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Zur Sache, Schätzchen: Inhaltsanalyse eines 'Jungen Deutschen Films'
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eBook364 Seiten3 Stunden

Zur Sache, Schätzchen: Inhaltsanalyse eines 'Jungen Deutschen Films'

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Über dieses E-Book

'Zur Sache, Schätzchen' war der erste Spielfilm der Regisseurin May Spils und ein Film, der in den 1960er Jahren wie kein anderer das Kinopublikum begeisterte und nachhaltige Auswirkungen auf das damalige Lebensgefühl - vor allem der jungen Generation - hatte. Der Film wurde 1968, nach seiner Uraufführung Anfang Januar, nicht nur der Überraschungserfolg an den Kinokassen, er wird heute als 'Der Kultfilm der 68ziger - der 68ziger Kultfilm' etikettiert. Zur besseren Schilderung des damaligen Zeitgefühls - hier konkret: in München-Schwabing - und der ergänzenden Darstellung der Hintergründe der Entstehung des Films befindet sich im Anhang des Buches ein Interview mit dem Produzenten von 'Zur Sache, Schätzchen', Peter Schamoni und mit dem Kameramann Klaus König. Sein Hauptdarsteller und Mit-Drehbuchautor, Werner Enke, erhielt ein eigenes Kapitel, eine biografische Skizze. Im Anhang abgedruckt ist auch eine protokollarische Drehbuchfassung des Films.
SpracheDeutsch
HerausgeberMEDIA Net-Kassel
Erscheinungsdatum10. Okt. 2011
ISBN9783939988090
Zur Sache, Schätzchen: Inhaltsanalyse eines 'Jungen Deutschen Films'

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    Buchvorschau

    Zur Sache, Schätzchen - Lisa Wawrzyniak

    Vorwort

    1967 – ein ereignisreiches Jahr, auch in der Bundesrepublik Deutschland. Im Januar wurde in Berlin/West die so genannte Kommune 1 gegründet, die sich als eine in das Alltagsleben umgesetzte Form der ‚Außerparlamentarischen Opposition’ verstand. Im Februar erhielt der bisher erfolgreichste deutsche Schlagersänger, Freddy Quinn, seine zehnte Goldene Schallplatte, ebenfalls in Berlin/West, während sich in Bonn, der Hauptstadt der Bundesrepublik, Vertreter von Arbeitnehmer- und Unternehmerverbänden auf Initiative des Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller zu informellen Gesprächen über eine ‚Konzertierte Aktion’ trafen, mit der die wirtschaftliche Rezession bekämpft werden sollte. Im März erhob die Aachener Staatsanwaltschaft Anklage gegen Angestellte des Herstellers des Schlafmittels ‚Contergan’, welches bei Einnahme durch Schwangere häufig zu Missbildungen bei Neugeborenen geführt hatte – außerdem wurde der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt als Nachfolger des im Februar verstorbenen Fritz Erler zum neuen Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion gewählt. Im April wurden im früheren Salzbergwerk Asse im Landkreis Wolfenbüttel zum ersten Mal in der Bundesrepublik radioaktive Abfälle ‚entsorgt’, im Alter von 91 Jahren starb Altbundeskanzler Konrad Adenauer. Im Mai wurde auf dem Bundesparteitag der CDU Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zum Vorsitzenden und der ehemalige Wirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard zum Ehrenvorsitzenden gewählt, Ende des Monats kamen der persische Schah Mohammad Reza Pahlavi und seine Frau Farah Diba zu einem Besuch in die Bundesrepublik und nach Berlin/West. Im Juni starb in Berlin/West im Verlaufe einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien der Student Benno Ohnesorg, erschossen von einem Polizisten, außerdem begannen im Münchner Stadtteil Schwabing die Dreharbeiten für einen Film mit dem Arbeitstitel ‚Die Gafler’.

    Aus ‚Die Gafler’ wurde im Laufe der Dreharbeiten der spätere Filmtitel ‚Zur Sache, Schätzchen’ – es war der erste Spielfilm der Regisseurin May Spils und ein Film, der wie kein anderer in dieser Zeit das Kinopublikum begeisterte und nachhaltige Auswirkungen auf das damalige Lebensgefühl – vor allem der jungen Generation – hatte. ‚Zur Sache, Schätzchen’ wurde 1968, nach seiner Uraufführung Anfang Januar, nicht nur der Überraschungserfolg an den Kinokassen, er wird heute als ‚Der Kultfilm der 68ziger – der 68ziger Kultfilm’ etikettiert.

