Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Gesang des Sturms
Der Gesang des Sturms
Der Gesang des Sturms
eBook735 Seiten9 Stunden

Der Gesang des Sturms

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

"Ich liebe diese Frau", sagte Elendar in die entstandene Stille. "Um sie zu töten, musst du erst an mir vorbei."Wer sind die unheimlichen Fremden, die sich in den Wäldern rund um Siranys Dorf niedergelassen haben? Grausame Gerüchte eilen ihnen voraus. Sind sie wirklich die Krieger des schlimmsten Königs der Welt? Morden sie in seinem Namen? Ausgerechnet ihr Anführer Elendar rettet Sirany das Leben und freundet sich mit ihr an. Doch Elendars Zukunft ist so finster wie die Gerüchte, die sich um ihn ranken. Welche Verbindung gibt es zwischen ihm und dem schrecklichen König? Und warum will dieser Sirany töten? Um einander zu retten, müssen Elendar und Sirany einen Sturm entfachen. Einen Sturm, der Grenzen verschiebt, Könige stürzt und Völker vereint.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Juli 2020
ISBN9783959913478
Der Gesang des Sturms

Mehr von Liane Mars lesen

Ähnlich wie Der Gesang des Sturms

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der Gesang des Sturms

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Gesang des Sturms - Liane Mars

    Kapitel 1

    Es zieht ein Sturm auf.« Siranys Mutter Aileen warf einen besorgten Blick gen Himmel, während sie ihre einzige Tochter nach draußen begleitete. »Glaubst du, du schaffst es bis zum Müller?«

    Auch Sirany prüfte das Wetter mit einem Blick, sah die dunklen, schneeverhangenen Wolken drohend über ihrem Kopf aufragen. Obwohl der Frühling bereits Einzug in das Land gehalten hatte, rang ihm der Winter noch diese eine Woche ab.

    Kälte würgte Mensch und Tier, drang in jeden Knochen und ließ die bereits vorsichtig emporgesprossenen Blumen erfrieren. Eine dicke Schneeschicht lag auf dem kalten Erdboden, als hätte es den Frühling nie gegeben.

    »Der Sturm ist nicht das Problem. Der Schnee ist übel«, erwiderte Sirany.

    Rasch gab sie ihrer Mutter einen letzten Kuss auf die Wange und sprang von der Veranda hinab in den Schnee. Sie versank bis weit über die Knöchel, hörte das ihr so vertraute knirschende Geräusch zusammengedrückten Schnees.

    Fröstelnd zog sie den Umhang um ihre mageren Schultern und ging vorwärts. Es war nicht weit bis zur Mühle des Müllers, doch der Weg war gefährlich. Unweigerlich musste man gleich zwei Wachtposten passieren und die überprüften jeden sehr genau, stets auf der Suche nach jungen, hübschen Frauen.

    Sirany war dieses Spiel bereits so gewohnt, dass sie nicht weiter darüber nachdachte. Mit geübtem Griff zog sie sich die Kapuze weit über die Augen, krümmte sich und wirkte daraufhin wie eine alte, zermürbte Frau.

    Um kein unnötiges Risiko einzugehen, schlug sie den Weg entlang des Flusses ein. Der führte am äußeren Rand des kleinen Dorfes vorüber. Normalerweise waren hier keine Soldaten anzutreffen, aber so genau wusste man das nie.

    Da sie nur auf ihre Füße starrte und nicht den Blick hob, um vorauszuschauen, übersah sie den jungen Mann in Uniform. Er hatte unerlaubt seine Truppe verlassen, um sich hinter einem Busch heimlich eine der verbotenen Zigaretten anzuzünden.

    Als er das junge Mädchen näher kommen sah, warf er hastig seinen Verrat in den Schnee, straffte sich und blickte der Gestalt entgegen. Er war jung, unerfahren und wollte sich dringend beweisen. Zudem genoss er das Gefühl der Macht, das mit seiner Uniform einherging. Die Chance, seine Überlegenheit einmal völlig allein auszukosten, ließ er sich daher nicht entgehen.

    »Anhalten«, brüllte er so autoritär wie er es vermochte und damit erheblich lauter als nötig.

    Augenblicklich erstarrte Sirany in ihrem Schritt. Vorsichtig hob sie den Kopf, um einen Blick auf ihr Gegenüber zu erhaschen. Als sie die Soldatenuniform erkannte, übersprang ihr Herz glatt einen Schlag. Dann wummerte es in ihrer Brust wie eine durchgehende Pferdeherde.

    »Was machst du hier?«, bellte der Mann in einem Ton, der sie bis in die Knochen erzittern ließ. »Warum gehst du hier entlang? Das ist verboten.«

    Natürlich war das verboten. Aber bisher hatte sie niemand erwischt.

    Sirany machte einen unschlüssigen Schritt zurück und überlegte, ob sie die Zeit hatte, sich umzudrehen und die Flucht in das Dorf zu wagen. Möglicherweise konnte sie sich dort verstecken.

    Der Soldat stand jedoch zu nahe, hatte sie sogar bereits am Umhang gepackt. Sekunden später riss er ihr die Kapuze vom Kopf und starrte sie verdutzt an.

    Über die Jahre hinweg hatten sie und ihre Eltern es zu vermeiden gewusst, Sirany in der Öffentlichkeit zu zeigen. Stets war sie den unauffälligsten Weg gegangen, stets den Soldaten ausgewichen. Nun war das eingetreten, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hatte.

    Auch dem Soldaten dämmerte, was er da vor sich hatte. Eine Trophäe, eine Seltenheit in diesem Bezirk. Sein Lehnsherr würde sich als sehr dankbar erweisen, wenn er ihm dieses Juwel zuführte.

    Sirany las in seinen Augen, was er dachte; er versäumte es, in den ihren zu lesen. Mit der Kraft der Verzweiflung schlug sie ihm die Faust ins Gesicht, riss sich los und sprang an ihm vorbei.

    Ein trainierter Soldat war bestimmt auf offenem Feld schneller als sie, daher rannte sie nicht zurück ins Dorf, sondern auf den Fluss zu. Dahinter erstreckte sich unbeweglich der schneeverhangene Wald, sprach von Sicherheit und Geborgenheit – wenn sie ihn denn erreichen konnte.

    Der Schlag ins Gesicht hatte den Soldaten nur überrascht und nicht verletzt. Nun wirbelte er mit einem wütenden Schrei herum und sprang ihr hinterher, bekam einen Zipfel ihres Umhangs zu packen und wollte sie zurückreißen.

    Sirany befreite sich im letzten Moment von dem störenden Kleidungsstück, stolperte vorwärts und hielt nun direkt auf eine winzige Holzbrücke zu. Im Wald kannte sie sich aus, dort konnte sie auch ihre Wendigkeit zu ihrem Vorteil nutzen. Aber erst einmal musste sie die Baumgrenze erreichen.

    Ihr wurde klar, dass sie es nicht schaffen würde, als sie den ersten Fuß auf die alte Holzbrücke setzte. Der junge Mann, mit längeren Beinen und größerer Schnelligkeit ausgestattet als sie, hatte sie erreicht, noch bevor sie über die Hälfte der Planken gehuscht war.

    Mit einem Triumphgeheul warf er sich auf sie, packte sie an der Taille und zerrte sie zurück auf das gegenüberliegende Ufer. Sirany schlug wild nach ihm, versuchte ihn zu treten und zu beißen. Er fing spielend leicht ihre Fäuste ab. Gleich darauf versetzte er ihr einen Hieb ins Gesicht, der sie rücklings zu Boden schleuderte.

    Er setzte ihr nach, drückte sie mit seinem ganzen Gewicht hinunter und hockte sich rittlings auf sie. Mit einer Hand hielt er ihre beiden Hände fest, presste sie weit über ihrem Kopf in den Schnee, während er mit der anderen ihren Hals umklammerte und anfing, sie zu würgen.

    Augenblicklich erlahmte Siranys Gegenwehr. Sie hatte dieses tödliche Glitzern schon oft in den Augen junger Soldaten bemerkt, die in ihren kurzen Leben zu viele schlimme Dinge hatten sehen müssen.

