Roselill
Von Kjersti Scheen
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Buchvorschau
Roselill - Kjersti Scheen
Oder?
1
Es war ein verhangener Spätwintertag. Die E 18 zwischen Lysaker und Oslo Zentrum war schneematsch- und salzverschmiert, es dämmerte bereits, obwohl es erst vier Uhr war. Henny und Lotte waren mit dem Bus in die Stadt unterwegs. Lotte wollte ein Paar Schuhe kaufen und hinterher würden sie sich noch einen Hamburger genehmigen.
Falls vom Schuhgeld etwas übrig blieb.
»Klar bleibt was übrig«, sagte Lotte. »So teure Schuhe will ich nun auch wieder nicht kaufen.«
»Ha, ich kenn dich doch«, murmelte Henny, den Blick auf den schmuddeligen Schneematsch am Randstreifen geheftet, der vor der Scheibe an ihnen vorbeizog. Sie kannte Lotte seit der Vorschule und hatte noch nie erlebt, dass Lotte irgendetwas tat, das kein Geld kostete.
Viel Geld.
»Pff«, sagte Lotte und machte eine Blase mit dem Kaugummi. Es gab ein schmatzendes Geräusch, als die Blase zerplatzte und an ihrer Oberlippe hängen blieb. »Da, das Geisterhaus.«
Der Bus fuhr unterhalb einer hohen Mauer mit einem stellenweise arg baufälligen Zaun vorbei. Sie mussten den Kopf in den Nacken legen, um etwas erkennen zu können, aber hinter den Bäumen war nur der Hausgiebel zu sehen. »Erinnerst du dich noch an die Geschichte, die wir uns ausgedacht haben?«, fragte Lotte und zupfte sich den Kaugummi von der Lippe. »Wie haben wir das Mädchen noch genannt, das dort wohnen sollte?«
»Roselill«, sagte Henny.
Sie wollte nicht darüber reden. Es kam immer noch vor, dass sie nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, an das Geisterhaus dachte. Dann sah sie sich über den Gartenweg auf das gewaltige Haus mit seinen Erkern und Vorbauten zugehen, hinter dessen Fenstern der Schatten der unglücklichen Roselill vorbeiglitt.
Henny drehte den Kopf und sah auf der anderen Seite aus dem Busfenster aufs Wasser hinaus. Sie wollte nicht mit Lotte darüber sprechen. Lotte konnte solche Gedanken nicht nachvollziehen.
Plötzlich überkam sie eine richtige Abneigung gegen ihre Freundin. Es gab immer mehr Dinge, über die sie nicht mehr mit ihr reden konnte, obwohl sie beide beste Freundinnen waren, seit sie denken konnte. Aber Lotte war irgendwie so — durchschnittlich geworden. Über Dinge, die sie nicht verstand, machte sie sich lustig. Sie war genau wie ihre Mutter, die ständig die Tür zu Lottes Zimmer aufriss und rief: »Na, Mädels, wollt ihr bei dem schönen Wetter nicht lieber an die frische Luft gehen?«
Egal, ob es regnete oder die Sonne schien.
Lotte und ihre Mutter sahen sich extrem ähnlich, sie waren beide klein, schlank und dunkelhaarig und hatten braune Augen.
Henny war größer als Lotte und blond. In der fünften Klasse hatten ein paar Jungen ihnen den Spitznamen Dick und Doof gegeben.
Der Bus kam schnaufend zum Stehen, die Türen gingen zischend auf. Ein kalter Windzug mit einer Duftmischung aus Abgasen und Seeluft strömte durch den Mittelgang. Zwei Jungen stiegen ein und kramten in ihren Taschen nach Kleingeld.
Lotte boxte Henny in die Seite. Henny schluckte und hatte das Gefühl, hellseherische Fähigkeiten zu besitzen. Das waren nämlich Emil und Lasse, genau die beiden Jungen, die ihnen in der Fünften ihre Spitznamen verpasst hatten. Inzwischen waren sie alle in der Mittelstufe, wenn auch nicht mehr in derselben Klasse.
Emil und Lasse schlitterten auf sie zu, als der Bus anfuhr, und konnten sich gerade noch auf die Sitze vor ihnen werfen, bevor sie beinahe der Länge nach hingefallen wären. »Wo kommt ihr denn her?«, fragte Lotte neugierig wie immer und machte eine neue Kaugummiblase.
