Artemis
Von Lars Andersson
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Buchvorschau
Artemis - Lars Andersson
ist.
I
Meine Schwester heiratete. Es war im Juni. Die Sonne schien an diesem Tag, aber als ich am Vormittag rausfuhr, wehte ein kalter Wind. Es war knapp eine Stunde zu fahren. Die Zehn-Uhr-Nachrichten hörte ich, als die Straße von der nach Norden führenden Strecke abzweigte und in einer Kurve zu einer Brücke mit einem Kraftwerk daneben führte, dort, wo die Landschaft erst ihre wirkliche Form annimmt, ihre eigentliche Form, und weiter ging es durch den kleinen Ort F. an die Seen, die einer nach dem anderen aufgereiht daliegen.
Srebrenica. Gorazde. Ich hatte eigentlich geplant, den Kofferraum mit Sachen vollzupacken, die in die Hütte sollten, bevor mein Urlaub in einer Woche anfing, obwohl ich nicht dorthin wollte; hatte gedacht, alles in die Stube zu stellen, aber schließlich waren es nur vier Bilder geworden. Die wollte ich aufhängen, und in verschwommenen Gedanken überlegte ich Kurve um Kurve, wo sie hängen sollten. Ich wollte nicht, daß sie im Haus in der Stadt bleiben würden. Mit dem letzten See erblickt man gleichzeitig auch die Kirche, in der die Trauung stattfinden sollte, um ein Uhr, mit Madeleine, meiner einzigen Schwester, die wie eine Galionsfigur gravitätisch voranschreiten würde, mit den Brautmädchen und -jungen an der Schleppenreling.
Stig stand in kurzer Hose, mit Sonnenbrille, draußen und strich die Spitzen des Lattenzauns, als ich neben dem Haus parkte. Der Zaun hat rote, spitze Latten, und die Enden der Spitzen sind weiß gestrichen. Schon lange war die Rede davon, diese Tatsache deutlicher hervorzuheben. Neben ihrem eigenen Auto standen drei weitere auf dem Platz. Frühgekommene, die, während der Tag noch jung war, Kaffee trinken oder helfen wollten, das Fest vorzubereiten. Stig hatte wie immer eine Gelegenheit gefunden, aus der Planung auszuscheren. Über die Hand, die den Farbeimer hielt, hatte er einen Arbeitshandschuh gezogen, aber nicht über die andere, die Pinselführung war eine heikle Sache.
»Du kommst ja auch schon so früh«, sagte er.
»Mich hat nichts aufgehalten«, antwortete ich.
»Und Dina kommt also nicht.«
»Sie muß da was fertigkriegen.«
»Ach so.« Er konnte sich schon vorstellen, was es damit auf sich hatte. Er nahm neue Farbe auf den Pinsel.
»Das wird wirklich gut«, sagte ich. »Jedenfalls nicht schlecht.«
Auf der Seite des Hauses, die zur Straße und Gartentür zeigt, gibt es einige richtige Hängebirken. Ein leiser Luftzug fuhr durch das Birkenlaub, ein tiefes Flüstern, das anscheinend überhaupt nicht aufhören will. Mindestens zwei Rasenmäher knatterten in den Nachbargärten. Es näherte sich ein Zitronenfalter, den Stig mit der Pinselhand von den Latten zu verscheuchen suchte. Stig fährt eine Planierraupe und noch andere Maschinen im Straßenbauamt. Er ist hier im Ort geboren und aufgewachsen, dabei ist es ja nicht einmal ein Ort, nur eine Anhäufung von Häusern um eine Straßenkreuzung, weshalb es einen Bauplan und kommunale Abwasserkanäle gab. Madeleine war schon damals mit ihm zusammen, als wir noch mit unseren Eltern die Sommer in der Hütte verbrachten. Er hat das Haus seiner Eltern übernommen. Dazu gehören auch einige Meter Wald. Eine Weile hat er Verschiedenes gelernt und ein Jahr in Göteborg gelebt, aber mehr war dann nicht daraus geworden. Die Kinder sind acht, fünf und knapp ein Jahr alt. Madeleine ist Lehrerin in der Oberstufe. Jetzt haben sie beschlossen zu heiraten.