    Erst als sie sich kaum noch rührte, gab der Mann ihren Hals frei, um sich nun über sie zu beugen und sie breit anzugrinsen.

    »Na, mein Täubchen? Was mache ich nun mit dir?«

    In seinem Blick sah Sirany, dass es eine rein rhetorische Frage war. Er wusste sehr genau, was er mit ihr machen wollte. Er verlagerte leicht sein Gewicht, drückte nun mit dem Gesäß ihren Bauch in den Schnee, presste sie an den Boden.

    Sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Kalte Angst ergriff sie, während der eisige Schnee jede Ritze ihrer Kleidung eroberte und sich durch ihre Knochen fraß. Gleichzeitig hämmerte ihr Herz, als wollte es zerspringen, steigerte sich sogar, als der Mann mit der freien Hand über ihren Busen glitt.

    Sie schrie auf, wand sich unter ihm. Er hielt sie eisern am Boden und erfreute sich an ihrer Panik.

    Sie hörte den Fluss plätschern. Keine zwei Fuß neben ihrem Kopf befand sich die kleine Böschung, die hinunter zum kalten Wasser führte. Konnte sie ihn dort hineinstoßen? Über den Rand hinweg?

    Sie verwarf diesen Gedanken wieder, als er mit seiner eiskalten Hand über ihre Kleidung huschte, sich einen Weg zu ihren Beinen suchte. In den glitzernden Augen des Soldaten sah sie plötzlich aufkommende Erregung, vermischt mit dem berauschenden Gefühl, jemand anderen in der Gewalt zu haben.

    Mit dem Mut der Verzweiflung unternahm Sirany eine letzte Kraftanstrengung, zog die Beine an und trat mit den angewinkelten Knien nach ihm.

    Sie traf seinen Rücken. Durch den unverhofften Stoß fiel er nach vorn und lockerte seinen Griff um ihr Handgelenk gerade genug, dass sie sich befreien konnte. Wild schlug sie ihm beide Hände ins Gesicht, drückte ihn von sich fort und versuchte von ihm wegzu­krabbeln, doch er packte sie an den Haaren und riss sie zu ihm zurück.

    Auf den Knien hockend kämpften sie weiter verbissen miteinander. Er hatte die Hände in ihren Haaren verkrallt, während sie seine Handgelenke umklammert hielt.

    Siranys Kräfte erlahmten und allmählich ahnte sie, dass es für sie keine Fluchtmöglichkeit mehr gab. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Das Einzige, was ihr übrig blieb, war, auf seine Gnade zu hoffen. Auf eine Gnade, die der Mann in seiner Erregung nicht kennen würde.

    Doch dann bemerkte sie am Waldrand eine Bewegung. Es war nur ein kurzes Rascheln der Zweige, eine winzige Veränderung unter einem Baum. Sie sah niemanden, spürte aber, dass dort etwas war.

    Etwas, was sie beobachtete.

    Gerade wollte sie der Soldat wieder in den Würgegriff nehmen, als der Schatten am Waldrand plötzlich Gestalt annahm. Ein Mann trat zwischen den Bäumen hervor, einen Bogen im Anschlag, den Pfeil bereits auf der Sehne. Er zögerte nicht eine Sekunde, zielte kurz und schoss.

    Sirany hörte den dumpfen Aufschlag des Pfeils direkt neben ihrem Ohr. Genau dort, wo sich der Hals des Soldaten befinden musste. Es folgte ein wilder Schmerzenslaut, danach ein seltsames Gurgeln.

    Anstatt sie endlich freizugeben, krallte sich der Mann an ihr fest, wollte sie selbst in seinem Todeskampf nicht freilassen.

    In Panik schlug Sirany erneut nach ihm und sprang aus der Hocke nach vorn, in der Hoffnung, ihm so entkommen zu können. Zu spät fiel ihr ein, dass sich dort die Uferböschung befand – und die führte direkt hinab in den eiskalten Fluss.

    Ehe sie es sich versah, rutschte sie haltlos das kurze, steile Stück hinunter. Sekunden später umhüllte sie der eisige Fluss mit seinem kalten Nass, riss sie mit seiner ganzen Kraft vom Ufer fort in seine Mitte, genau dahin, wo der Strom am stärksten war. Normalerweise schlummerte der Dorffluss friedlich vor sich hin, nur nicht zu dieser Jahreszeit. Dann schwoll er zu einer bedrohlichen Sintflut an, riss alles mit sich, was sich in seine Fänge begab.

    Genauso verfuhr er nun auch mit Sirany, lähmte sie zuerst mit seiner Kälte und versuchte anschließend, sie in den dunklen Tiefen zu ertränken.

    Elendar Assaim hatte es nur gut gemeint. Er wollte das Mädchen retten und nicht umbringen. Wirklich.

    Stattdessen musste er nun mit ansehen, wie das Mädchen die Böschung hinunterrutschte und vom wild donnernden Fluss verschluckt wurde. Es tauchte einmal komplett unter, kam prustend wieder zum Vorschein und kämpfte verzweifelt um sein Leben, versuchte panisch das rettende Ufer zu erreichen.

    Elendar reagierte sofort. Hastig ließ er Pfeil und Bogen zu Boden fallen und rannte am Ufer entlang, dem von den Fluten davon­getragenen Mädchen hinterher.

    Er war von Kind auf stets der Schnellste und Wendigste gewesen, doch dies war eine neue Herausforderung. Der Fluss war reißend, spielte mit der gefangenen jungen Frau, als sei sie nur ein albernes Spielzeug, riss sie mehr und mehr von ihm fort.

    Gerade als Elendar aufgeben wollte, sah er ihren Schopf wieder aufblitzen. Sie musste all ihre Kraft zusammengenommen haben, um sich an den Rand des Flusses zu retten. Dort floss das Wasser etwas langsamer – und genau das verschaffte Elendar die Möglichkeit, wieder aufzuschließen.

    Sirany indes verkrallte sich mit ihren Händen in einem Stein, drei Schritt vom Uferbereich entfernt. Das Moos war glitschig zwischen ihren Fingern, ihr Halt war mehr als bedenklich. Wütend zerrte der Fluss an ihr und ihren Kleidern, versuchte sie in die tieferen Bereiche seines Reiches zu ziehen. Doch noch gab Sirany nicht auf.

    Sie wusste, dass sie sterben würde, wenn sie es nicht bis ans Ufer schaffte. Mit der gleichen Gewissheit wusste sie auch, dass sie nicht sterben wollte. Also kämpfte sie wie nie zuvor in ihrem Leben. Gegen die Kälte, gegen den Sog. Doch langsam, ganz langsam kroch der Tod in ihre Glieder. Die Kälte machte sie taub und gefühllos, ihre Finger gehorchten ihr immer weniger. Sie zwang sich dennoch, nicht loszulassen.

    Elendar erblickte sie in der Sekunde, als ihre Kraft sie gerade verließ. Ihre Hand löste sich unaufhaltsam von dem rettenden Stein, Finger für Finger. Dann war da … nichts mehr, nur der unendliche Sog. Der Fluss packte wieder zu und zerrte sie mit sich. Sie ging unter.

    Daher sah sie den spektakulären Hechtsprung nicht, den Elendar in dieser Sekunde vollführte.

    Der junge Mann warf sich hinein in die Fluten, lang gestreckt, jeder Muskel angespannt. Er wusste: Er hatte nur eine Chance, sie zu packen. Er erwischte einen ihrer Arme, fasste zu und hielt ihren davontreibenden Körper auf.

    Mit aller Kraft stemmte er die Beine in den Uferschlamm und lehnte sich gegen die Kraft des Flusses. Das Rauschen des Wassers dröhnte in seinen Ohren. Er schaffte es, sich aufrecht zu halten und die junge Frau zu sich heranzuziehen. Schritt für Schritt schleppte er sich Richtung Ufer, die Fremde mit sich ziehend. Dann endlich erreichte er trockene Erde. Der Sog ließ nach und er konnte sie in seine Arme und aus dem Wasser ziehen.

