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Manfred Weil - Sein oder Nichtsein
Manfred Weil - Sein oder Nichtsein
Manfred Weil - Sein oder Nichtsein
eBook304 Seiten3 Stunden

Manfred Weil - Sein oder Nichtsein

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Über dieses E-Book

Vom nationalsozialistischen Rassenwahn verfolgt, flieht der jugendliche Manfred Weil 1939 nach Belgien, wo er nach dem Einmarsch der deutschen Truppen als feindlicher Ausländer nach Frankreich abgeschoben wird. Er entflieht der Todesfalle Konzentrationslager Gurs und taucht in Belgien unter, ehe er sich entschließt, als belgischer Fremdarbeiter getarnt, in der "Höhle des Löwen", in Deutschland, Zuflucht zu suchen.

Dies ist eine Geschichte von Flucht, Lagern und Gestapo-Verhören, von Maskeraden, absurden Zufällen und glücklichen Fügungen, kurz: eine Geschichte vom Überleben!

Das Buch erzählt die Über-Lebensgeschichte des Kunstmalers Manfred Weil (1920 - 2015), der nach dem Krieg weitere 70 Jahre lang als freischaffender Künstler lebte und arbeitete. Sein reichhaltiger Nachlass wird bis heute von seiner Familie ausgestellt und teilweise auch verkauft. Informationen dazu unter: www.manfred-weil.de
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. Jan. 2021
ISBN9783752682731
Manfred Weil - Sein oder Nichtsein
Autor

Mechthild Kalthoff

Mechthild Kalthoff ist Historikerin und lebt in Köln.

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    Buchvorschau

    Manfred Weil - Sein oder Nichtsein - Mechthild Kalthoff

    Anna und Emil Weil

    Zum Gedenken

    Geschieht es jetzt, so geschieht es nicht in Zukunft;

    geschieht es nicht in Zukunft, so geschieht es jetzt;

    geschieht es jetzt nicht, so geschieht es doch einmal

    in Zukunft. In Bereitschaft sein ist alles.

    (Hamlet, 5. Aufzug, 2. Szene)

    Inhaltsverzeichnis

    Erstes Kapitel

    Zweites Kapitel

    Drittes Kapitel

    Viertes Kapitel

    Fünftes Kapitel

    Sechstes Kapitel

    Siebtes Kapitel

    Achtes Kapitel

    Neuntes Kapitel

    Zehntes Kapitel

    Elftes Kapitel

    Zwölftes Kapitel

    Dreizehntes Kapitel

    Vierzehntes Kapitel

    Fünfzehntes Kapitel

    Sechzehntes Kapitel

    Siebzehntes Kapitel

    Achtzehntes Kapitel

    Neunzehntes Kapitel

    Zwanzigstes Kapitel

    Einundzwanzigstes Kapitel

    Zweiundzwanzigstes Kapitel

    Dreiundzwanzigstes Kapitel

    Vierundzwanzigstes Kapitel

    Epilog

    Erstes Kapitel

    Sein Vater nahm es mit Humor. „Entweder, man wird genial, oder man wird völlig meschugge!"

    Die Mutter hingegen war außer sich vor Empörung und konnte sich nicht beruhigen. Was war geschehen?

    Sie hatte das Hausmädchen wie an jedem Nachmittag angewiesen, mit ihrem Sohn spazieren zu fahren, hatte ihm das frischgebügelte Matrosenhemdchen angezogen, ihn in den Kinderwagen gesetzt – ein Gefährt von gigantischen Ausmaßen – und beiden so lange hinterhergeschaut, bis der Wagen am Ende der Piusstraße links in die Venloerstraße abgebogen war.

    Zwei Stunden später erfuhr sie dann von der Nachbarin das Ungeheuerliche. Diese hatte beobachtet, wie die Bedienstete mit dem kleinen Manfred in Richtung Grünflächen gefahren war, dort den Wagen unter einem Baum abgestellt und das Kind im Kinderwagen allein zurückgelassen hatte. Die Nachbarin hielt mit ihren Vermutungen nicht hinter dem Berg: Wahrscheinlich hatte das Mädchen sich mit ihrem Verehrer im Park getroffen und alle Vorsicht und Aufmerksamkeit außer Acht gelassen.

    Das Kind saß nun mutterseelenallein in seinem Wagen, lachte quietschvergnügt in die Sonne und versuchte, sich mit aller Kraft an der Innenwand hochzuziehen. Mit einem Mal stand es in seinem Matrosenhemdchen krummbeinig wie ein Steuermann auf seinem Kutter und strahlte vor Freude, besonders, als der Wagen heftig nach rechts und nach links zu schaukeln begann. Die Nachbarin war zu spät zur Stelle und konnte nicht verhindern, dass der Kleine kopfüber in hohem Bogen aus seinem Kinderwagen fiel.