    Im kulturellen Bereich entstanden in diesem Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Westdeutschland viele neue Bewegungen und gerade der Film wurde durch das so genannte Oberhausener Manifest vollkommen neu definiert. Ausgangspunkt dieser filmischen Erneuerung war die Stadt München, wo viele der Vertreter des ‚Oberhausener Manifests’ wohnten und arbeiteten, ebenso wie die Regisseure der ‚Neue(n) Münchner Gruppe’, die bereits wieder eine neue, jüngere Generation von Filmemachern repräsentierten. Zu dieser Generation – und zur ‚Neue(n) Münchner Gruppe’ – gehörte auch die Filmemacherin May Spils, die ihren Wohnort, den Münchner Stadtteil Schwabing, auch zum vorrangigen Drehort ihres ersten Spielfilms machte.

    Fast 40 Jahre nach den Dreharbeiten beschäftigte sich die Studentin Lisa Wawrzyniak in einer wissenschaftliche Arbeit am ‚Institut für Germanistik’ der ‚Justus-Liebig-Universität Gießen’ mit den Zeitgeist-Spiegelungen und Zeitgeist-Anregungen dieses Films – im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse dieses ‚Jungen Deutschen Films’. Nach einer ‚Analyse der Filmfiguren’, der Behandlung der ‚Berufe der Filmfiguren’ und einer Beschreibung der ‚Milieus der Filmhandlung’ reflektierte die Arbeit u. a. auch über ‚Normen, Regeln und Moralvorstellungen’ und die dargestellten ‚Sozialbeziehungen’. Ein essenzieller Bestandteil der Arbeit war der Sequenzplan, anhand dessen sich viele Äußerungen und getroffene Feststellungen detailliert nachprüfen ließen. Zugleich gab der Sequenzplan den Inhalt des Films wieder. Die verwendete Sprache in ‚Zur Sache, Schätzchen’, konkret die seiner Hauptfigur, wurde in einem eigenen Kapitel thematisiert, da viele der benutzten Wörter und Sätze in den allgemeinen Sprachschatz vorwiegend der jungen Generation eingingen.

    Die wissenschaftliche Arbeit wurde die Grundlage dieses Buches, gemeinsam überarbeitet und ergänzt durch Lisa Wawrzyniak und Reinhold Keiner. Die Arbeit am ‚Schätzchen’-Buch wurde so ein Zwei-Generationen-Projekt, trafen sich doch hier nicht nur Tochter und Vater, sondern auch ein ‚hartnäckiger’ Vertreter der ewig verspäteten ‚Generation Z’ ¹ und eine Vertreterin der – allerdings hier westdeutschen – ‚Generation 89’, die ihre entscheidenden Sozialisations- und Bildungserfahrungen nach dem Zusammenschluss der bis 1989 getrennt existierenden deutschen Staaten machte.

    Schlichen die älteren Angehörigen der ‚Generation Z’, auch ‚Zaungäste’ genannt, in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts vorrangig in die Kinos, um sich in den ‚Schulmädchenreports’ und den so genannten Aufklärungsfilmen neueste Informationen über den soziokulturellen Stand der Dinge einzuholen, entsprach ein Film wie ‚Zur Sache, Schätzchen’ eher dem gegen die Elterngeneration revoltierenden Grundgefühl der älteren Geschwister, kamen die Angehörigen der ‚Generation 89’ schon nicht mehr in den Genuss dieses Films, da er in den Kinos nicht mehr lief, schlichtweg mittlerweile fast völlig unbekannt war – und weitgehend immer noch ist, trotz gelegentlicher Ausstrahlung in den ‚Dritten Programmen’ der Öffentlich-Rechtlichen Fernsehanstalten. Ein häufig wiederkehrendes Déjà-vu-Erlebnis: Spricht man Angehörige der ‚Generation 89’ und auch jüngere Generationen auf diesen Film an, erhält man häufig die Antwort, dass es sich doch wohl um einen ‚Softporno’ handele, wird cineastisch leichtsinnig von einem unter Marketing-Gesichtspunkten überaus erfolgreichen Titel auf den Inhalt des Films zurückgeschlossen.