    Zwei Schritte, drei. Schließlich hatte er den Fluss besiegt. An Ort und Stelle ließ er sich und die Fremde zu Boden gleiten. Ihr Atem ging hektisch und er gefror augenblicklich zu feinen weißen Dampfwolken vor den Mündern. Das erinnerte ihn unweigerlich an die eisige Kälte.

    Das Mädchen lag wie tot vor ihm. Es hatte die Finger seltsam verkrampft, zuckte wie im Todeskampf und atmete nur stoßweise. Die Haut schimmerte milchig weiß und hatte jegliche Farbe verloren. In den Haaren glitzerten bereits die ersten Eiskristalle wie funkelnde Edelsteine.

    Elendar wusste, dass sie erfrieren würde, wenn er nicht bald etwas unternahm.

    Mit fahrigen Fingern zog er seinen Dolch, setzte ihn an der Kleidung der jungen Frau an und begann, sie aufzuschneiden. Die letzten Fetzen riss er regelrecht von ihrem Körper, während sie es willenlos über sich ergehen ließ. Er sah in ihrem Blick helle Panik, vermischt mit Resignation und Unglauben. Dennoch unternahm sie keinen Versuch, seinen Fingern zu entkommen, selbst dann nicht, als er sie bis auf die nackte Haut entkleidet hatte.

    Ohne ein Wort mit ihr zu wechseln, entledigte er sich ebenfalls seiner nassen Kleidung. Dann zog er ihren Körper zu sich heran, presste ihn an sich und umhüllte sie beide mit seinem Mantel, den er aus reinem Instinkt am Ufer hatte liegen lassen, bevor er dem Mädchen in die eisigen Fluten gefolgt war.

    Dieses eine trockene Kleidungsstück war nun ihre einzige Hoffnung, sie vor dem Erfrieren zu bewahren.

    Sirany lag wie erstarrt in den Armen des fremden Mannes. Er hatte ihren Kopf gegen seine Brust gepresst, die Arme fest um ihren Körper geschlungen und den Mantel wie einen schützenden Kokon um sie beide gelegt. Er lag halb auf ihr, presste seine nackte Haut auf ihre, um seine Körperwärme mit ihr zu teilen.

    So lagen sie eine Ewigkeit da, während das Mädchen dem sanften Herzschlag ihres Retters lauschte. Am Anfang hatte sein Herz gehämmert, als wollte es einen Wettbewerb gewinnen, nach und nach hatte es sich jedoch beruhigt.

    Die beiden wussten, dass sie nicht ewig so liegen bleiben konnten. Früher oder später würde die Kälte sie töten, die nun unweigerlich auch durch den Mantel drang. Durch die geringe Körperwärme, die von dem Mann ausging, erwachten wenigstens Siranys Arme und Beine zum Leben.

    Sie begann, sich zu entspannen. Immerhin hatte der Mann bisher keinerlei Anstalten gemacht, über sie herzufallen – so wie es der Soldat nur Minuten vorher getan hatte.

    Das Gebüsch bewegte sich direkt neben ihren Köpfen und ein in dicke Felle gehüllter Mann trat hervor. Er erstarrte bei dem seltsamen Anblick.

    Verwundert fragte der Fremde ihren Retter etwas in einer Sprache, die Sirany nicht verstand. Dieser antwortete kurz und knapp, erst danach trat der Fremde zu ihnen und legte eines seiner Felle über sie.

    Für einige Zeit bewegte sich niemand. Sirany fühlte sich durch die Anwesenheit des Fremden bedrängt, verängstigt. Sie lag nackt unter einem Mantel und einem Fell, umgeben von zwei Männern, denen sie niemals in ihrem Leben begegnet war.

    Sie war ihnen völlig ausgeliefert.

    Als sich ihr Retter neben ihr bewegte und dabei mit dem Arm über ihre Brust strich, erstarrte Sirany vor Schreck und wagte keinen Atemzug. Zum Glück war die Berührung nur zufällig gewesen. Ihr Retter richtete sich lediglich auf und befreite sich von den Über­würfen. Fröstelnd schlang er die Arme um sich und nahm dankbar den Mantel entgegen, den ihm der Fremde hilfreich entgegenhielt.

    Erst nachdem er sich fest eingehüllt hatte, drehte er sich zu Sirany um. Die hatte sich mittlerweile aufgerichtet und saß nun mit wild klappernden Zähnen da. Ängstlich presste sie die beiden Kleidungsstücke an sich und versuchte sich damit so gut es ging zu verhüllen.

    »Du musst dich bewegen, wenn du nicht erfrieren willst«, sagte ihr Retter unverhofft.

    Seine Stimme klang weich, fast wohltuend beruhigend, mit einem sehr starken Akzent, den Sirany nicht einzuordnen vermochte.

    Sirany war nicht fähig zu sprechen. Ihre Lippen zitterten zu sehr vor Kälte, ihr gesamter Unterkiefer war vor Eis wie erstarrt. Also nickte sie lediglich und bemühte sich nach Kräften, auf die Beine zu kommen. Sie schaffte es erst, als ihr Retter ihr hilfreich unter die Achseln griff.

    Dann stand sie da. Zitternd, halb von Sinnen vor Kälte, fast nackt und völlig ungeschützt. Sie stand knöcheltief im Schnee, barfuß, denn ihre Schuhe waren im Fluss verloren gegangen. Ihr war, als müsste sie jeden Moment erfrieren.

    Elendar betrachtete das Mädchen einen Moment prüfend und befand, dass er sich erst um sich selbst kümmern musste, um ihr helfen zu können. Efnor hatte zum Glück die Angewohnheit, mit Fellen bepackt wie ein frierender alter Esel herumzulaufen. An wärmenden Decken mangelte es ihnen daher nicht.

    Efnor gab so viel ab, wie er entbehren konnte, und reichte schließlich sogar seine letzte Lage Fell an das Mädchen weiter. Nun stand auch er frierend da, nur noch bekleidet mit seinem alten, löchrigen Hemd. Er war jedoch Kummer gewohnt und kümmerte sich nicht weiter um die Kälte.

    »Hol Hilfe«, wandte sich Elendar an seinen Freund und sprach extra Assarisch, damit das Mädchen ihn nicht verstand. »Wir brauchen ein Pferd, um schneller ins Lager zu kommen. Sag Sheyn, er soll Steine ins Feuer legen und Felle warm halten. Wir gehen euch entgegen.« Eine Sekunde zögerte er, dann fügte er hinzu: »Am Fluss­ufer liegt ein toter Soldat. Findet und vergrabt ihn, bevor er Aufsehen erregt. Macht rasch.«

    Efnor fragte nicht weiter nach, sondern nickte nur und eilte davon, hinein in den Wald. Einen Moment blickte Elendar seinem Freund hinterher, erst danach drehte er sich zu dem Mädchen um.

    Das stand nach wie vor wie zur Salzsäule erstarrt da und zitterte vor sich hin. Wenigstens zitterte es wieder. Das war schon mal ein gutes Zeichen.

    Elendar trat neben die junge Frau, zog ihr die Felle so fest er konnte um den Oberkörper und sah sie streng an.

    »Wir müssen uns bewegen, sonst sind wir so gut wie tot. Versuch es wenigstens.«

    Wie in Trance nickte sie, machte einen zaghaften Schritt und knickte augenblicklich ein. Elendar zog sie seufzend wieder auf die Beine und drängte sie nach vorn.

    »Du musst gehen«, ermahnte er sie und zog sie mehr hinter sich her, als dass sie selbstständig ging. Auch ihm tat mittlerweile alles weh. Außerdem macht er sich heftige Sorgen um seine Zehen, die er kaum spürte. Seine Schuhe waren völlig durchweicht und boten keinen Schutz gegen die Kälte. Wenigstens hatte er welche, im Gegensatz zur jungen Frau.

