Schreiner: Denker der Praxis
Von Werner Sester und Andreas Giller
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Über dieses E-Book
Denker der Praxis schöpfen ihre Wissen aus Geschichtsbewusstsein, Tradition und Erfahrung.
Die Fähigkeit zum Überschreiten ist in diesem Wissen ein fester Bestandteil.
Deshalb fühlen sich Schreiner in Grenzbereichen zuhause, deshalb sind sie immer für eine Überraschung gut.
Werner Sester
Werner S e s t e r entstammt einer Arbeiter- und Handwerkerfamilie, studierte Soziologie, Politische Wissenschaften, Philosophie und Betriebswirtschaft, er arbeitet seit über 30 Jahren in seiner eigenen Schreinerei, ist Schreinerei-Arbeiter, Künstler, Entwickler, Erfinder und Autor.
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Buchvorschau
Schreiner - Werner Sester
1. Einleitung
Wer sich heutzutage auf den Weg der inneren Läuterung begeben will, stolpert früher oder später über den Jakobsweg, oder er sucht sich einen Guru mit Ashram, der ihm den Weg zur Erkenntnis und Erleuchtung weisen soll.
Alle Wege enden im „Nichts".
Ein Meister lehrt Tiefe, Hingabe, Demut und Weisheit und erwartet dafür Unterordnung, Hingabe, Demut und Glauben.
Dieses schöne Konstrukt funktioniert in unseren westlich kapitalistischen Gefilden überhaupt nicht. Hier wird hinterfragt, gezweifelt, verworfen, bekämpft und behauptet.
Entsprechend hat sich hier eine andere Spezies von Meistern entwickelt, die mehr fragt als Weisheiten verstreut, die zweifelt und den Zweifel setzt, die lehrt und gleichzeitig lernt, die weiß, dass sie keine Ahnung von den wesentlichen Dingen des Daseins hat.
Der Ashram eines Schreinermeister heißt deshalb auch ganz banal: „Schreinerei".
Der Anhang eines Schreinermeisters sind keine Jünger, sondern Gesellen, Gesellinnen und Auszubildende.
Und da ein Schreinermeister keinen Erleuchtungsweg weisen kann, fallen seine Weisheiten handfester aus, als das bei heiligen Männern und Frauen der Fall ist: „Du machst und tust und kommst zu nichts."
Alle Wege führen ins „Nichts". Das zumindest ist die einheitliche Erkenntnis unterschiedlicher Vorgehensweisen.
Der Guru strebt nach dem „Nichts, der Schreinermeister sieht dieses „Nichts
als Problem.
Die Weisheit eines Schreinermeisters beginnt deshalb immer mit einer Frage oder mit einer Problembeschäftigung.
Die Suche nach einer Lösung ist der Weg des Meisters.
Und diese Suche kann nie im „Nichts enden, weil das „Nichts
für einen Meister lediglich eine Herausforderung darstellt.
Deshalb gibt es auch kein Scheitern. Es gibt einen ständigen Neubeginn.
Der Unterschied zwischen einem Guru und einem Meister wird jetzt sehr deutlich.
Ein Guru ist mit sich und seinen Weisheiten zufrieden.
Ein Schreinermeister ist nie zufrieden, für ihn sind Erkenntnis und Dasein ein Prozess des ständigen Wandels.
Dieses Wissen treibt ihn an. Und dieses tiefe Wissen macht ihn ruhig.
2. Vom Lernen und Lehren
In Schreinereien wird das Schleifen an der Breitbandmaschine allgemein als niedrige Arbeit eingestuft.
Man schleift, um ein bestimmtes Schleifergebnis zu erreichen. Teile werden auf der einen Seite eingeschoben und auf der anderen Seite wieder entnommen.
Der Vorgang beginnt, der Vorgang endet.
Ein Meister würde an dieser Stelle warnend den Zeigefinger in Höhe strecken, wenn er es noch kann:
„Wer den Prozess des Schleifens in dieser Weise verkürzt, hat den Wesenskern des Schleifens nicht verstanden. Er verpasst in diesem Augenblick die Chance, ein guter Schreiner und letztendlich ein Wissender zu werden. ‚Schleifen’ und ‚Erleuchtung’ liegen nahe beieinander."