    Rebellion und Autoritätskonflikt, die in ‚Zur Sache, Schätzchen’ eine wesentliche Rolle spielen, sind für die auf die ‚Generation Z’ folgenden Generationen bereits Fremdwörter aus einem anderen Jahrhundert geworden – gehören Lebenserfahrungen mit gesellschaftlichen Brüchen, sozialen Konflikten und harten persönlichen Auseinandersetzungen für diese Generation nicht mehr zum wesentlichen ‚Schmierstoff’ der eigenen biografischen Entwicklung. Die Vertreter der ‚Generation Z’ schauen dagegen eher mit verklärten Blicken auf einen Film, der eine Sehnsucht nach einer persönlichen Freiheit postulierte, die so wohl nur Mitte der 1960er Jahre darstellbar und forderbar war, während sie selbst bereits einige Jahre später schon auf dem Rückzug in die ‚Neue Innerlichkeit’ endloser beziehungstheoretischer Selbstanalysen waren.

    Zur besseren Schilderung des damaligen Zeitgefühls – hier konkret: in München-Schwabing – und der ergänzenden Darstellung der Hintergründe der Entstehung des Films befindet sich im Anhang des Buches ein Interview mit dem Produzenten von ‚Zur Sache, Schätzchen’, Peter Schamoni. Sein Hauptdarsteller und Mit-Drehbuchautor, Werner Enke, erhielt ein eigenes Kapitel, eine so genannte Biografische Skizze, die im Wesentlichen auf einem Interview beruht, das, wie auch das Peter Schamoni-Interview, digital aufgezeichnet, anschließend transkribiert und bearbeitet wurde.

    Im Anhang abgedruckt ist auch eine protokollarische Drehbuchfassung des Films, die zum ersten Mal 1968 in einer Ausgabe der Zeitschrift ‚Film’ abgedruckt wurde, redigiert von dem in München lebenden Filmjournalisten Klaus Eder.

    Die Zitate und die protokollarische Drehbuchfassung wurden in moderater Weise der aktuellen deutschen Rechtschreibung angepasst. Die Jahreszahl bei der Erwähnung von Filmtiteln bezieht sich immer auf das Datum der Uraufführung des jeweiligen Films.

    Das Buch wäre ohne die engagierte Mitarbeit von Werner Enke und des Produzenten Peter Schamoni in der vorliegenden Form nicht zustande gekommen. Ihnen gilt unser besonderer Dank sowie Frau Uschi Rühle vom ‚Deutschen Filminstitut – DIF’ in Frankfurt am Main für Hilfestellung bei der Zusammenstellung der Auswahlbibliografie. Cornelius Lemke kümmerte sich um die korrekte technische Abwicklung für die digitale Aufzeichnung der Interviews. Bernd Brehmer vom Münchner ‚Werkstattkino’ begab sich – erfolgreich – auf ‚Ausgrabungsarbeiten’ nach einem Handzettel für die Filmreihe ‚Frühling in München’ aus dem Jahr 1998. Gert Bühringer vom SWR erinnerte sich in einem Telefonat mit einem Schmunzeln an die Dreharbeiten eines von ihm 1989 realisierten Fernseh-Porträts über Werner Enke; eine Kopie der Sendung stellte er freundlicherweise auf einer DVD zur Verfügung. Klaus Eder gab dankenswerterweise sein Einverständnis zum erneuten Abdruck seiner protokollarischen Drehbuchfassung aus dem Jahr 1968. Dr. Udo Engbring-Romang las die verschiedenen Entwürfe der Arbeit und brachte sich mit vielen Anregungen in das Projekt ein. Silke Rappelt übernahm Umschlaggestaltung und Satzarbeit, wie immer kreativ, akribisch und engagiert!