    Sie verließen das Ufer des Flusses und drangen in den schnee­bedeckten Wald ein. Äste knackten unheimlich unter ihrer Last, hier und da segelte ein Zweig zu Boden. Ansonsten war alles still, nur durchbrochen von den keuchenden Lauten der beiden Menschen.

    Sirany war mittlerweile übel. Wie in einen dichten Nebel gehüllt stolperte sie hinter dem Fremden her, der sie unerbittlich vorwärtsdrängte. Ihr Körper schmerzte heftig und die Brust war wie eingeschnürt. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, die sie dem Mann folgte, eine Ewigkeit, in der sie durch die Hölle ging. Schließlich war sie mit den Kräften am Ende. Der Kampf mit dem Soldaten, die nackte Panik vor einer Vergewaltigung, das alles hatte sie geschwächt, der Sieg über die eisigen Fluten hatte sie an den Rand ihrer Fähigkeiten gebracht. Der Marsch durch diese eisige Hölle überstieg nun ihre Kräfte.

    Elendar fing sie gerade noch auf, als sie zusammenbrach. Er ließ sie in den Schnee gleiten und stützte ihren Oberkörper ab.

    »Ich kann nicht …«, flüsterte sie. Dabei krallte sie sich in seinen Fellumhang, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Elendar gab ebenfalls auf. Auch er konnte sich kaum rühren. Eine eigenartige Müdigkeit umgab ihn. Schweigend zog er das Mädchen dicht an sich heran. Es vergrub sein Gesicht an seiner Brust. So verharrten sie.

    Keine zwei Minuten später kamen endlich die Pferde – und die brachten sie sicher in das Lager. Dort warteten warme Felle und ein heißes Feuer auf sie.

    Später erinnerte sich Elendar nicht mehr vollständig an das Geschehene. Er hatte das Mädchen zu sich auf sein Gebirgspony genommen und war im Jagdgalopp durch den Wald gestürmt, so schnell es der winzige Wanderpfad zuließ. Im Lager angekommen, hatte er das Mädchen vom Rücken seines Tieres gezogen und in sein Zelt getragen, hatte es mit Decken und warmen Steinen bedeckt und war anschließend zu ihm unter die Felle gekrochen.

    Kapitel 2

    Elendar Assaim war ein praktisch denkender Mensch. Mit seinen knapp zwanzig Jahren hatte er sich eine Art mit Menschen umzugehen angewöhnt, die für sein Alter völlig untypisch war. Seine Männer taten gern, was er ihnen auftrug, und sie folgten seinen Befehlen, ohne sie anzuzweifeln.

    Trotz seiner jungen Jahre wirkte Elendar sehr weltgewandt. Beinahe weise. Ruhe und Gelassenheit waren zwei seiner Tugenden, hinzu kamen Klugheit und Führungstalent. Ein gewisser Grad an Skrupellosigkeit, gepaart mit seiner unbändigen Treue zu seinem Volk, formte ihn zu einer ernsthaft gefährlichen Persönlichkeit.

    Jetzt gab er eher eine klägliche Figur ab, als er sich zitternd wie ein Baby an die junge Sirany schmiegte. Ihm war kalt, was man angesichts der eisigen Temperaturen durchaus verstehen konnte, und er suchte verzweifelt jede Art von Körperwärme.

    Sirany war zum Glück so in ihrem Nebel versunken, dass sie den männlichen Körper, der sich so hartnäckig an ihre Seite presste, erst sehr viel später bemerken sollte. Wenn sie bereits zu dieser Zeit bei Sinnen gewesen wäre, um Elendars Haut so dicht an der ihren zu spüren, wäre sie vor Angst gestorben.

    So retteten sie sowohl ihre Nähe zueinander als auch die dicken Decken, die Elendars Männer rasch über sie ausbreiteten. Heiße Steine wurden linkisch unter die Felle, auf denen sie lagen, geschoben und ein kleines Feuer im Zelt errichtet, gerade groß genug, um zu wärmen, und klein genug, um nichts zu verbrennen.

    Dann ließ man die beiden in Ruhe, allerdings nicht ohne einige spitze Bemerkungen über ihren engen Körperkontakt auszutauschen.

    Sirany wurde davon wach, dass ihre Knochen wie wild prickelten. Die Wärme drang langsam durch ihre Haut hindurch, erhitzte ihren Körper und erweckte die erstarrten Muskeln zu neuem Leben.

    Der Schmerz, der dabei entstand, hatte Sirany aus ihrem Erschöpfungs­schlaf gerissen. Einen Moment lag sie völlig orientierungslos da, blickte verwirrt zur Decke und versuchte sich zu erinnern, wo sie war.

    Erst als sie ruhige Atemzüge direkt neben ihrem Ohr vernahm, kam die Erkenntnis schlagartig zurück.

    Sie war in den Fluss gefallen und ein seltsamer Mann hatte sie herausgefischt, sie zu sich ins Lager mitgenommen und sie zugedeckt.

    Jetzt lag er dicht neben ihr, hatte wie selbstverständlich einen Arm um sie geschlungen und hielt sie fest an sich gepresst. Sein Kopf lag genau in der Kuhle zwischen ihrem Kopf, dem Hals und der Schulter, seine Brust schmiegte sich an ihre Seite.

    Augenblicklich erstarrte sie, als sie bei jedem seiner Atemzüge sein Brusthaar an ihrer Seite auf und ab streichen spürte. Sein Arm, der auf ihrem Bauch lag, bewegte sich im gleichen Rhythmus.

    Sirany hatte bisher keinerlei Kontakt zum männlichen Geschlecht gehabt. Sicherlich hatte sie bereits den einen oder anderen Mann nackt gesehen – beim Baden im Teich zum Beispiel, wo sie den alten Ziegenhirten versehentlich überrascht hatte, oder ab und zu mal ihren Vater.

    Sie hatte sogar einmal ein Pärchen gesehen, das sich leidenschaftlich hinter einem Gebüsch geliebt hatte. Vom Stöhnen angelockt, hatte Sirany nachsehen wollen, ob dort nicht jemand verletzt lag und ihre Hilfe benötigte. Erst nach einem intensiven Blick auf das Geschehen hatte sie feststellen müssen, dass diese Laute durchaus einen sehr zufriedenen Ton innehatten.

    Sie selbst war niemals von einem Mann außerhalb ihrer Familie umarmt worden – weder auf die freundschaftliche noch auf die erotische Weise. Der junge Ziegenhirte hatte sie einmal geküsst und sogar kurz ihre Brust betatscht. Dieses Erlebnis hatte sie vorerst Abstand nehmen lassen von jeglicher männlicher Nähe.

    Bis jetzt.

    Sirany wusste nicht recht, was sie denken sollte. Zum einen hatte sie natürlich Angst, denn sie kannte den Mann nicht und es war auch nicht zu leugnen, dass sie beide auf eine höchst unziemliche Art und Weise nebeneinanderlagen. Man hätte es durchaus für eine Szene nach einem sehr intensiven Liebesspiel halten können.

    Zum anderen war Sirany mit einer ausgeprägten Neugierde gesegnet, weswegen sie zugleich auch sehr fasziniert von dem Mann war, der da neben ihr lag.

    Die Wärme, die von ihm ausging, war ausgesprochen beruhigend, die gleichmäßigen Atemzüge gleichsam einschläfernd.

    Eine Weile lag Sirany da, ohne sich zu bewegen, lauschte auf ihre Umgebung und sortierte ihre Eindrücke.

    Sie lag in einem Zelt, das schon reichlich altersschwach aussah. Spärliches Licht fiel durch den angemoderten Stoff, es mochte früher Abend sein. Die Felle, auf denen sie lag und die sich zugleich auf ihr stapelten, waren kratzig und unbequem. Zumindest waren sie warm. Ansonsten konnte sie rein gar nichts erkennen.

    Wie immer, wenn man über seine Lage nachdenkt, kommt einem auf einmal die Art, wie man gerade daliegt, sehr unbequem vor. So erging es nun auch Sirany. Zudem brachte sie ihre Neugierde, sich ihren Retter genauer ansehen zu können, fast um.