Wenn die Breitbandschleifmaschine gestartet wird, entsteht ein Startergeräusch, das nur diese eine, wirklich nur diese eine Maschine weltweit hat. Am Klang hörst du das Wohlbefinden der Maschine, du hörst, ob sie bereit ist, mit dir in einen inneren Dialog zu treten.
Die Schleifmaschine teilt Dir mit, wenn sie mit Deiner Einstellung nicht zufrieden ist.
Sie fordert dich auf, sie mahnt zur Wachsamkeit, sie fordert den harmonischen Gleichklang zwischen „dir und mir".
Ohne dieses verstehende Miteinander kommt kein gutes Ergebnis zustande.
Der Meister atmet die Maschinenstimme ein. Sie lässt seinen Körper vibrieren, er schwingt mit dem Rhythmus des Maschinentaktes mit, bis er die Gelassenheit der Maschine in sich aufnehmen kann.
Dann erst ist die Kommunikation perfekt.
Der Meister legt seine Hand auf die Maschinenseite – und bekommt gleich darauf einen leichten Stromschlag.
Die Maschine hat gesprochen!
Sie weist den Meister in ihrer eigenen Art darauf hin, dass er mal wieder die Turnschuhe mit den Sicherheitsschuhen verwechselt hat. Der Meister bedankt sich und wechselt heimlich seine Schuhe.
Der Meister befindet sich in einem fortlaufenden Prozess des Lernens. Die Maschine wiederum hat nie aufgegeben, den Meister zu unterrichten.
Altersbedingte Animositäten werden zu einer Herausforderung, sich gegenseitig immer neu aufeinander einzustellen.
Der Zusammenhalt wird gestärkt, wenn man die inneren Werte des anderen besser kennenlernt.
Die Einstellungen der Schleiftiefe werden normalerweise digital vorgenommen.
Aber der Meister weiß, dass die Schleifmaschine ihre Tagesformen hat. Sie liebt bestimmte Temperaturen, und am liebsten läuft sie allein. Sie genießt die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Meisters und sie liebt es, wenn sie die volle Absaugleistung nur für sich allein in Anspruch nehmen kann.
Der Meister achtet auf Empfindsamkeiten.
Er beginnt deshalb die Eingewöhnungsphase mit einem langsamen Herantasten.
Der erste Schleifdurchgang ist ein sanfter Probedurchlauf mit sehr lockerer Schleifung. Die Schleiftiefe wird sanft herunter- bzw. hochgefahren, um den Gewöhnungsprozess für die Maschine in Gang zu setzen.
Am Klang der Maschine hörst du, welches Lied die Maschine singt. Ist es ein Lied der Freude, oder ist es ein Lied des Schmerzes?
Das Lied der Freude erzählt die Geschichte vom Austausch zärtlicher Streicheleinheiten, von Liebe, von gegenseitiger Achtung und Bewunderung für neu entstehende Schönheit.
Das Lied des Schmerzes entsteht aus einer Missachtung der Gefühlslage des anderen.
Die Maschine quittiert diesen Fehlgriff mit einem lang gezogenen, quietschenden Klageruf, das Holz zieht sich zusammen und verliert sein Furnier.
Solche Missgeschicke passieren dem Meister nur selten.
Der Meister hat vorgesorgt und untersagt, dass der Prozess des Eingestimmtseins unterbrochen wird.
Niemand darf einen anderen stören, wenn er an einer Maschine steht.
Trotzdem passieren solche Dinge.
Und wenn mal wieder ein Vertreter hart angeschnauzt wird, dann weiß er jetzt, weshalb.
Schmerzen der Schleifmaschine erschrecken den Meister.
Er beginnt sofort mit der Korrektur. Alle Beteiligten wollen mehr Platz und Raum und stellen ihre maximalen Forderungen, die sich gegenseitig im Wege stehen.
Der Meister muss jetzt gut zuhören, bis zu welchem Toleranzbereich jeder Beteiligte mitgehen