»Ich muß eben noch duschen«, sagte er. »Geh schon rein und trink eine Tasse Kaffee.«
Drinnen begrüßte ich die anderen. Madeleine war mit der Kleidung des ältesten Mädchens beschäftigt, Maja, die Fünfjährige. Ich kannte alle bis auf die Pfarrerin. Sie war eine frühere Freundin von Madeleine, noch aus dem Jahr in Göteborg, und arbeitete jetzt in Varberg. Stig und Madeleine wollten sich gern von ihr trauen lassen und hatten den Termin so gelegt, daß der hiesige Gemeindepfarrer Urlaub hatte, damit es kein böses Blut gab. Die Pfarrerin war rotblond, ziemlich groß und ziemlich hübsch, sie trug ihr Haar offen. Die Pfarrkleidung schien viel zu eng für sie zu sein. Ich erinnere mich an ihren Handschlag, ihren langen, sommersprossigen Handrücken. Sie hieß Elisabet, das wußte ich schon vorher, und Hallby, das hatte ich vergessen oder nie gehört.
Stigs Mutter und seine ältere Schwester mit Familie waren da. Das war das andere Auto. Die Mutter wohnte in einer betreuten Wohnung in der Stadt. Das dritte Auto gehörte Eino. Er ist schon seit langer Zeit ein Freund und wohnt in Växjö. Er war bereits am Abend zuvor gekommen und hatte hier übernachtet, genau wie die Pfarrerin. So wird sie ja wohl genannt.
Und dann kamen die übrigen Gäste, einer nach dem anderen. Einige fuhren natürlich auch direkt auf den Parkplatz vor der Kirche. Ich begrüßte sicher so um die zwanzig Personen. Lehrerkollegen. Jagdfreunde. Eltern von Kindern der Fußballmannschaft, die Stig trainierte. Und wie sonst die Verbindungen beschrieben werden können. Ich habe nie versucht, sie mir der Reihe nach vorzustellen. Sonnengebräunt, durchlüftet, Leute in leichten Sonntagskleidern, Kombiwagen, Kühler an Kühler. Die Kirchenwand blitzte weiß. Alle kannten mich mehr oder weniger. Wir füllten die vordere Hälfte der Kirche. Die Pfarrerin trat nun in einer viel zu großen Robe an den Altar und wartete auf das Glockenläuten. Dann kam der Kinderchor und stellte sich auf.
Es heißt, daß renovierte schwedische Kirchenräume aussehen wie Ausstellungshallen für Kunstgewerbe. Das stimmt. Auch an diesem Tag gab es Birkenlaub, Blumen und Tageslicht, das durch die hohen, blaugetönten Fenster hereinschien. Jetzt kamen sie mittelschiffs nach vorn. Madeleine, sich ganz des Ernstes dieser Stunde bewußt und gleichzeitig mit einem Auge auf das Einjährige, das Stigs Schwester trug. Ich erhob mich wie alle anderen und sah sie an. Sie hatte einen Gesichtsausdruck, der mir noch ganz vertraut war. So hatte sie schon in unserer Kindheit in bestimmten Situationen geguckt. Der Kantor, der auch aus der Gegend stammt und zumindest während der Pfingstferien, als Madeleine in die achte oder neunte Klasse ging, auf ihrer Hitliste einen der vordersten Plätze eingenommen hatte, gab dem Kinderchor das Zeichen zum Einsatz. Er fiel mit der sich vorne befindenden und ziemlich schwächlichen kleinen Orgel ein, nicht mit der großen auf der Empore, die nur bei besonderen Anlässen, Kirchenkonzerten, Weihnachtsmessen oder ähnlichem benutzt wird. (Ich bekam einmal den Schlüssel und spielte eine ganze Nacht, eine Frühlingsnacht, auf ihr: A Whiter Shade of Pale und, wie hieß es noch, Eleanor Rigby? Vanilla Fudge’s Version. The Sky Cried. Oh, no, must be the Season of the Witch ... That’s What Makes a Man ...)
Sie wurden nach einem Ritual getraut, das ich nicht kannte. Aber ich hatte schon lange nicht mehr geheiratet.
Alles wurde per Video gefilmt, von dem Mann von Stigs Schwester – was ist das? –, seinem Schwager. Ich habe mir den Film oft angesehen. Elisabet Hallby steht mit einem kleinen Blatt Papier in der Hand. Und sieht trotzdem majestätisch aus, wie eine Art Druidenpriesterin. Die Schatten sollten weich sein, erscheinen aber grell blau, fast lila. Wenn das Birkenlaub ins Bild kommt, scheint es zu brennen. Das Einjährige wehrt sich und will nach vorn. Ich, Erika Madeleine Gillberger. Ich, Stig Olof Torin. Schwenk über die Bankreihen. Da stehe auch ich. Die Blendenweite reicht von Weiß bis Dunkelgrau. Der Kinderchor, der Kantor. Die Gesichter der Kinder, der Brautkinder, eins nach dem anderen. Dann wieder Elisabet Hallby; wir bleiben eine Weile bei ihr, sie hebt das Kinn und schüttelt mit ruckartigen Bewegungen das Haar vom Kragen los, während wir Stig und Madeleine folgen, wie sie sich umdrehen und wieder hinuntergehen, jetzt jeder mit einem Kind auf dem Arm, Maja kommt hinterher und hält sich am Schleier fest.