    Also drehte sie sich langsam auf die Seite, möglichst darauf bedacht, den Schlafenden nicht zu wecken. Als er sich bewegte, erstarrte sie augenblicklich, wurde voller Staunen aber nur fester herangezogen. Der fremde Arm verlagerte sich vom Bauch auf ihre Taille und der Kopf des Fremden ruhte nun parallel zu ihrem eigenen.

    Das, was Sirany jetzt betrachten konnte, gefiel ihr.

    Ihr Retter war keineswegs so alt, wie sie angenommen hatte. Etwa drei, vier Jahre älter als sie selbst. Seine noch jugendlichen Züge waren im Moment entspannt, ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

    Er hatte langes schwarzes Haar, das ihm bis zur Schulter reichte. Die meisten Strähnen waren in kleine Zöpfe geflochten. Als wild aussehend hätte man ihn am besten beschreiben können, obwohl ihm dazu der lange Bart fehlte.

    Der Fremde war hübsch, entschied Sirany. Ohne die wilden Haare würde er gewiss besser aussehen, zumal sich in ihnen noch etwas Schlamm vom Fluss befand. Aber leider waren Kurzhaarfrisuren seit dem Überfall auf ihr Land aus der Mode gekommen.

    Sirany war ganz ins Betrachten vertieft, als sich sein Lächeln verbreiterte und er, ohne die Augen zu öffnen, fragte: »Gefällt dir, was du siehst?«

    Augenblicklich schoss Sirany das Blut ins Gesicht. Rasch sah sie fort. Als sie das nächste Mal in das Gesicht ihres Retters blickte, hatte er die Augen geöffnet. Braune Augen blickten sie freundlich an, studierten ihr Gesicht nun ebenfalls.

    Sirany brauchte einen Moment, um sich zu fangen, dann lächelte auch sie.

    »Du brauchst eine Frisur.«

    Der junge Mann zog eine Augenbraue hoch, nahm seinen Arm in der gleichen Bewegung von ihrer Taille und rückte etwas von ihr ab. Erst jetzt bemerkte Sirany, dass sie auf seinem anderen Arm lag, seine Hand hatte bis gerade eben auf ihrem Rücken geruht. Nun zog er auch diese zurück und brachte einen einigermaßen sittsamen Abstand zwischen sich und Sirany, aus dem man sich getrost vorstellen konnte.

    »Verrätst du mir deinen Namen? Ich würde gern wissen, welche Wassernymphe ich aus dem Fluss gefischt habe.« Seine Stimme klang angenehm, etwas rau und dunkel vom Schlaf und durchaus freundlich.

    »Sirany. Mehr brauchst du nicht zu wissen. Wo sind meine Kleider?« Es war Sirany sehr daran gelegen, etwas Stoff auf ihre Haut zu bekommen.

    »Ist dir noch kalt, Sirany?«

    »Nein.«

    »Dann brauchst du auch keine Kleider.«

    Einen Moment war Sirany sprachlos. Anstatt giftig zu antworten, richtete sie sich vorsichtig auf. Sie zog sich eines der Felle so hoch es eben ging über die Brust und blickte sich suchend um.

    »Du wirst hier höchstens ein Wollhemd von mir finden«, erklärte Elendar, gähnte herzhaft und schlug nun ebenfalls die Felle beiseite.

    Er richtete sich auf und streckte sich ausgiebig. Dann stand er langsam auf und ging zu einem Kleiderhaufen hinüber.

    Sirany starrte ihn sprachlos an. Sie hatte gewusst, dass ihr Gegenüber nackt neben ihr lag, aber doch nicht so nackt!

    Aus Anstand wollte sie sich schnell von seinem Anblick lösen, doch strahlte der muskulöse männliche Körper, der sich ihr unvermittelt offenbarte, eine verheerende Faszination aus.

    Da er ihr seinen Rücken zudrehte und dabei von ihr fortging, hatte sie eine wunderbare Aussicht auf sein Hinterteil, die langen, muskulösen Beine und das breite Kreuz. Muskeln hatte er, definitiv …

    Etwas stimmte nicht mit seinem Rücken. Erst nach genauerem Hinsehen stellte Sirany fest, dass die Haut von Dutzenden von Narben übersät war. Eine wahre Kraterlandschaft aus wirren Mustern unterschiedlich verheilter Haut.

    Die meisten dieser Narben mussten sehr alt sein.

    »Könntest du deinen Blick abwenden, damit ich mich ankleiden kann?«, erkundigte sich Elendar unvermittelt. »Das ist ein Gebot des Anstandes.«

    Rasch riss sich Sirany von seinem Anblick los, schielte jedoch weiterhin in seine Richtung.

    »Was hast du mit deinem Rücken angestellt?«

    Überrascht über die unverhoffte Frage, drehte sich Elendar zu dem Mädchen um, seine Hose unangezogen in den Händen haltend.

    »Du bist aber direkt«, sagte er verblüfft.

    Sirany hoffte auf eine Antwort. Als die ausblieb, wechselte sie das Thema. »Du gehörst zu den Assaren, nicht wahr?«

    Elendar seufzte tief. »Schüchternheit gehört schon einmal nicht zu deinen Tugenden.«

    »Sei froh, sonst hätte ich bereits den gesamten Wald zusammen­geschrien. Ich liege splitterfasernackt auf deinem Bett und kenne nicht einmal deinen Namen.«

    Während sich Elendar sein Hemd über den Kopf zog, bedachte er das Mädchen mit einem Schmunzeln. »Ja, ich gehöre zu den Assaren. Mein Name ist Elendar. Elendar Assaim, um genau zu sein.«

    »Ich habe mir euch ein wenig … grobschlächtiger vorgestellt.« Sirany legte den Kopf schräg und betrachtete ihr Gegenüber nun eher ungeniert.

    »Wenn ich wirklich so grobschlächtig wäre, wie von den Assaren behauptet wird, dann hätte ich nicht neben, sondern auf dir gelegen.«

    Über das Gesicht, das Sirany nun zog, musste Elendar lachen. Er warf ihr ein altes Hemd zu und schnürte danach seine Stiefel.

    »Ich werde dir eine Hose organisieren. Deine Sachen liegen leider am Fluss und wurden wahrscheinlich bereits von meinen Leuten entsorgt – die waren nach der Bekanntschaft mit meinem Dolch ohnehin unbrauchbar. Hast du Hunger?«

    Sirany nickte und presste sich dankbar das wollende Hemd an die Brust.

    »Gut, dann werde ich uns jetzt was zu essen besorgen. Ich mache mich bemerkbar, wenn ich wieder hereinkomme. Deine Schüchternheit scheint wenigstens so weit ausgeprägt zu sein, dass du dich nicht vor mir anziehen willst.«

    Unwillkürlich streckte ihm das Mädchen die Zunge heraus. Er lachte nur über diese Geste und verließ das Zelt.

    Als Elendar neben seine Männer trat, schnitten diese bereits bezeichnende Gesichter. Kusshändchen, die ihm zugeworfen wurden, und gespieltes Augenklimpern waren die sittsamsten Gesten.

    »Na, wie war die Kleine?«, wurde er sogleich von Sheyn begrüßt, der sich das Lachen kaum verkneifen konnte. »War sie unnahbar wie Eis?«

    Elendar beachtete die derben Sprüche seiner Männer nicht weiter, sondern beugte sich stattdessen über den Topf und begutachtete den Inhalt.

    »Was ist das? Pferdeäpfel?«

    »Dein Soldat vom Fluss. Ist ein bisschen zäh, aber recht schmackhaft. Du hast gesagt, wir sollen ihn entsorgen.«

    »Sehr witzig. Hört auf, solche Sachen zu sagen, sonst werden die Gerüchte um uns noch schlimmer.« Genervt holte sich Elendar zwei Schüsseln und löffelte den seltsamen Eintopf hinein. »Sind Soldaten in den Wald gekommen, um nach dem Vermissten zu suchen?«

    »Ja. Waren sogar hier und fragten nach ihm. Haben ihnen natürlich nichts gesagt. Haben ihnen was vom Eintopf angeboten. Wollten aber nichts.«

    Vorsichtig probierte Elendar etwas von dem Eintopf und war erleichtert, als er definitiv Hirschfleisch schmeckte. Bei seinen Männern konnte man nie genau wissen, was sie als essbar ansahen. Kannibalen waren sie nicht, nur in manchen Dingen besorgniserregend praktisch veranlagt. Da landete auch mal eine Schuhsohle im Essen.