    „Manfred ist aus dem Kinderwagen gefallen ... und mit dem Kopf aufgeschlagen!"

    Die Mutter schäumte vor Wut, ging in das Zimmer des Mädchens, nahm den Koffer vom Kleiderschrank und schmiss hinein, was immer ihr an Kleidungsstücken und persönlichen Sachen in die Finger kam, schlug den Deckel zu und stellte das schon abgewetzte Gepäckstück vor die Wohnungstür. Diese Person sollte nie wieder auch nur einen Fuß ins Haus setzen, da kannte sie kein Pardon.

    Sie hatte dem Mädchen ihren kleinen Manfred anvertraut, sie, die ansonsten so überaus vorsichtig und ängstlich ihren Erstgeborenen umsorgte, denn er war seit seiner Geburt ein sehr schwaches und kränkliches Kind, das besonderer Pflege bedurfte.

    Seine Eltern erzählten oft, wie winzig er bei der Geburt gewesen war. Gerade mal 1.300 Gramm habe er gewogen, so klein, dass er in eine Zigarrenkiste gepasst hätte. Die Ärzte und Schwestern des Privatsanatoriums Dr. Samuel in Köln-Lindenthal hatten ihre Zweifel nicht verborgen, dass sie seine Chancen, die ersten Wochen überhaupt zu überleben, für denkbar schlecht hielten. Das Kind sei viel zu früh auf die Welt gekommen und sein Geburtsgewicht zu niedrig, so dass man davon ausgehen müsse, dass seine Organe nicht vollständig ausgereift und seine Konstitution insgesamt zu schwach sei. Jederzeit könne ihn eine Lungenentzündung oder Darmkrankheit befallen, gegen die der Frühgeborene nicht gerüstet sei.

    Gegen den Rat der Ärzte nahmen seine Eltern ihn zu sich nach Hause, obschon auch sie sich keinen Illusionen hingaben. Es war ihr erstes Kind, sie wollten ihren Kleinen bei sich haben und ihn nicht Fremden überlassen, selbst wenn es nur für eine kurze Zeit wäre. In warme Wolldecken verpackt und die Wiege durch mit heißem Wasser gefüllte Steingutflaschen erwärmt, hegten sie die stille Hoffnung, ihn am Leben zu halten.

    Erfahrungen in der Säuglingspflege hatte die Mutter allerdings nicht; sie war so ängstlich und behutsam, dass sie sich zunächst gar nicht traute, dieses Bündelchen Mensch überhaupt hochzuheben, geschweige denn zu baden. Eine Tante kam daher ins Haus, sie nahm beherzt den zerbrechlichen Körper auf den Arm, wusch und pflegte ihn und legte ihn dann wieder zurück in den Weidenkorb. Sie hatte selbst sechs Kinder und wusste, worauf es ankam.

    „Wenn er nicht trinkt, musst du versuchen, ihm die Milch tröpfchenweise mit dem Teelöffel zu geben, immer wieder versuchen, ihn zu füttern, damit er genug Flüssigkeit bekommt, sonst trocknet er aus."

    An eine Beschneidung¹ war gar nicht zu denken. Jede auch noch so kleine Gefährdung seiner Gesundheit wollten sie vermeiden und ließen ihn daher erst mit der Geburt ihres zweiten Sohnes Anatol beschneiden, fünfzehn Monate später.

    Strenggläubig waren seine Eltern indes nicht. Der Vater nahm zwar seine Söhne regelmäßig mit in die Synagoge und legte Wert darauf, dass sie eine jüdische Schule besuchten und Hebräisch lernten, empfand sich aber als liberaler Jude und Weltbürger. Und die Mutter war ohnehin von Hause aus katholisch, jedoch religiös nicht sehr verankert, so dass sie zunächst sogar zum Judentum überzutreten beabsichtigt hatte. Der Rabbiner der jüdischen Gemeinde in der Roonstraße hatte dies angesichts ihres Alters und der vielfältigen Prüfungen, die sie hätte bestehen müssen, als nicht notwendig erklärt und ihnen zugesichert, die Kinder aus ihrer Ehe seien Juden und gehörten der jüdischen Gemeinschaft an.