    Faksimile des ,Oberhausener Manifests‘

    Das ‚Oberhausener Manifest’ und der ‚Junge Deutsche Film’

    ‚Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.’ So endet das so genannte Oberhausener Manifest, das am 28. Februar 1962 26 Literaten, Künstler und Kurzfilmregisseure während der ‚VIII. Westdeutsche(n) Kurzfilmtage Oberhausen’ unterzeichneten – unter ihnen Rob Houwer, Alexander Kluge, Hansjürgen Pohland, Edgar Reitz, Peter Schamoni, Haro Senft, Franz-Josef Spieker, Hans Rolf Strobel, Heinz Tichawsky und Herbert Vesely¹:

    Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Dieser neue Film braucht neue Freiheiten, Freiheit von den branchenüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. Wir haben von der Produktion des neuen deutschen Films konkrete geistige, formale und wirtschaftliche Vorstellungen. Wir sind gemeinsam bereit, wirtschaftliche Risiken zu tragen.²

    Das ‚Oberhausener Manifest’ proklamierte revolutionär-ideologische Vorstellungen vom neuen Kino. Ein ‚neuer’ deutscher Film wurde ausgerufen.

    Im deutschen Film nach 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, gab es keinen formalen und inhaltlichen Neuanfang. Das Ensemble, das schon den nationalsozialistischen Film gestaltet hatte, von den Darstellern über die Regie bis zum technischen und künstlerischen Personal, fand sich weitgehend – fast eins zu eins – im westdeutschen Nachkriegsfilm wieder. Auf der Leinwand dominierte, von einigen so genannten Trümmerfilmen vor 1950 abgesehen, die leichte Unterhaltung. Von den durchaus vorhandenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den Aufbaujahren nach dem Krieg war im westdeutschen Nachkriegsfilm – bis auf wenige Ausnahmen – kaum etwas zu sehen. Die Kinofilme der Adenauer-Ära und (Post-)Adenauer-Ära waren abgewandt von den Konflikten einer sich entwickelnden modernen Gesellschaft.

    ‚Einheitsware’ beherrschte den deutschen Filmmarkt: Heimatfilme, Schlagerfilme, Lustspiele, Kriminal- und Abenteuerfilme dominierten auf der Kinoleinwand. Am kommerziell erfolgreichsten wurden, in den 1960er Jahren, Filmserien nach literarischen Vorlagen der Autoren Edgar Wallace und Karl May. Die Filmserien setzten dem doch eher grauen Alltag der 1950er- und 1960er Jahre reichlich Exotik und Fremdheit gegenüber und wurden so zum filmischen Spiegel einer verunsicherten Gesellschaft. ‚Deutsche Helden’ sah man nun häufig als so genannte Westmänner im amerikanischen ‚Wilden Westen’ oder als Mitarbeiter der legendären Londoner Polizei Scotland Yard agieren. Das Kinopublikum dieser Zeit flüchtete in die Sicherheit einer festgefügten filmischen Welt, in die reine Unterhaltung.³

    Neben den Aspekten Exotik und Fremdheit tauchte in den Filmen der Zeit ein weiteres Phänomen auf: Fernweh. Zahlreiche Filme boten dem Zuschauer die Möglichkeit, einer Heimat zu entfliehen, die ihm klein und provinziell erschien und die mit einer längst noch nicht verarbeiteten Vergangenheit zu kämpfen hatte. Schiffe, Flughäfen und Bahnhöfe wurden zu beliebten filmischen Locations und die große weite Welt den daheimgebliebenen Filmzuschauern in schönen Postkartenbildern gezeigt. Dabei wurde jedoch vor keinem nationalen Stereotyp zurückgeschreckt und in der ‚filmischen’ Ferne meldete sich immer wieder die Sehnsucht nach der verlassenen Heimat.

    Nur wenige Filmproduktionen dieser Zeit thematisierten kritisch die jüngste deutsche Vergangenheit, den Nationalsozialismus und seine Auswirkungen. Filme wie ‚Es geschah am 20. Juli’ (1955) von G. W. Pabst, der das fehlgeschlagene Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 behandelte, ebenso wie der zeitlich parallel gedrehte Falk Harnack-Film ‚Der 20. Juli’ (1955), oder ‚Rosen für den Staatsanwalt’ (1959) von Wolfgang Staudte, ein Film über die personelle Kontinuität vom Nationalsozialismus in das vermeintlich ‚entnazifizierte’ Deutschland‚ fanden zwar Zuschauer, blieben thematisch aber eher die Ausnahme. Das Genre des deutschen Kriegsfilms erlebte Ende der 1950er Jahre seinen Höhepunkt mit der Produktion ‚Hunde, wollt ihr ewig leben’ (1959).