    »Zack, ich brauche eine Hose von dir. Du hast die schmalsten Hüften. Dem Mädchen passen deine Sachen am besten.«

    Zack war es ausgesprochen peinlich, auf einmal im Mittelpunkt der Spötteleien zu stehen. Daher stand er rasch auf, um seinem Anführer die gewünschte Hose zu holen.

    Efnor räusperte sich unvermittelt. Augenblicklich kehrte Ruhe ein.

    »Jetzt mal ohne Flachs, Elendar. Was hast du dir dabei gedacht, das Mädchen hierherzuschleppen? Es zu retten ist eine Sache, sie gleich ins Lager der Assaren zu bringen eine ganz andere. Außerdem hast du einen Soldaten aus Kumas Reihen getötet.«

    Elendar hatte mit derartigen Vorwürfen bereits gerechnet.

    »Wenn ich sie hätte dort liegen lassen wollen, hätte ich ihr gar nicht erst in den Fluss hinterherspringen zu brauchen. Außerdem sind wir ihr was schuldig.«

    Jetzt starrten ihn gut zwanzig Männer wie verwundert drein­blickende Hornochsen an.

    »Besonders du, Efnor, stehst in ihrer Schuld. Ohne die fieber­stillenden Mittel wärst du damals garantiert gestorben.«

    Stille trat ein, unterbrochen von Zacks Stampfen, als er zurückkam und Elendar die Hose überreichte.

    »Das war sie?«

    »Ja.«

    Damit war die Sache für Elendar erledigt und er stand auf, um dem Mädchen die Hose und das Essen zu bringen.

    Wie angekündigt, klopfte er zuerst gegen das Holzgestell des Zeltes und trat dann erst ein. Sirany saß mit angewinkelten Beinen auf dem Haufen Felle.

    Als sie den Mann eintreten sah, zog sie sich rasch das Hemd weiter hinunter und warf Elendar ein freundliches Lächeln zu. Er erwiderte die Geste, trat an sie heran und reichte ihr die Hose zusammen mit dem Essen.

    Sie nahm beides dankbar entgegen und deutete gleichzeitig auf ihre Füße.

    »Ich glaube, ich habe zwei Zehen verloren.«

    Mit einem Mal wirkte sie nicht mehr so fröhlich wie zuvor. Elendar beugte sich vor und betrachtete ihre Füße nachdenklich. Sie waren ganz blau, zwei Zehen begannen sich gräulich zu färben.

    »Zieh dich an. Ich hole dir heißes Wasser. Da kannst du deine Füße drin baden. Eventuell bringt sie das wieder ins Leben.«

    Erst nachdem Elendar das Zelt wieder verlassen hatte, zog sich Sirany vorsichtig weiter an. Ihr Fuß war taub von der Kälte, einige Zehen hingegen schmerzten schrecklich. Von den zwei gräulich verfärbten spürte sie nichts.

    Keine fünf Minuten später kam Elendar zurück, setzte einen großen Topf zu ihren Füßen ab und machte eine einladende Bewegung. Sirany wusste, dass ihr nun nichts anderes mehr übrig blieb und fügte sich in ihr Schicksal. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht tunkte sie ihre Füße in das Wasser und verbiss sich die aufsteigenden Tränen.

    »Verdammt, tut das weh«, war alles, was sie sagen konnte.

    Elendar setzte sich neben sie. Er war sich nicht sicher, was er jetzt mit dem Mädchen anfangen sollte, und daher schwieg er. Sirany betrachtete währenddessen misstrauisch ihre Füße. Auch sie blieb ruhig, während sich ihr Herzschlag langsam beschleunigte. Mit Stille war sie niemals gut klargekommen. Einen frostig schweigenden Assaren dabei neben sich sitzen zu haben, war noch viel beängstigender. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus.

    »Was habt ihr jetzt mit mir vor?«

    Elendar ließ sich Zeit mit der Antwort. »Dich zurückbringen, sobald es das Wetter zulässt. Du hast uns in all den Monaten nicht verraten, dann wirst du es jetzt erst recht nicht mehr tun.«

    Sirany warf ihm einen überraschten Blick zu.

    »Du bist doch unsere kleine Kräutersammlerin mit den Blümchen auf den Gräbern und dem Korb mit fieberstillenden Mitteln?«

    Trotz ihrer Schmerzen musste Sirany über diese Ausdrucksweise lachen. Ja, das war sie wohl. Also nickte sie.

    »Außerdem wüsste ich nicht, an wen du uns verraten solltest. Numa Kamus Soldaten wissen, wo sie uns finden können, und deine Leute aus dem Dorf werden uns bestimmt nicht besuchen kommen.«

    »Nein, bestimmt nicht.«

    Danach kehrte wieder Ruhe ein. Nach kurzer Zeit döste Elendar ein, eingelullt durch das sanfte Plätschern des Wassers, wenn Sirany ihre Füße bewegte.

    Er war von einem anstrengenden Fußmarsch zurückgekehrt und hatte sich auf sein warmes Lager gefreut. Stattdessen hatte er einem Mädchen in die eisigen Fluten eines wilden Flusses folgen müssen. Der Schlafmangel, der ihn seit vier Tagen begleitete, forderte nun seinen Tribut.

    Sirany ließ ihn schlafen und warf ihm nur ab und an einen nachdenklichen Blick zu.

    Nach einiger Zeit, in der Sirany stumpfsinnig ihre Füße angestarrt hatte, meldete sich ihr Magen. Sie erinnerte sich an den Eintopf, den ihr Elendar mitgebracht hatte, und nahm ihn zur Hand.

    »Warum bist du so dürr wie eine ausgehungerte Hyäne?«, fragte Elendar unvermittelt. Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Augen zu öffnen.

    »Vielen Dank für das Kompliment«, antwortete sie bissig, schluckte und verzog das Gesicht. Kochen mussten die Assaren noch lernen. Oder sie besaßen einen ausgesprochen abartigen Geschmack.

    »Die Shari verlangen hohe Abgaben von uns. Das wenige Vieh, das wir besitzen, müssen wir am Jahresende zum Großteil abgeben. Genauso wie unsere Ernte. Da bleibt nicht viel für uns zum Leben außer Wurzeln und Beeren, die ich im Wald sammle.«

    »Das wird sich bald ändern. Ich kenne die Shari. Sie werden in ein paar Monaten, spätestens in einem Jahr das Land als befriedet einstufen und mit ihrem Heer zu neuen Eroberungen weiterziehen. Zurück bleiben ein paar wenige Lehnsherren, die euch im Auge behalten werden. Je weniger Soldaten ihr im direkten Umfeld zu ernähren habt, desto mehr bleibt für euch. Natürlich müsst ihr auch weiter eure Abgaben zahlen, aber wenigstens plündern euch die anwesenden Soldaten nicht mehr länger. Es wird einfacher werden.«

    Sirany warf ihm einen abschätzenden Blick zu. »Gehören die Assaren zu den Shari?«

    Augenblicklich warf Elendar ihr aus seinen dunklen, so wissend blickenden Augen einen empörten Blick zu. »Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte er inbrünstig.

    »Warum helft ihr ihnen dann?«

    »Warum helft ihr ihnen? Ihr gebt ihnen eure Söhne mit, damit sie für die Shari kämpfen. Ihr gebt all euer Essen her, damit ihre Soldaten leben können. Ihr verhungert, um den Shari zu helfen. Also? Warum helft ihr ihnen?«, entgegnete er.

