Praxisschock (E-Book): Wie sich Nico Sommer über den Theorie-Praxis-Graben rettet
Von Marcel Naas
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Über dieses E-Book
Nico Sommer ist niemand und viele. Der fiktive Lehrer kämpft sich stellvertretend für alle Lehrpersonen frisch ab Ausbildung durch den herausfordernden Schulalltag. Es läuft nicht so, wie er es sich vorgestellt hat. Deshalb vertieft Nico sich nochmals in seine Studienbücher. Tatsächlich gelingt es ihm, die Theorie direkt auf die Praxis zu beziehen und umgekehrt. So schafft er es, den Graben dazwischen zu überwinden. Die Lektüre dieses etwas anderen Schulromans macht fit für den schwierigsten Beruf der Welt.
Marcel Naas
Marcel Naas, geboren 1973, arbeitete zehn Jahre als Sekundarlehrer, bevor er ein Studium der Pädagogik, Publizistik und Philosophie an der Universität Zürich abschloss. Nach Promotion an der Universität Luxemburg war er in einem Post-Doc-Projekt der Universität Basel für die Herausgabe von Isaak Iselins pädagogischen Schriften verantwortlich. Seine Tätigkeit in der Lehrerbildung begann er 2010 als Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich, wo er heute als Bereichsleiter »Bildung und Erziehung« wirkt. Nach diversen wissenschaftlichen Publikationen erfüllt er sich mit seinem Jugendbuch »MounTeens« einen lange gehegten Wunsch. Marcel Naas lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen im Zürcher Oberland.
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Buchvorschau
Praxisschock (E-Book) - Marcel Naas
KLASSENFÜHRUNG
«Warum tun sie nicht, was ich sage?»
Nico schaut auf die Uhr und dann zur Tür. Noch zwanzig Minuten bis die Lektion beginnt. Diesmal wird er bereits hier sein und nicht wie so oft vor den Ferien als Letzter ins Zimmer huschen. Er denkt an einige Tage, an denen ihm beim vorsichtigen Öffnen der Tür ohrenbetäubender Lärm entgegenschlug. Im Zimmer präsentierte sich ihm dann eine Meute herumlümmelnder und herumalbernder Schülerinnen und Schüler. Jedenfalls war niemand bereit für den Unterricht. Lässt sich das nur schon durch seine Präsenz im Zimmer ändern? Nico weiß es nicht. Noch fünfzehn Minuten. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals.
Ob sie auch nervös sind, wenn sie nach den Ferien wieder in mein Klassenzimmer kommen?
Nico erinnert sich an seine Lektüre in den Ferien: das Kapitel zum Behaviorismus und den Abschnitt zum klassischen Konditionieren.
Es ist gar nicht Nervosität. Es ist eine Form von Angst. Eine typische konditionierte Reaktion auf den anfangs neutralen Reiz «Klassenzimmer». Als ich in den Sommerferien das erste Mal hier eintrat, konnte ich keine solche Reaktion feststellen. Das wiederholte und zeitgleiche Auftreten der beiden Reize «Klassenzimmer» und «Gefühl des Überfordertseins» hat mich lernen lassen, auf den anfangs neutralen Reiz «Klassenzimmer» die nun konditionierte Reaktion «Unwohlsein» zu zeigen. Eine Form von Kontiguitätslernen. Meine Güte! Das ist wie Pawlows Hund, der auf ein Glockenzeichnen zu speicheln beginnt. Ich lasse mich doch nicht so plump konditionieren. Das muss sich wieder ändern.
Als die ersten Schülerinnen und Schüler ankommen, registriert Nico bei zwei Mädchen einen gewissen Widerwillen.
Was machen denn Lisa und Anna für ein Gesicht? Denen geht’s nicht gut, wenn sie hier hereinkommen. Sind die auch bereits klassisch konditioniert und zeigen aversive Reaktionen auf den Reiz «Klassenzimmer»? Ich muss versuchen, diesen Reiz mit einer anderen Reaktion als Angst oder Niedergeschlagenheit zu verknüpfen. Sie sollen sich wohlfühlen, wenn sie hier eintreten.
«Hallo Lisa, hallo Anna!» Nico geht auf die Schülerinnen zu, streckt ihnen die Hand entgegen und lächelt sie an. Die Mädchen schauen ihn verwundert an, entspannen sich aber sichtlich.