    Die Mehrheit der bundesrepublikanischen Zuschauer erfreute sich an Heimatfilmen wie ‚Schwarzwaldmädel’ (1950), der ersten deutschen Farbproduktion nach dem Zweiten Weltkrieg und der ‚Klassiker’ der Heimatfilmwelle der 1950er Jahre, oder an ‚Grün ist die Heide’ (1951), dem größten Filmerfolg der Kinosaison 1951/52. Beide Filme drehte der Regisseur Hans Deppe; die Hauptdarsteller Sonja Ziemann und Rudolf Prack wurden ein weiteres Traumpaar des Kinos der Adenauer-Ära, neben z. B. Maria Schell und O. W. Fischer sowie Ruth Leuwerik und Dieter Borsche. Manfred Barthel, der über drei Jahrzehnte den deutschen Nachkriegsfilm als Filmkritiker, Dramaturg und Produktionschef beim Gloria- und Constantin-Filmverleih begleitete, über diese Zeit:

    Für die nächsten Jahre hieß das Rezept für Kassenerfolge: ‚Das Vaterland ist tot, es lebe die Heimat. Vergesst das Volkstum - seid volkstümlich.’ Um es im Branchen-Jargon der damaligen Zeit zu sagen: Es wurden Heimatfilme gedreht, dass die Heide wackelte. […] Die dramaturgische Ausbeute der Volkslieder-Sentimentalität war nicht nur ein Treffer ins deutsche Kinogänger-Gemüt, sondern mit ihr war auch ein Themenkreis gefunden worden, in dem die deutsche Filmproduktion konkurrenzlos war. Heimatfilme waren das einzige, was der deutsche Film der ungebremsten Flut ausländischer Filme entgegensetzen konnte, ohne einen Qualitäts-Vergleich riskieren zu müssen, denn dergleichen hatte das Ausland nicht zu bieten.

    Der größte Skandal des deutschen Nachkriegsfilms wurde der von Willi Forst inszenierte Film ‚Die Sünderin’ (1950) – aufgrund einer kurzen Nacktszene der Schauspielerin Hildegard Knef und der filmischen Thematisierung von Prostitution und Selbstmord. Rolf Thieles Film ‚Das Mädchen Rosemarie’ (1958), in dessen Mittelpunkt eine Prostituierte stand und ein weiterer Skandalfilm der Wirtschaftswunderzeit, war dagegen eher ein plakativer Bilderbogen über den Aufstieg und Fall einer Lebedame, ein satirischer Politthriller ohne kritische Aussage, und, so eine zeitgenössische Kritik, „statt Einsichten zu vermitteln, kapriziert sich der Film darauf, sein Publikum das Gruseln zu lehren. […] Alles in allem: ein Film, der die herrschenden Tabus nicht bricht, sondern sie befestigt, indem er um sie herumredet als gäbe es sie nicht."⁶ Internationales Renommee erreichte nur der 1959 uraufgeführte Antikriegsfilm ‚Die Brücke’, realisiert von dem Schauspieler und Regisseur Bernhard Wicki. ‚Die Brücke’ wurde mehrfach ausgezeichnet und auch 1960 für den ‚Oscar’ nominiert, in der Kategorie ‚Bester ausländischer Film’.

    Mitte der 1950er Jahre erreichten die Film-Produktions- und Kino-Besucherzahlen ihren Höhepunkt. 1955 wurden 128 Spielfilme produziert, elf Jahre später, 1966, nur noch 60. Während man 1956 noch 817,5 Millionen Kinobesucher pro Jahr zählte, waren es 1967 nur noch 243 Millionen. Ein Grund für die stark absinkenden Zuschauerzahlen war, dass die Kinobesucher immer jünger wurden. Die Altersgruppe, die 1961 regelmäßig ins Kino ging, waren die 16- bis 29-Jährigen, von diesen wiederum am häufigsten die 16- bis 24-Jährigen. Die ältere Generation, die in den 1950er Jahren noch das Gros der Kinobesucher gestellt hatte, entdeckte das so viel bequemere neue Massenmedium Fernsehen für sich. Immer mehr Kinos mussten ihren Geschäftsbetrieb aufgeben: 1960 gab es noch 6.950 ortsfeste Filmtheater, 1969 nur noch 3.739.