    »Weil wir es müssen. Wir sind von ihnen überrannt und versklavt worden.«

    »Genauso erging es uns. Auch wir müssen tun, was man uns befiehlt. Wir kämpfen mit ihnen, um unsere Familien zu schützen.«

    Sirany starrte ihn überrascht an. Sie hätte niemals gedacht, dass ein so mächtiges, von vielen Kämpfen geformtes, unglaublich Furcht einflößendes Volk von den Shari überrannt werden könnte. »Jeder hat Angst vor euch. Sogar die Shari. Ich habe oft gehört, wie die Soldaten über euch geredet haben. Als wäret ihr Geister, die jeden heimsuchen würden, der sich euch widersetzt.«

    »Unsere Besatzung ist eine lange, traurige Geschichte. Ich will sie dir nicht erzählen.«

    Eine dunkle Erinnerung huschte durch Elendars Gedanken, als er sich unwillkürlich in die schreckliche Zeit der Invasion zurückversetzte.

    »Die Assaren sind besiegt worden, aber sie sind nicht tot. Das wissen die Shari. Sie fürchten uns, wie ein Wärter sich vor einem Raubtier im Käfig fürchten sollte. Denn obwohl es eingesperrt ist, hat es weiter Klauen und Fangzähne.«

    Sirany verstand ihn. Sein Volk nährte sich von der Hoffnung, sich irgendwann von dem Joch der Unterdrückung befreien zu können. Bis es so weit war, taten sie wie geheißen und gehorchten.

    Eine Weile sagte keiner der beiden etwas. Elendar war wie gefangen in der Welt seiner Erinnerungen, während sich Sirany mit ihren Füßen beschäftigte, die wild kribbelten und schmerzten.

    »Für dein Volk kann ich nichts tun, Sirany. Aber vielleicht für dich.«

    »Für mich? Wie kann man mir helfen? Und wobei?«

    »Ich habe deinen kleinen Kampf mit dem Soldaten beobachtet. Du bist stark und dein Wille zu überleben ist sehr ausgeprägt. Nur dein Kampfstil ist miserabel.«

    »Frauen kämpfen nicht. Das überlassen wir unseren Männern.«

    Elendar schnaubte abfällig. »Auch die können nicht kämpfen, jedenfalls nicht die Männer deines Volkes.«

    Einen Moment war Sirany ernsthaft eingeschnappt. Seine nächsten Worte besänftigten sie jedoch sofort.

    »Frauen müssen nicht unbedingt mit Schwertern kämpfen können. Sie sollten aber in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen, wenn sich jemand zwischen ihre Beine drängt und sie etwas dagegen haben.«

    Unwillkürlich wurde Sirany tiefrot im Gesicht, als sie sich an die Szene am Fluss erinnerte. Sie hatte sich hilflos, völlig ausgeliefert gefühlt. Die Angst hatte ihr Kraft gegeben zu kämpfen. Ohne Zweifel hätte sie dennoch verloren, wenn Elendar nicht mit seinem Pfeil eingegriffen hätte.

    Sie war gedemütigt worden, erniedrigt. Man hatte sie wie ein Tier behandelt, wie etwas, mit dem man nach Belieben verfahren konnte. Als wäre sie ein Ding, das nichts wert war, außer das Verlangen fremder Männer zu befriedigen.

    »Ich hatte etwas dagegen«, flüsterte sie leise.

    »Ich weiß. Deswegen möchte ich dir auch zeigen, wie du dich zukünftig selbst schützen kannst.«

    »Warum? Wir kennen uns doch kaum. Warum willst du einer dir völlig fremden Frau helfen?«

    Jetzt verdunkelte sich Elendars Gesicht vor Schmerz.

    »Weil ich es an einer anderen Stelle versäumt habe.«

    Kapitel 3

    Siranys und Elendars Wege trennten sich am nächsten Morgen. Er brachte sie mit seinem struppigen Pony bis zum Waldrand, setzte sie dort vorsichtig ab und verabschiedete sich von ihr.

    Sein Herz fühlte sich seltsam schwer an, als er sie langsam die Brücke überqueren sah. Sie humpelte stark, denn ihre halb erfrorenen Zehen schienen ihr nun Schmerzen zu bereiten. Er würde so lange warten, bis sie sicher die Grenzen des Dorfes erreicht hatte. Eher rührte er sich nicht vom Fleck.

    Sie hatte zunächst nicht eingewilligt, sein Angebot anzunehmen. Es war ihr unheimlich, etwas zu erlernen, was sie für reine Männer­sache hielt. Außerdem zögerte sie, sich öfter als nötig mit ihm zu treffen.

    Er gehörte zu den Assaren, einem Volk, das geholfen hatte, ihr Volk zu unterdrücken.

    Elendar verstand sie gut, war auch froh, ihr dennoch das Angebot gemacht zu haben. Alles Weitere lag jetzt in ihrer Hand.

    Seine alte Stute bewegte sich unruhig unter ihm. Sie wollte zurück zu den anderen Ponys und verspürte keine Lust, hier länger zu warten.

    Elendar ermahnte sie sanft, ohne den Blick von Sirany abzuwenden. Bald würde sie die Grenze ihres Dorfes erreicht haben. Ihre schmale Gestalt wurde kleiner und unschärfer. Er lächelte, als er sah, wie sie sich kurz vor Erreichen der ersten Hausfront umdrehte, um ihm mit strahlendem Gesicht zuzuwinken.

    Grüßend hob er die Hand, dann erst wendete er sein Pony, um im Dunkel der Wälder zu verschwinden.

    Sirany erreichte keine fünf Minuten später das Haus ihrer Eltern, schleppte sich die Veranda hinauf und klopfte kraftlos an die Tür. Nur Sekunden vergingen, schon wurde die Tür aufgerissen und ihre Mutter stand vor ihr. Ehe Sirany es sich versah, versank sie in Aileens starken Armen.

    »Sirany, wo bist du nur gewesen? Wir sind ganz krank vor Sorge um dich.«

    Von hinten hörte sie ihren Vater herantreten. Ihre Mutter gab sie frei, um ihre Tochter an ihren Mann weiterzureichen. Sarns Umarmung war voller Erleichterung.

    »Es ist alles in Ordnung mit mir. Ich bin nur müde.«

    Ihre Eltern glaubten ihr kein Wort. Sie wurde sofort ins Bett gesteckt und ihre Mutter bereitete einen Sud vor. Vorsichtig strich Aileen die dicke Paste auf die halb erfrorenen Zehen. »Das sollte die Schmerzen etwas lindern«, erklärte sie. Danach starrte sie ihre Tochter eindringlich an.

    Natürlich verlangten die beiden eine Erklärung, also begann Sirany zu erzählen. Sie berichtete von dem Soldaten. Von Elendars Rettung. Und von seinem Angebot, sie auszubilden. Als sie geendet hatte, schwiegen sie alle. Dann deckte Aileen ihre Tochter bis zum Kinn zu und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wir sprechen morgen darüber«, sagte sie. »Jetzt schlaf erst einmal.«

    Sie verließen das Zimmer und ließen Sirany allein in ihrem Bett zurück. Die starrte die Decke nachdenklich und mit klopfendem Herzen an. Er hat mich gerettet, dachte sie. In letzter Sekunde. Was wäre geschehen, wenn er nicht da gewesen wäre?

    Sie schauderte bei dem Gedanken. Nein. Das wollte sie sich lieber nicht ausmalen. Aber wäre es nicht besser, sich auf zukünftige Angriffe vorzubereiten? Sich selbst wehren zu können, anstatt auf Rettung zu hoffen?

    Morgen, dachte Sirany. Das entscheidest du morgen.

    Am nächsten Tag lag Sirany mit hohem Fieber im Bett. Eine Erkältung hatte sich in ihren Körper eingeschlichen. Sirany war erneut, als würde der Tod sie holen kommen. Sie verlor jedes Zeitgefühl und bekam nur mit, dass erneut ein Sturm aufzog und das Dorf erschütterte. Wieder fielen mehrere Fuß Neuschnee aus den schwarzen Wolken und fesselte die gesamte Familie ans Haus. Sirany fieberte und fieberte. Ständig verlor sie das Bewusstsein und bekam die Sorge ihrer Eltern mit. Sie hatten nichts Nahrhaftes, um es Sirany anbieten zu können. Beeren und Wurzeln waren nicht das Richtige, um einem fieberndem Körper neue Kraft zu schenken.