Geht doch. Ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre gemacht. Vielleicht war ich bisher zu distanziert und habe zu sehr versucht, nicht Berufseinsteiger, sondern Autoritätsperson zu sein. Widerspricht sich das überhaupt? Eigentlich nicht, oder? Authentisch sein solle man, habe ich wiederholt gelesen. Authentisch wäre nun aber, dass ich nicht künstlich streng schaue, sondern jeden freundlich begrüße.
Nico stellt sich in den Türrahmen und wartet auf den Rest der Klasse.
Der Lehrer soll «Gastgeber» sein, heißt es. Ich werde dafür sorgen, dass man sich in meinem Klassenzimmer wohler fühlt. Meine Freundin meint ja, ich solle damit beginnen, die Pflanzen im Zimmer nicht sterben zu lassen. Vielleicht hat jemand aus der Klasse einen konkreten Vorschlag zur Sitzordnung oder dazu, wie alle besser arbeiten könnten. Ich traktandiere das mal für den nächsten Klassenrat.
Er nickt zufrieden. Der kurze Kontakt zu allen Schülerinnen und Schülern beim Händeschütteln scheint Wirkung zu zeigen. Es ist viel weniger hektisch als sonst, wenn er jeweils am Pult sitzt und ein Teil der Klasse ins Zimmer gestürmt kommt. Nico stellt einen doppelten positiven Effekt fest. Zum einen ist da der kurze freundliche, persönliche Kontakt, zum anderen markiert er so, unter dem Türrahmen stehend, auch physisch, dass hier seine Schulstube ist, wo man sich als Gast auch so verhält, wie es sich gehört. Ein erster Schritt zur neuen Klassenführung, wie er sie sich nach den Herbstferien vorgestellt hat, ist also gemacht.
Inzwischen ist die Klasse vollzählig. Die Schülerinnen und Schüler wühlen geschäftig in ihren Schultaschen und Rucksäcken, einzelne setzen sich an ihre Plätze und legen den Kopf auf ihre Arme, andere sind in laute Gespräche vertieft. Der Schulhausgong ertönt. Keine Reaktion.
«So, ich möchte beginnen … – Blick nach vorne, bitte.» Wenig Aufmerksamkeit. Zwei Schülerinnen unterbrechen ihr Gespräch und schauen kurz zu Nico. Andere haben ihn nicht gehört oder tun zumindest so. «Es hat geläutet, darf ich euch bitten …?»
Warum muss ich die Klasse überhaupt bitten? Die sollten doch einfach automatisch ruhig sein. Die Theorie des Kontiguitätslernens besagt, dass ein zeitgleiches Auftreten von zwei unkonditionierten Reizen – hier also die Reize «Gong» und «die auf Ruhe wartende Lehrperson» – mit der Zeit dazu führen, dass die gelernte konditionierte Reaktion, also «die Gespräche abbrechen und nach vorne schauen», auch schon auf den neu konditionierten Reiz des Gongs gezeigt wird – ganz ohne dass die Lehrperson mahnend vor der Klasse stehen muss. Warum sind sie denn nicht ruhig?
Nico wird lauter: «Ruhe, bitte!» Zwei Schüler beenden ihr Gespräch, aber noch immer wenden ihm viele den Rücken zu, weil sie mit ihren Klassenkameraden in den hinteren Bänken sprechen.
Wollen die mich provozieren? Oder haben sie mich echt nicht gehört?
«Wer jetzt nicht nach vorne schaut, bleibt heute Mittag länger hier.» Nico hat noch einmal lauter und bestimmter gesprochen. Die Gespräche verebben, und alle wenden sich ihm zu. Endlich kann es mit der Lektion losgehen. Nico hat zu schwitzen begonnen und fühlt sich nach dem ersten Machtkampf des Tages bereits nicht mehr so frisch wie noch vor fünf Minuten. Das hat er sich anders vorgestellt.
Klassenführung mit angedrohten Strafen ist eigentlich nicht das, was ich mir vorgenommen habe. Eine direkte Bestrafung durch Hinzufügen eines Reizes, hier also das Nachsitzen, wäre das gewesen. Ich hätte auch eine indirekte Bestrafung in Aussicht stellen können, also denjenigen, die noch immer nicht bereit waren, mit einem Entzug drohen. «Wer jetzt nicht aufpasst, darf heute nicht am Computer arbeiten.» Lächerlich. Zu Recht heißt es wohl in der Theorie, man solle lieber gewünschtes Verhalten ermutigen oder verstärken als unerwünschtes Verhalten mit Strafen