    Der wirtschaftliche Niedergang im westdeutschen Film beschleunigte sich auch durch die Schließung von bis dahin erfolgreichen Filmproduktionsfirmen: So stellte 1961 die Göttinger ‚Filmaufbau’, die von 1949 bis 1961 rund 100 Filme hergestellt hatte, darunter auch etliche künstlerisch anspruchsvolle Filme wie zum Beispiel ‚Liebe 47’ (1949), ‚Königliche Hoheit’ (1953), ‚Wir Wunderkinder’ (1958), ‚Buddenbrooks’ (1959), ‚Rosen für den Staatsanwalt’ (1959), ihren Produktionsbetrieb ein; die beiden größten westdeutschen Produktionsfirmen, die ‚Ufa’ und die ‚Deutsche Film Hansa’, vereinigten sich zwar zur ‚Ufa-Film-Hansa’, aufgrund großer finanzieller Verluste brach diese neue Produktionsgemeinschaft aber schon im Januar 1962 wieder zusammen. Der deutsche Marktanteil im Kinogeschäft sank auf 28,5 %.

    Auch international konnte der deutsche Film kaum reüssieren; so wurden zum Beispiel alle fünf von der Bundesrepublik Deutschland für die ‚Biennale’ 1961, die ‚22. Internationalen Filmfestspiele Venedig’, angebotenen Filme von der venezianischen Auswahlkommission abgelehnt – ein ‚Schicksal’, das die Bundesrepublik Deutschland in diesem Jahr allerdings mit Schweden, Spanien und Argentinien teilte.

    Das Verblassen des in den 1950er Jahren durchaus vorhandenen Starkultes, das immer mehr absinkende künstlerische Niveau der Filme, das Ausbleiben großer ‚künstlerisch wertvoller’ Filme und das Vorherrschen anspruchsloser Konfektionsware von Serienfilmen ließen die deutsche Filmwirtschaft in eine tiefe wirtschaftliche und künstlerische Krise schlittern. Für die neue, junge Generation der Kinogänger fehlten – in der Bundesrepublik Deutschland – am Anfang der 1960er Jahre die Identifikationsangebote, sowohl an Stars als auch an zeitgemäßen Inhalten.

    Während selbst einige bundesdeutsche Politiker den deutschen Filmproduktionen inhaltliche und formale Einfallslosigkeit bescheinigten, gab es – teilweise bereits seit den 1950er Jahren – im europäischen und außereuropäischen Ausland künstlerisch einen Aufschwung oder eine Neuorientierung. Es entstanden neue Filmbewegungen wie die ‚Nouvelle Vague’ in Frankreich und das ‚Free Cinema’ in Großbritannien. Auch in Polen und der Tschechoslowakei realisierten junge Regisseure ihre ersten abendfüllenden Spielfilme. In Brasilien formierte sich in den späten 1950er Jahren das ‚Cinema Novo’ und in den USA entstand das ‚New American Cinema’. Dies war aber keine einheitliche Bewegung.

    So fühlte sich das ‚Free Cinema’ in Großbritannien britischen Traditionen verpflichtet, z. B. dem Dokumentaristen Humphrey Jennings, und der italienische Film knüpfte an den Neorealismus und sein Hauptthema an, die Verbundenheit des Menschen mit seinem sozialen Milieu und mit der Natur. Die französische ‚Nouvelle Vague’ betonte die Autonomie des Autors bei der Herstellung (s)eines Films, während die Bewegung an der amerikanischen Ostküste deutlicher als alle anderen mit bestehenden Traditionen brach und folgerichtig auch immer eine ‚oppositionelle Schule’ blieb, außerhalb des Systems der amerikanischen Filmwirtschaft.

    Die meisten in Deutschland lebenden Filmschaffenden nahmen die neuen europäischen und außereuropäischen Filmbewegungen zunächst kaum wahr, schotteten sich gegenüber inhaltlichen und formalen Impulsen ab, entzogen sich den kreativen Tendenzen der ‚filmischen Gegenwart’, möglicherweise, weil sie sich nicht mehr zutrauten, diese zeitgemäß verarbeiten zu können.⁹ Zudem war die etablierte, aber wirtschaftlich kränkelnde deutsche Filmindustrie an einer inhaltlichen und formalen Erneuerung des deutschen Films nicht interessiert. Vielleicht fürchtete sie die Konkurrenz durch neue Produktionsformen und eine weitere Schwächung der eigenen Marktmacht.

