    – Ich bin Melancholiker, kein Privatdetektiv!

    – Papperlapapp!

    – Ich habe mich in die Hamburger Kunsthalle zurückgezogen aus Gründen der Melancholie.

    – Aus Bequemlichkeit, behauptet Dorothée.

    – Ich liebe Museen, die Melancholie alter Gegenstände, die keiner mehr braucht.

    – Papperlapapp!

    – Melancholie ist nicht Depression, sondern zelebrierte Traurigkeit.

    – Papperlapapp!

    – Ich lebe der Kunst.

    – Du lebst in meiner Wohnung!

    Tatsächlich ist es ihre Eigentumswohnung, aber …

    – Du zahlst eine Miete, die den Namen nicht verdient.

    – Melancholie ist gelebte Ewigkeit.

    – Ewigkeit deckt nicht die Nebenkosten! Ich ruf gleich morgen früh an und sage, dass du krank bist.

    – Dorothée …

    – Sehr geehrte Besucher, mischt sich eine Frauenstimme ein, in wenigen Minuten schließt das Museum. Bitte begeben Sie sich zu einem der Ausgänge. Morgen ab zehn Uhr sind wir wieder für Sie da. Wir wünschen einen guten Heimweg, einen angenehmen Abend und eine schöne Nacht.

    2 | Draußen vor der Kunsthalle

    Ich verlasse die Kunsthalle durch den Personaleingang neben der Wachzentrale. Über dem granitgepflasterten Platz zwischen dem Altbau und der Galerie der Gegenwart staut sich die Hitze. Die Fassade des alten Hauptgebäudes ist im eleganten Stil der italienischen Renaissance in Backstein mit Künstlerporträts aus Terrakotta gestaltet. Die vollplastischen Figuren von Michelangelo und Raffael sind durch rahmende Ädikulen hervorgehoben. Auf den Stufen vor dem Hauptportal dösen junge Leute vor sich hin. Es ist wie damals, als Dorothée zum ersten Mal auf mich wartete. Ein Nachmittag im Hochsommer. Drinnen verbreiteten wenigstens die übereinandergeschichteten Eisschollen auf Caspar David Friedrichs Das Eismeer gedanklich wohltuende Kühle, hier draußen lief mir der Schweiß den Rücken hinunter. Da entdeckte ich auf den Stufen vor der alten Kunsthalle Dorothée. Eine Bekanntschaft aus der Uni. Saß also da auf den Stufen zum Haupteingang und wartete, hat man Töne, ausgerechnet auf mich. Dabei waren wir nicht verabredet. Sie sagte:

    – Schön, dich zu sehen.

    War das Zufall? Seit wann interessierte sie sich für mich?

    – Wie geht’s?, fragte ich, weil man etwas fragen muss. Was macht das Leben, das Streben, die Lust?

    – Alles falsch, immer falsch. Ich werde in Göttingen anfangen.

    – Göttinnen nach Göttingen.

    – Sehr witzig. Würdest du nach Göttingen gehen?

    – Was hast du gegen Göttingen? Andererseits, was willst du dort?

    – Job, fester Freund, wunderbare Altbauwohnung, ein fertiges Leben.

    Über den Bahngleisen am Hauptbahnhof sammelten sich schwarze Wolken.

    – Lass Göttingen, sagte ich, lass uns einfach hier sitzen und nach Leuten Ausschau halten, die hier und jetzt ihre Geschichten anfangen. Nur Anfänge, Anfänge, die zu nichts führen.

    Ich versuchte, sie abzulenken. Warum, wusste ich nicht. Vielleicht, weil sie mich so plötzlich an ihrem Leben teilnehmen ließ. Das hätte ja der Anfang einer Geschichte mit mir als Hauptperson sein können. Wie Novalis schreibt: Das Leben soll kein uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman seyn. Selbstverständlich mit mir als HP, der Hauptperson.

    – Schau dir die beiden Trockenvögler an, sagte ich.

    Eine junge Frau räkelte sich auf einem jungen Mann. Der Rock war hochgerutscht. Man sah ihren dunkelgrünen Slip. Sie bewegte sich rhythmisch auf und ab. Rhythmisch auf und ab. Eine Performance, in der die Körper als leibliche Instanz sinnlichen Affiziertwerdens und/oder als performativer Aufführungsort einer von anderen sinnlich wahrnehmbaren Darstellung hervortreten. Ob das ein Anfang sein konnte?

    – Kennst du das Gefühl, fragte Dorothée, wenn alles falsch ist? Jede Entscheidung, bleiben oder gehen, sitzen oder stehen, alles daneben, und du kannst nichts ändern? Meine erste Festanstellung an einer Uni. Wohin soll das führen?