    Manfreds Großmutter hingegen trug den Scheitl². Sie lebte in einem kleinen Ort im Badischen, nur wenige Kilometer nordöstlich von Breisach, wo der Vater geboren war. An die Besuche dort konnte Manfred sich später noch gut erinnern. Er vergaß nie, dass dort immer ein junges Gör hinter einem der Fenster gestanden und ihm und seinem Bruder die Zunge weit herausgestreckt hatte, als sie die Dorfstraße hinuntergingen. Jahre später sollte er es unter schrecklichen Umständen wiedersehen. Er erkannte sie zunächst nicht, wusste nicht, wer dieses hübsche junge Mädchen war, das da unter der Tür seiner Baracke stand und nach Manfred Weil fragte.

    Sie war mit jenem Transport badischer Juden nach Gurs gekommen, den Gauleiter Wagner ins unbesetzte Frankreich hatte deportieren lassen. Manfred hatte sie jahrelang nicht gesehen, denn die Besuche bei der Großmutter in Eichstetten waren selten. Einmal war der Weg von Köln dorthin weit, und zum anderen gehörte der Vater nicht zu der Sorte Mensch, die enge verwandtschaftliche Bindungen pflegt, zumal er 1887 mit fünf oder sechs Jahren einem wohlhabenden Onkel aus Buffalo in Obhut gegeben worden und erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland zurückgekehrt war.

    Die Großmutter hatte, gerade Witwe geworden, diese Entscheidung vermutlich in dem Glauben getroffen, ihrem Sohn eine glänzende Zukunft in Amerika zu ermöglichen. Der Vater jedoch beklagte sich, bei allem Verständnis, das er seiner Mutter entgegenbrachte, den heranwachsenden Söhnen gegenüber bitter über die Jahre in Amerika. Es war das Gemüt des Onkels, diese beklemmende Mischung aus Geiz, Lieblosigkeit und Ignoranz, die seine Jugend dort überschattet hatte.

    Er selbst, Emil Weil, war ein liebevoller Vater. Er scheute sich nicht, mit Manfred auf dem Arm und einer Windel in der Manteltasche das Café Bauer in der Hohen Straße aufzusuchen und nötigenfalls die Hosen seines Kleinen vor Ort zu wechseln. Das Gespött der anderen störte ihn ebenso wenig wie die Späße, die die Verwandtschaft seiner Frau darüber machte.

    Er war stolz auf seine Söhne, er bemühte sich um sie und verbrachte seine Zeit, wann immer er von einer Geschäftsreise zurückkam, bastelnd und bauend zwischen Baukästen und Zinnsoldaten, fertigte riesengroße Kaufhäuser und Burgen mit ihnen, las ihnen vor oder ging mit ihnen spazieren.

    Manfred hörte ihm bewundernd zu, wenn er von Amerika, von seinen Reisen, wenn er überhaupt aus seinem abenteuerlichen Leben erzählte. Er war ein außerordentlich gebildeter Mann, polyglott und welterfahren. Als Kind schien es Manfred, als gäbe es nichts, was sein Vater nicht schon erlebt hätte, als gäbe es keinen Ort auf der Welt, wo der Vater noch nicht gewesen war.

    In Amerika hatte er, der stickigen Atmosphäre im Hause des Onkels endlich entronnen, vorübergehend Jura studiert, ein Werk über englische Dialekte zu schreiben begonnen, zeitweilig bei einem Indianerstamm gelebt und dann bei einem Schmied gearbeitet, war Statist an der Metropolitan Opera gewesen und in einer Massenszene hinter Caruso hermarschiert, hatte in Brasilien mit Kaffee gehandelt und war jahrelang zur See gefahren. Auf einer dieser Reisen hatte er ein schweres Schiffsunglück überlebt, aber es war nicht diese Havarie, sondern eine Malariaerkrankung, die ihn noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Deutschland zurückbrachte. Im Hamburger Tropeninstitut riet man ihm aus Gesundheitsgründen davon ab, je in feuchte Klimazonen zurückzukehren, so dass er sich entschloss, fürs erste in der Hansestadt zu bleiben.

    Die Kriegstrommeln im August 1914 und die allgemeine Mobilmachung durchkreuzten seine Pläne, und obwohl er einen großen Teil seines Lebens auf der anderen Seite des Erdballes zugebracht hatte, erfasste die kaiserliche Kriegsmaschinerie auch ihn, und er durchlebte die langen Schrecken der Schützengräben, wenn kiloschwerer Schlamm in den rutschenden Unterständen jede Bewegung unmöglich machte, während die von Todesfurcht erstarrten Gesichter der Soldaten den donnernden Granatenhagel erwarteten, immer das Schreien und Brüllen der Verwundeten gegenwärtig und die zerfetzten Leiber ihrer Kameraden vor Augen, die es in den wochenlangen Schlachten bereits erwischt hatte und deren sterbliche Überreste man in dem fortwährenden Feuerregen nicht hatte beerdigen können.