»Lasse hat sich ein Fahrrad angesehen«, sagte Emil, zog die Nase hoch und strich sich mit der Hand über die kurzen Haare. Henny sah ihn an. Das machte er dauernd!
Schnief! Und dann einmal mit der Hand über die Borsten.
Seine Haare, die er früher halblang in einer undefinierbaren Frisur getragen hatte, standen jetzt nach oben. Henny musterte ihn interessiert. Die Haare sahen gar nicht so borstig aus, eher weich, und seine tiefen Grübchen fand sie auch nicht schlecht.
Letzte Woche hatte er einen Schneeball hinter ihr hergeworfen. Einen schlappen Ball, locker aus dem Handgelenk, nur um sie zu ärgern. Sie hatte den Schneeball kommen sehen und sich geduckt, dabei war ihre Mütze heruntergerutscht. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte er direkt hinter ihr gestanden. Da hatte sie zum ersten Mal gesehen, wie er sich über die Stoppeln strich, und bemerkt, dass er Grübchen hatte, wenn er lachte. Das war ihr vorher noch nie aufgefallen.
Sie hatte am Wochenende ein paar Mal an ihn gedacht und sich einen kleinen Tagtraum zusammengesponnen. Am Ende war er so wirklich geworden, dass sie am Montag, als ihre und Emils Blicke sich trafen, knallrot geworden war.
»Bin ich rot?«, hatte sie Lotte zugeflüstert.
»Ein bisschen. Wieso?«
»Ach, mir ist so warm«, hatte sie geantwortet.
Und jetzt war er hier, in diesem Bus.
Henny hob die Hand, wickelte eine Haarsträhne um den Finger und schaute aus dem Fenster.
»Warum fummelst du eigentlich immer an deinem Haar rum?«, fragte Emil. Er hatte sich zu ihnen umgedreht, das Kinn auf die Rückenlehne gelegt und sah sie interessiert an.
»Ööh«, sagte sie und zwirbelte die Haarsträhne vor lauter Aufregung noch fester um den Finger. Als sie es merkte, ließ sie ihre Haare schnell los, drehte sich zur Seite und sah wieder aus dem Fenster.
Wie peinlich!
»Willst du dir ein Rad kaufen?«, fragte Lotte und sah Lasse an.
»Nein. Mein Bruder braucht eins. In der Zeitung war ein gut erhaltenes Jungenrad inseriert. Aber das Rad war die reinste Schrottkarre. Und dann auch noch zu groß. Mein Bruder ist gerade mal sieben.«
»Das war übrigens ganz in der Nähe von diesem großen, alten Haus, das schon seit Ewigkeiten leer steht«, sagte Emil.
»Dem Geisterhaus?«, fragte Lotte und Henny stöhnte innerlich. In dem Augenblick bremste der Bus abrupt vor einer roten Ampel in der Bygdøy Allee, und Lasse, der nur mit einer Pobacke auf der Sitzkante saß, wäre fast heruntergerutscht.
»He, pass doch auf!«, rief er dem Fahrer wütend zu, aber der hatte das Radio laufen und darüber hinaus die Nase gestrichen voll von Schülern und alten Frauen und tat, als würde er nichts hören.
»Und wohin seid ihr unterwegs?«, fragte Emil. Henny war erleichtert, dass keiner der beiden mitbekommen zu haben schien, was Lotte gesagt hatte.
»Schuhe kaufen«, sagte Henny. »Lotte jedenfalls. Hinterher gehen wir vielleicht noch zu McDonald’s.«
»Wir müssen was bei meiner Mutter abgeben, sie arbeitet ganz in der Nähe vom Nationaltheater«, sagte Emil. »Vielleicht gehen wir hinterher ja auch noch zu McDonald’s.«
»Arbeitet sie in einem Geschäft?«, fragte Lotte und Henny wollte gleichzeitig wissen: »Zu welchem McDonald’s?«
»Nein, sie arbeitet in einem Büro. Und: Zu welchem geht ihr denn?«
»Zu dem McDonald’s in der Klingenberggata«, sagte Henny schnell.
»Passt doch hervorragend«, sagte Emil und sah Lasse von der Seite an.