    Eine alte Dame irrte umher.

    – Trixie, rief sie. Immer wieder: Trixie!

    Sie erinnerte an die Endlichkeit des Seins. Oder war das zu weit hergeholt?

    Ein Skater umkreiste die alte Dame. Sex mit Dorothée könnte meine Nerven beruhigen, dachte ich. Wie sie hatte ich meinen Abschluss in der Tasche. Der Unterschied: Sie hatte sich sofort beworben, ich würde mich nie bewerben. Ich bin nicht der Typ dazu, in einer Institution zu arbeiten, deren einziger Zweck darin besteht, bürgerlichen Jugendlichen den Anstrich von kultureller Bildung zu verschaffen. Schon damals fiel mir das Wort Distinktionsvorteil ein. Germanistik! Ich bitte Sie! Was kommt dabei heraus? Lehrer und Journalisten, aber keine Leute, die sich wirklich für Poesie interessieren.

    – Fühlen Sie sich alt?, fragte Dorothée die alte Dame.

    – Aber ja, natürlich.

    – Und einsam?

    – Trixie, Trixie!

    Die alte Dame schüttelte traurig den Kopf.

    – Die hat überhaupt keine Ahnung, stöhnte Dorothée.

    Da öffnete sich der Notausgang der Galerie der Gegenwart, ein kleines, schwarz-weißes Hündchen sprang heraus.

    Tage habe ich in der Kunsthalle verbracht, damals noch als Besucher. Entzieht das Schicksal dir die Gunst, guckste Kunst. Welche Bilder hatte sich das Hündchen wohl angeschaut? Den Chor der Heuschrecken von Rebecca Horn?

    – Da bist du ja, rief die Alte. Hast mich nicht vergessen.

    Die Installation besteht aus 17 an der Decke angebrachten Schreibmaschinen, deren Tastaturen nach unten zeigen. Von einer hängt das schwarzrote Farbband bis auf den Boden hinab. Ich habe oft davorgestanden. An einer dünnen Metallstange ist ein Taktstock angebracht, der wie ein langer knochiger Finger einen Halbkreis auf dem Boden beschreibt. Die Tasten klicken und klacken. Sie schreiben einen unlesbaren Text und der Taktstock gibt den Takt. Sinnbild eines Lebens? Ausdruck der Freude, seinen eigenen Gedanken einen Resonanzraum zu verschaffen?

    Ich habe davorgesessen und mich gefragt, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Kunst machen? Ach du liebes Bisschen. Mich stört nicht, dass sie meistens brotlos ist. Mich stört das gelangweilte Publikum, dem das abrollende Farbband und der ungeschriebene Text egal sind, solange der Taktstock die Ordnung garantiert. Durchschnittliche Verweildauer: Zwanzig Sekunden. Interessant, sagen sie und gehen nach nebenan.

    – Ob ich mir einen Hund anschaffen soll?, fragte Dorothée. Ach wie peinlich, so einen Aufstand zu machen, bloß weil ich die Stadt wechsle. Hörst du mir eigentlich zu?

    – Aber ja.

    Dir sind deine Gefühle peinlich, dachte ich, weil du weißt, dass viele denken, was regt sie sich auf, das ist doch der Lauf der Dinge.

    – Ich würde nicht nach Göttingen gehen, sagte ich. Höchstens als arbeitsloser Ehemann, wenn du die Außenvertretung für uns beide übernimmst.

    Wir lachten und meinten es doch ernst.

    Da stürmten zwei Junghooligans, fünf, sechs Jahre alt, hinter uns die Freitreppe herunter aus dem Altbau der Kunsthalle. Sahen aus wie zwei der monströsen Hülsenbeckschen Kinder auf dem Gemälde von Runge. Hatten mit ihren allzu großen Köpfen und den ungeschlachten Proportionen die Leinwand verlassen, um Ärger zu machen. Der eine trug eine Peitsche, der andere ein Zähneblecken. Betrachteten erst die rhythmischen Bewegungen der Trockenvögler, wandten sich dann einer Taube zu. Der eine, Unterarm in Gips, trat nach dem Vogel. Der war zu schnell für ihn. Der andere plärrte und wollte auch.

    Ich dachte ans Trockenvögeln, an Rebecca Horns Heuschrecken und an meine Sehnsucht nach einem Leben, in dem niemand mir zu nahe tritt. Ich dachte an die Friedenstaube, an den Heiligen Geist, an den Vogel der Aphrodite.

    Die Hülsenbeckschen Kinder zeigten die furchterregenden Gesichter verwöhnter Bürgerkinder. Die grausame Jagd ging weiter. Im Zickzack wackelte die Taube übers heiße Pflaster. Sex, Gewalt und Kunstgeschichte, eine

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1