Die Lehren des großen Regens: Eine philosophische Reise ins alte China uns zurück
Von Jupp Hartmann
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Über dieses E-Book
Schon vor 4000 Jahren waren die Menschen in China gezwungen, sich durch ein System von Flussregulierungen vor Hochwasserkatastrophen zu schützen. Dabei sammelten sie Erfahrungen, die nachhaltigen Einfluss auf die Weltsicht der folgenden Generationen hatten und anderthalb Jahrtausende später die klassische chinesische Philosophie prägten. Diese entwickelte zu ihrer Blütezeit eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze (Konfuzianismus, Daoismus, Mohismus, Legalismus, Hedonismus, Sophismus), die als die Hundert Schulen in die Geschichte eingingen.
Dieses Buch versucht, das Denken jener Zeit nachzuvollziehen und dessen oft verblüffende Einsichten für die Gegenwart fruchtbar zu machen. In den alten Schriften finden sich zahlreiche Anregungen für aktuelle Debatten, vor allem zu Themen wie Nachhaltigkeit und Ökologie. Auch die Frage, inwieweit Kulturtechniken anstelle staatlicher Gewalt eine stabile Ordnung gewährleisten können, ist für unsere Gegenwart von Interesse. Ebenso der Aspekt der Selbstkultivierung: Wie gelingt es, die eigene Lebensweise auf eine lustvolle Art den jeweiligen Erfordernissen der Zeitläufte anzupassen und inwieweit sind die gesellschaftliche Struktur und die eigene Triebstruktur kompatibel? So geht es in diesem Buch auch um unser Verhältnis zur Natur, zu unseren Mitmenschen und zu uns selbst.
Auf der Suche nach Lösungen für die Probleme der Gegenwart ist es sinnvoll, gelegentlich die Perspektive zu wechseln. In Europa haben sich wirkungsvolle Erklärungsmuster herausgebildet, mit denen wir der Welt begegnen. Wir verdanken ihnen vieles. Aber diese Erklärungen haben ihre blinden Flecken, die man von innen kaum wahrnimmt. Darum ist es sinnvoll, den Dunstkreis der eigenen Kultur von Zeit zu Zeit zu verlassen. Nicht weil eine andere besser wäre, sondern weil wir aus der Distanz besser sehen, wo sich unser Denken festgefahren hat. Deshalb ist dieses Buch nicht nur eine Reise in eine ferne Vergangenheit, sondern auch zurück ins Hier und Jetzt.
Auch um das moderne China zu verstehen, ist es unumgänglich, dessen kulturelle Wurzeln zu begreifen, insbesondere den Konfuzianismus und den Daoismus, die bis heute eine starke Wirkung entfalten.
Viele zitierte Textpassagen wurden für die vorliegende Darstellung neu übersetzt, einige liegen zum ersten Mal in deutscher Sprache vor. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Auswahl auch für Laien verständlich ist.
Jupp Hartmann
Jupp Hartmann hat Germanistik und Philosophie studiert. Erlebt als freischaffender Künstler, Autor und Dozent in Hamburg. Von 2003 bis 2008 lebte er in China.
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Buchvorschau
Die Lehren des großen Regens - Jupp Hartmann
Inhalt
Erstes KapitelAusschau nach besseren Zeiten
Zweites KapitelKonfuzius - Das Behagen in der Kultur
Drittes KapitelLaozi – Tun durch Nichttun
Viertes KapitelZhuangzi – Gleichnisse gegen Denkschablonen
Fünftes KapitelDie Hundert Schulen – Lehren im Wettstreit
1. Mozi – Mäßigung bis ins Grab
2. Hedonismus – Yang Zhus Polemik gegen Fleiß und Moral
3. Weiterentwicklung des Konfuzianismus
a. Mengzi – Im Zweifel für die Revolution
b. Xunzi – Gegen Triebverzicht
4. Sophisten – Dispute um ein weißes Pferd
5. Jixia Akademie und Neiye – Ein antiker Think Tank und der Weg zu innerer Ruhe
6. Legalisten: Law and Order und Intrigen
Sechstes Kapitel:Huainanzi – Was ein Kaiser wissen muss
Epilog
Quellenangaben
Über den Autor
Das Regenwasser auf dem Feld
fließt in die See,
Worte ins Ohr geflüstert
sind über tausend Meilen hörbar.
(Huainanzi)
Erstes Kapitel: Ausschau nach besseren Zeiten
1.
Die Erde brennt. Das steht auf einem Pappschild, das ein kleiner Junge in die Höhe hält. An einem kalten Novembertag 2019. Trotz der Kälte sind viele auf die Straße gegangen. Allein in Hamburg über 60.000, sagen die Veranstalter. Es geht um eine andere Klimapolitik. Um die Zukunft der Menschheit. Ist das wirklich der passende Zeitpunkt, um ein Buch über philosophische Debatten zu schreiben, die vor Jahrtausenden geführt wurden?
Manchmal ist es wichtig, Abstand zu gewinnen. Das bringt auf neue Gedanken. Wir leben in einer Zeit, in der zu viel getan wird. Hektik und Leistungsdruck bestimmen unseren Alltag. Es scheint nur eine Richtung zu geben: Immer schneller, immer mehr! Mit verheerenden Folgen.
Kann man das Nichttun lernen? Nichttun als Rebellion. Als Sand im Getriebe. Als Auflehnung gegen eine Logik, die überall nach Nutzen sucht. Aus deren Perspektive die Natur bloß eine Rohstoffquelle ist. Und Menschen bloß Arbeitskräfte. Humankapital.
Gibt es einen Ausstieg aus dem Nützlichkeitsdenken? Ist es möglich, mit dem scheinbar Nutzlosen in Frieden zu leben, es vielleicht sogar respektvoll zu betrachten?