    Die Gruppe, die während der ‚VIII. Westdeutsche(n) Kurzfilmtage Oberhausen’ 1962 das ‚Oberhausener Manifest’ deklarierte, bildete sich im Wesentlichen in München. Alle Regisseure waren in München wohnhaft oder eng mit der Stadt verbunden. Sie gehörten derselben Generation an, waren alle um die 30 Jahre alt, kannten sich untereinander sehr gut und arbeiteten bei ihren filmischen Projekten oft in wechselnden Teams zusammen – sie bevorzugten sogar häufig die gleichen Drehorte. Dieser enge Kontakt schuf ein Gruppendenken, das im ‚Oberhausener Manifest’ seinen ersten kulturpolitischen Ausdruck fand.¹⁰

    Die ‚Münchner Gruppe’, auch ‚Münchner Schule’ genannt, lebte und traf sich hauptsächlich im Stadtteil Schwabing. Dieser Gruppe war ein kleinerer personeller Zusammenschluss vorausgegangen, die von Haro Senft und Ferdinand Khittl 1959 initiierte Gruppe ‚Doc 59 – Gruppe für Filmgestaltung’. Ziel der Gruppe, deren Mitglieder vorwiegend im Bereich Kurz- und Dokumentarfilm erfolgreich tätig waren, war die Bemühung, filmkünstlerische Bestrebungen aktiv zu fördern, das allgemeine Interesse am kulturell wertvollen Film zu beleben und dies in der Öffentlichkeit zu propagieren und zu vertreten. Ein erster Schritt zu einer akademischen Filmausbildung wurde durch einen Lehrvertrag der Gruppenmitglieder Ferdinand Khittl, Raimond Rühl, Fritz Schwennicke, Franz Josef Spieker und Haro Senft mit der ‚Hochschule für Gestaltung’ in Ulm im Oktober 1961 eingeleitet.¹¹ Viele spätere ‚Oberhausener’, wie auch die beiden Gründungsmitglieder Senft und Khittl, gehörten der ‚Gruppe für Filmgestaltung’ an.

    Originalunterschriften ‚Oberhausener Manifest‘

    Erste filmische Erfahrungen sammelten die jungen Filmemacher im Kurzfilm, der anfangs – besonders formal – durch starke Improvisation gekennzeichnet war. Auf Restmaterial, gedreht mit eigentlich bereits ausrangierten Kameras, wurden filmische Eindrücke festgehalten. Eine ’klassische’ Arbeitsteilung im Sinne eines Filmteams gab es nicht. Kurzfilme waren die einzige Möglichkeit, sich praktische Kenntnisse im Medium Film anzueignen. Der Filmjournalist Wilfried Berghahn 1963 über die ‚Münchner Gruppe’:

    Sie benutzen nicht nur die gleichen optischen Motive, sie bearbeiten sie nicht nur mit den gleichen filmischen Methoden, die im wesentlichen Montagetechniken sind (der Film entsteht am Schneidetisch!), sondern berufen sich auch auf dieselbe historische Situation. Es sind alles Filme über die Bundesrepublik. Sie sind es bewusst und in jedem Falle. Selbst wenn der Schauplatz der Aufnahmen einmal außerhalb der deutschen Grenze liegt, bleiben die bundesdeutschen Verhaltensnormen im Mittelpunkt des Interesses. […] Weder die deutsche Nachkriegsliteratur, noch das Theater, vom Spielfilm ganz zu schweigen, bekennen sich so konsequent dazu, ein Kind der Bundesrepublik zu sein, wie der Münchener Kurzfilm. Ohne die durch das Wirtschaftswunder geschaffenen sozialen und optischen Normen wäre er undenkbar.¹²

    Ihre ersten Kurzfilme zeigte die ‚Münchner Gruppe’, die erst nach der Verkündigung des ‚Oberhausener Manifestes’ ‚Oberhausener Gruppe’ genannt wurde, auf den ‚Westdeutsche(n) Kurzfilmtage(n) Oberhausen’ sowie auf der in Mannheim

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