Draußen stellten wir uns auf und warfen Reis, und auch das hat er gefilmt, sehr sorgfältig. Jetzt konnte er Regie führen, uns dirigieren, damit es ganz natürlich aussah. Es ist heller Sonnenschein. Zuletzt zieht er den Sucher und den Autofocus langsam auf den See, zoomt dorthin und verdunkelt, man hört ihn dreimal jemanden zum Schweigen mahnen, als es dunkel geworden ist. Das sind die einzigen Äußerungen, die er in diesem Drama von sich gegeben hat, die einzigen Worte von ihm, an die ich mich erinnern kann.
Ich bin vierzig Jahre alt und habe die acht letzten dieser Jahre im zivilen Katastrophenschutzamt gearbeitet. Meine Aufgaben sind immer mehr administrativer Art geworden. Früher bin ich viel herumgereist, auch im Ausland, in erster Linie zum Schutz von Chemikalientransporten. Ich kenne diese Leute, die zwischen echten und gedachten Katastrophen hin und her wandern. Mir gefielen sie, und die Schweden gehörten unter ihnen zu den besten. Unsere Art, eine Katastrophe einzukreisen, hatte oft etwas von einer Elchjagd an sich. Einer gut organisierten Elchjagd, Leute in der richtigen Bekleidung, die sich nicht aufregten, sondern kurz und knapp, aber zuverlässig ins Sprechfunkgerät sprachen. War Lärmen und Schreien angesagt, dann geschah das der Reihenfolge nach und meistens, um einander zu lokalisieren, damit alle wußten, daß jeder an seinem Platz war.
Wenn alles gutging, dann war die Sache klar, und die Katastrophen, die sich aus dem ganzen ergaben, wurden in angemessener Form von dem abkommandierten Schützen erledigt. War abzusehen, daß es schiefging, dann ähnelte die Stimmung einer Suche, nachdem jemand vorbeigeschossen hatte. Der beste Hund wurde geholt, und ein zuverlässiger Schütze machte sich an die Arbeit, die anderen saßen zusammen, während es dämmerte, sicher ein wenig durchnäßt, etwas müde, aber in solidarischer, guter Stimmung, traurig, aber zufrieden, bis man erfährt, ob die Maßnahmen gegen die Katastrophe so gut es ging ergriffen wurden oder ob die Katastrophe einfach ins Unbekannte verschwunden ist, in den an die Dunkelziffer angrenzenden, unerreichbaren Raum.
Mir gefiel diese Stimmung, auch wenn mir jegliche Form der Romantik in Zusammenhang mit Katastrophen fremd war. Uns, die wir nunmehr verstreut auf den Fluren des Katastrophenschutzamtes saßen und eher administrative Aufgaben hatten, fiel es schwerer, den Anblick der anderen zu ertragen. Die realen oder hypothetischen Situationen, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollten, schienen vom Anblick eines Computerbildschirms ersetzt worden zu sein. Wenn man ins Arbeitszimmer eines Kollegen schaute, sah man einen blau leuchtenden Schirm einer bestimmten Größe auf dem Tisch und einen Mann auf einem drehbaren Stuhl. Man konnte sehen, wie klein der Teil des Gesichtskreises und des Lebensfeldes eines Menschen eigentlich ist, der nach landläufiger Meinung von einem Schirm auf einem Tisch vor ihm aufgenommen wird. Ging man zurück in sein eigenes Zimmer, sah man dort dasselbe. Trotzdem gehe ich davon aus, daß das, womit ich arbeite, ehrenwert und von Bedeutung ist und getan werden muß.
Zwei meiner Kollegen, mit denen ich in der früheren Arbeitsgruppe im Amt am besten zusammengearbeitet hatte, befanden sich zu diesem Zeitpunkt, im Juni, in einem Lastwagenkonvoi mit Gütern nach Srebrenica. Das beeinflußte mich ziemlich stark in der Einschätzung meiner Arbeit.
Aber der Schatten fiel eben einfach nicht auf mich, auf meinen Tisch, nicht einmal auf mein Arbeitsgebiet.
Ich bin vierzig Jahre alt, mein ältestes Kind