Und was hieße das? Geht das nur über rigorose Einschränkungen oder gibt es attraktivere Wege? Ist Triebverzicht eine Lösung oder können wir unsere Begierden so steuern, dass wir Alternativen zu unserer gewohnten Lebensweise als lustvoll empfinden? Sollte man auf Vorbilder vertrauen? Oder gar auf die Macht der Musik? Können wir uns selbst erziehen? Wie lernen wir zu sein, wer wir sind? Gibt es so etwas wie unsere wahre Natur?
Um Antworten auf diese und viele andere Fragen zu finden, unternimmt dieses Buch eine Expedition ins alte China, eine Zeitreise durch die Jahrtausende. Fernab von den brennenden Problemen der Gegenwart sucht es nach Stoff für aktuelle Debatten. Wenn wir nach neuen Wegen suchen, dann ist es unumgänglich, nicht immer den gleichen ausgetretenen Pfaden zu folgen, sondern einmal andere Richtungen einzuschlagen.
In Europa haben sich sehr wirkungsvolle Erklärungsmuster herausgebildet, mit denen wir der Welt begegnen. Wir verdanken ihnen viel: unsere moderne Technik, medizinischen Fortschritt, auch Freiheit und Menschenrechte. Aber diese Erklärungen haben ihre blinden Flecken, die man von innen kaum wahrnimmt. Darum ist es sinnvoll, den Dunstkreis der eigenen Kultur von Zeit zu Zeit zu verlassen. Nicht weil eine andere besser wäre, sondern weil wir aus der Distanz besser sehen, wo sich unser Denken festgefahren hat. Im Spiegel ferner Länder und fremder Zeiten entdecken wir uns selbst.
2.
Der Kaiser wollte nicht sterben. Niemals! Er hatte entsetzliche Angst vor dem Tod. Das Thema Sterben war in seiner Gegenwart Tabu. Trotzdem beherrschte es sein ganzes Leben. Er wollte für immer herrschen und glaubte, er, der Herrscher über alles unter dem Himmel, habe ein Anrecht auf ewiges Leben. Und falls er doch sterben müsste, wollte er auch im Jenseits der mächtigste aller Potentaten bleiben. Deshalb ließ er sich als Grabbeigabe eine ganze Armee lebensgroßer Figuren aus Terrakotta anfertigen, aufgestellt in Reih und Glied, mit Pferden und Wagen und allem, was dazugehört.
Seine Macht im Jenseits stand allerdings auf tönernen Füßen. Schon wenige Jahre nach seinem Tod dezimierten wütende Bauern die Terrakotta-Armee, warfen viele Figuren um und zertrümmerten sie.
Der Kaiser hatte schließlich doch sterben müssen. Dabei hatte er alles versucht. Als er auf einer Reise durch sein Reich ans Meer kam, hörte er von den fernen Inseln der Unsterblichen. Er schickte Schiffe aus, um von dort das Elixier der Unsterblichkeit zu beschaffen. Die Schiffe kehrten nie zurück. Auch eine weitere Expedition blieb erfolglos. So musste er dem Tod auf einem anderen Weg entrinnen. Er versammelte Heiler um sich, nahm vermeintliche Wundermittel. Die enthielten Quecksilber. Er starb schließlich an einer Quecksilbervergiftung. Je weiter die Krankheit fortschritt, umso paranoider sah er sein Leben von allen Seiten bedroht.
Also brachte ihn der Versuch, sein Leben zu verlängern, vorzeitig ins Grab. Ihn, den mächtigsten Mann der Welt. Ihn, den alle fürchteten. Hier war seine Macht zu Ende. Dabei schien sie wirklich unbegrenzt.
Er hatte es geschafft, nach mehreren Jahrhunderten, die als die Epoche der Streitenden Reiche in die Geschichte eingehen sollten, im Jahre 221 vor unserer Zeitrechnung das chinesische Reich wieder zu einen. Er, der König von Qin, hatte in langen Kriegen die anderen Königreiche besiegt. Alle mussten sich ihm unterwerfen. Er gab sich den Namen Shi Huangdi, erster erhabener Gottkaiser.
Er hatte alles unter Kontrolle. Ein ausgeklügeltes Überwachungssystem sollte sicherstellen, dass seine Macht selbst im letzten Winkel spürbar sei. Auf kleinste Vergehen standen grausame Strafen, und wer fremde Verfehlungen nicht meldete, wurde dafür bestraft, als seien es die eigenen. Qin Shi Huangdi ließ bis zu einer Million Menschen zwangsrekrutieren, zum Bau der Chinesischen Mauer und seines Mausoleums.
So sehr er um sein Leben besorgt war, so wenig kümmerte ihn das Leben anderer. Wer nicht in seine Ordnung passte, wurde liquidiert. Er ließ hunderte Gelehrte lebendig begraben. Die Bücher der Hundert Schulen, einem bunten Nebeneinander philosophischer Strömungen, ließ er verbrennen. Was nicht der Staatslehre entsprach, war verboten.
Damit schien eine jahrhundertealte Diskussion endgültig entschieden zu sein. Im Streit um die richtige Art der Staatsführung hatten sich die Legalisten durchgesetzt, extreme Law and Order Politiker. Gesetze mussten genau befolgt werden. Nach Wortlaut. Wer nicht gehorchte, riskierte sein Leben.
Einmal wäre ein Attentat auf den Kaiser beinahe gelungen, weil zunächst niemand unter den Bediensteten wagte, ihm zu Hilfe zu kommen. Denn das hätte geheißen, den gebotenen Mindestabstand zum Kaiser nicht einzuhalten und darauf stand der Tod