Lotte stieß Henny in die Rippen. Sie hatte die spitzesten Ellenbogen der Welt. Diesmal wollte sie wahrscheinlich signalisieren, dass sie überhaupt noch nicht entschieden hätten, zu welchem McDonald’s sie gehen wollten, falls sie nicht doch das ganze Geld für ihre Schuhe ausgab.
Henny lachte, als hätte sie nicht mitbekommen, was Lotte ihr sagen wollte, und sah stur weiter aus dem Fenster.
Die erleuchteten Schaufenster in der Bygdøy Allee flimmerten in der Januardunkelheit vorbei. Die Hydraulik des Busses schnaufte und zischte bei jedem Bremsen. Bremsen, stopp, Gas geben, bremsen, Gas geben, bremsen, Gas geben, bremsen, Gas geben, bremsen, stopp.
Nächster Halt: Lapsetorvet.
Emil und Lasse saßen jetzt mit dem Rücken zu ihnen, sie unterhielten sich und lachten, Henny schnappte einen Teil ihres Gesprächs auf »... und da hat Gogge zu Fredrik gesagt, dass daraus nichts wird, du weißt schon ...«, bevor sie abschaltete.
Gogge und Fredrik gingen in ihre Klasse. Was die beiden zu sagen hatten oder taten, interessierte Henny im Augenblick nur am Rande.
Lotte saß schweigend neben ihr, kaute auf ihrem Kaugummi herum und atmete laut, ihre Daunenjacken knisterten im Takt mit den Schaukelbewegungen des Busses. War Lotte jetzt sauer, weil Henny gesagt hatte, dass sie zum McDonald’s in der Klingenberggata gehen würden? Henny überlegte gerade, ob sie Lotte darauf ansprechen sollte, als der Bus vor der roten Ampel vorm Nationaltheater bremste. Die Jungen standen auf und gingen zur Tür. Henny machte den Mund auf, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Lotte formte eine neue Kaugummiblase. Der Bus schob sich über die Kreuzung und bog in die Haltebucht ein. Die Türen glitten mit einem Zischen auf.
Die Jungen zogen die Reißverschlüsse ihrer Jacken hoch. Beim Aussteigen warf Emil Henny noch einen schnellen Blick zu, ehe er die Stufen hinuntersprang und verschwand.
Henny sah nicht aus dem Fenster.
Die Scheibe war sowieso beschlagen.
Lotte stieß sie wieder an. »Was sollte das denn, sag mal!« Henny zog an einer Haarsträhne an der Schläfe und wickelte sie um den Finger. Sie antwortete nicht.
»Das war nicht abgesprochen, also echt!«
Henny richtete sich auf. »Wir wussten ja auch nicht, dass wir die beiden treffen würden.«
»Nein, aber trotzdem, echt!«
»Du sagst echt ganz schön oft echt«, murmelte Henny und griff nach ihren Handschuhen.
An der nächsten Haltestelle mussten sie raus.
Glücklicherweise nahm der Schuhkauf Lotte so in Anspruch, dass sie nicht lange sauer war. Henny bemühte sich, so nett wie möglich zu sein, damit Lotte ja nicht bocken würde und sich womöglich weigerte, zum McDonald’s in der Klingenberggata zu gehen.
»Cool«, sagte sie und sah auf Lottes Füße.
»Findest du wirklich?«, fragte Lotte unsicher.
»Ja, deine Beine wirken länger darin.«
Ihre Beine waren Lottes großer Komplex, sie fand sie zu kurz. Henny war zwar nicht der Meinung, versuchte aber Lotte in solchen Dingen zu ermutigen. Ganz abgesehen davon, stimmte es tatsächlich, dass Lottes Beine in den Schuhen, die sie gerade anprobierte, länger wirkten.
»Dann nehm ich die!«, entschied Lotte. Henny seufzte erleichtert. Die Schuhe ließen nicht nur Lottes Beine länger wirken, es waren auch die billigsten von denen, die sie bisher anprobiert hatte.
Als die Verkäuferin die Schuhe eingepackt und die Summe in die Kasse eingetippt hatte, tat Henny, als würde sie jetzt eigentlich am liebsten direkt nach Hause fahren. Sie gähnte und streckte sich, und als Lotte sagte: »Und, gehen wir jetzt zum McDonald’s in der Klingenberggata?«,