    Nach drei Tagen, in denen es Sirany mit jeder verstreichenden Stunde schlechter ging, war ihr Vater aus lauter Verzweiflung bereit, sich trotz des Sturmes in den Wald zu begeben und zu jagen. Ihm war nicht wohl dabei. Seine letzte Jagd war mehr als zehn Jahre her. Seit der Besatzung war es verboten, den Wald zu betreten, geschweige denn Tiere zu erlegen. Die gehörten jetzt dem König der Shari. Sarn atmete tief durch, sprach sich selbst Mut zu und ging los. Er kam nicht weit. Kaum hatte er das Haus verlassen, blieb er wie angewurzelt stehen.

    Über dem Geländer der Veranda hing ein mächtiger Hirsch, daneben zwei Hasen. Der Körper des Hirsches dampfte von der Wärme des Lebens, das er vor kaum einer halben Stunde ausgehaucht hatte. Genau in seinem Herz steckte ein einsamer Pfeil.

    Es war ein Zwillingsbruder des Pfeils, der Sirany vor den Händen des Soldaten gerettet hatte.

    Schweigend nahm der Vater das Geschenk an, zog den Hirsch in die Hütte und rief nach seiner Frau. Aileen schlug vor Freude die Hände zusammen. »Das wird eine gute Suppe«, rief sie, schnappte sich die Hasen und machte sich an die Arbeit.

    Als sie wieder in den Wohnraum trat, sah sie ihren Mann immer noch vor dem nun gehäuteten Hirsch sitzen, den Pfeil in den Händen haltend.

    »Mir scheint, dass jemand Fremdes eine schützende Hand über unsere Tochter hält«, murmelte er.

    »Ja«, sagte seine Frau ebenso leise. So wie es aussieht, kann sie das auch gebrauchen, dachte sie bei sich, sprach diese Worte aber nicht laut aus.

    Dank des Fleisches kam Sirany rasch wieder zu Kräften. Als sie so weit genesen war, dass sie klar bei Verstand war, überreichte ihre Mutter ihr den Pfeil. »Dein Vater hat diesen Hirsch nicht geschossen. Jemand anderes war es«, erklärte sie sanft.

    Sirany starrte den Pfeil lange an und drehte ihn nachdenklich in den Händen. Dann stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.

    Ihre Mutter beobachtete sie dabei und seufzte tief. »Nimm sein Angebot an, Sirany. Lern von ihm, was er bereit ist, dich zu lehren.«

    Ohne aufzublicken, nickte das Mädchen. Sirany war längst klar geworden, dass sie jede Hilfe annehmen musste. Um in dieser feindlichen Welt zu überleben, durfte sie nicht noch einmal derart hilflos sein. Sie musste kämpfen lernen. Stärker werden. Sich wehren können. Ihr Retter würde bestimmt nicht jedes Mal zur Stelle sein, um ihr zu helfen. Das wollte sie auch gar nicht. Sie wollte auf sich selbst vertrauen können. Doch dazu brauchte sie erst mal Hilfe.

    Zwei Wochen später wagte sich Sirany endlich wieder aus dem Haus. Sie war wackelig auf den Beinen und hatte Schwierigkeiten beim Gehen, aber das Wetter war freundlich und lockte sie in die freie Natur.

    Diesmal wählte sie einen anderen Weg, um zum Waldrand zu gelangen.

    Er war viel länger, beschwerlicher, dafür sicherer. Die Sonne lachte ihr entgegen, als sie ihren Rucksack überstreifte und hinaus aus dem Dorf trat.

    Endlich begann auch der Schnee zu schmelzen, vernichtet durch die tanzenden Sonnenstrahlen, die auf die Erde fluteten. Einige wenige Vögel begleiteten Siranys Schritte mit einem sanften Lied, während der ruhige Wind pfeifend mit einstimmte.

    Die Wälder lagen weiterhin still unter einer Schneeschicht. Im Sonnenlicht wirkten sie nun nicht mehr so bedrohlich. Vielmehr glitzerten die Wassertropfen an den Ästen, tauender Schnee fiel sanft von den mächtigen Stämmen hinab.

    Sirany fand ohne Schwierigkeiten den Weg zum Lager der Assaren. Sie war ihn schon Hunderte Male gegangen, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Es war seltsam, diese Grenze, die sie sich selbst gesetzt hatte, zu überschreiten.

    Sie hatte sich bis auf wenige Schritte an das Lager herangewagt, als eine mächtige Gestalt ihr den Weg versperrte. Vor Schreck blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte den finster dreinblickenden Assaren an, der mit gezogenem Schwert vor ihr stand.

    »Wen haben wir denn da?«, knurrte er übellaunig und baute sich drohend vor ihr auf.

    Augenblicklich wich Sirany zurück, bis sie über eine Wurzel stolperte und fast der Länge nach hinfiel.

    »Lass den Mist, Sheyn.« Ein weiterer Mensch trat aus dem Schatten der Bäume hervor. Sirany erkannte den mit Fellen behangenen Mann sofort wieder. Efnor. Der Mann, der sie zusammen mit Elendar vorm Erfrieren gerettet hatte. Jetzt hatte er einige seiner Schätze abgelegt. Kein Wunder. Die Luft hatte sich durch die Sonnenstrahlen bereits erwärmt. »Sie ist ein Gast«, machte Efnor klar.

    Sheyn knurrte etwas Unfreundliches in seiner Sprache und steckte sein Schwert zurück in die Scheide. Ohne sie weiter zu beachten, drehte er sich um und ließ Efnor und Sirany allein zurück.

    Der fellbehangene Mann seufzte tief und wandte sich Sirany zu. »Bitte entschuldige sein unflätiges Benehmen. Er ist die Gegenwart einer Dame nicht gewohnt.«

    Sirany hätte sich selbst niemals als Dame bezeichnet und schmunzelte daher über diesen Ausdruck. Efnor schien das nicht zu bemerken.

    »Elendar wird sich freuen, dich wohlauf zu sehen. Komm, ich bring dich zu ihm.«

    Das Mädchen folgte dem Assaren hinein ins Lager. Das bestand aus rund zwanzig einfach aussehenden, etwa mannshohen Zelten, allesamt vielfach geflickt und rein zweckmäßig befestigt. Sie trugen die Farben des Waldes, eine perfekte Tarnung, um nicht weiter aufzufallen.

    Die Zelte waren in einem Kreis angeordnet und gruppierten sich um eine Feuerstelle. Ein gelangweilt wirkender Mann rührte ab und zu in einem riesigen, über dem Feuer brutzelnden Kochtopf und flickte hauptsächlich seine Schuhe.

    Die Erde rund um die Feuerstelle war durch viele Stiefeltritte zu einem festen Platz zusammengedrückt worden. Der Schnee war dadurch geschmolzen und triste braune Erde präsentierte sich. Es roch nach Matsch, ungewaschenen Männern und Leder.

    Hinter den Zelten standen einige Ponys dösend im kargen Sonnen­licht. Sie waren so struppig wie am ersten Tag, nur jetzt erheblich magerer. Der Winter hatte auch bei ihnen seinen Tribut gefordert.

    Sirany folgte Efnor durch die Zeltreihen hinüber zu den Ponys. Die reckten bei ihrer Ankunft neugierig die Hälse. Sie waren nur durch großzügige Fesseln an ihren Vorderbeinen an das Lager gebunden und kamen nun langsam näher, um etwas Essbares bei ihnen zu erbetteln.

    Efnor scheuchte sie so gut es ging wieder fort und deutete auf eine triste braun-weiß gescheckte Stute, die an einen Baum gebunden war.

    »Elendar«, sagte er nur.

    Sirany brauchte einen Moment, um den Gesuchten neben der Stute zu entdecken. Er striegelte gerade den Hals

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1