    Unversehrt und mit hohen Orden dekoriert, kam er von den Schlachtfeldern Russlands und Frankreichs zurück und ließ sich – keiner der beiden Söhne wusste so recht warum – in Köln nieder.

    Die Mutter hatte er in einem Café kennengelernt, vielleicht lag es an ihren schönen blonden Haaren, dass er auf sie aufmerksam wurde, sie sich näher kamen und schließlich heirateten. In jedem Fall kam Manfred, der Erstgeborene, viel zu früh auf die Welt und blieb ein schwaches und kränkliches Kind, das eingehender Fürsorge bedurfte.

    Der Kinderarzt war beständiger Gast im Hause Weil, diagnostizierte einmal eine Lungenentzündung, später Mumps und Masern, drang auf die Einhaltung einer strengen Diät bei einer verschleppten Gelbsucht, schnitt die eitrigen Knoten einer Furunkulose auf und desinfizierte die blutenden Stellen. Ein anderes Mal behandelte er wochenlang eine schwere Verbrennung, an der die Mutter nicht ganz unschuldig war.

    Sie hatte kochendes Wasser in den Badezuber geschüttet, wohl aber nicht darauf geachtet, dass der kleine Manfred – wie so oft – hinter ihr auf dem Fenstersims saß und sofort in das kochende Wasser sprang, als sie sich umdrehte, um kaltes zu holen. Mitsamt dem Bub fiel die Wanne zu Boden, und das kochend heiße Wasser ergoss sich über den hölzernen Fußboden.

    Der Vater hatte ihr schwere Vorwürfe wegen dieser Unachtsamkeit gemacht, denn die Verbrennungen, die der Sohn davontrug, heilten lange nicht aus, entzündeten sich immer wieder aufs Neue und machten das Kind für Monate unbeweglich. Geduldig trug der Vater ihn nächtelang durch die Wohnung, wenn der Kleine vor Schmerzen nicht schlafen konnte, erzählte ihm Geschichten und versuchte ihn zu zerstreuen, wenn der Arzt sein ernstes Gesicht über die großflächigen Brandwunden an den Oberschenkeln beugte und diese mit einer braunen Lösung bepinselte.

    Er war ein Meister seines Faches, dessen Auge geschult war und dessen Verstand schnell die Krankheitszeichen seiner Patienten zu deuten wusste.

    „Ich rieche es schon, sagte er neun Jahre später, als er an einem Montagmorgen gerufen wurde und kaum die Stube betreten hatte. „Ich rieche es schon, und suchte in seinem schwarzen Arztkoffer nach einem Spatel.

    „Der Junge hat Diphtherie, kein Zweifel, Diphtherie", sagte er, noch ehe Manfred den Mund geöffnet und die Zunge herausgestreckt hatte. Der für die Halsbräune kennzeichnende süßliche Geruch und ein bräunlich verfärbter Rachenraum gaben ihm recht; es musste sofort gehandelt werden, um Schlimmeres zu verhüten.

    So kam Manfred in die Lindenburg, wo strenge Schwestern schon bereit standen, um ihn eindringlich zu ermahnen, sich nicht zu bewegen, und – hier sei er in einer Krankenanstalt – tunlichst Ruhe zu bewahren, damit er wieder gesund werden könne. Was sie verlangten, für ihn war es unmöglich. Er musste sich bewegen, er konnte nicht ruhig liegenbleiben, geschweige denn den Mund halten.

    Genauso schwer fiel es ihm, sich einfach unter die Decke zu legen, die Augen zu schließen und in den Schlaf hinüberzudämmern, ein Umstand, der ihn Zeit seines Lebens begleiten sollte. Er schlief nur, wenn der Körper seine Schlafschuld einforderte, wenn sich der Sendbote spät in der Nacht nicht mehr vertrösten ließ und er gezwungenermaßen wegsank aus Aktivität und Wachsein.

    Am nächsten Morgen bewegten sich die weißen gestärkten Hauben im Rhythmus ihrer Köpfe, und der Ton wurde unerbittlich, wenn sie zum wiederholten Male den Finger und die Augenbrauen hoben, ihn schalten und zurechtwiesen und düster die schlimmen Folgen aufzeigten, die ein Nichtbefolgen ihrer Gebote habe: Das Herz und sogar die Nieren würden geschädigt und das Fieber würde wieder steigen, Diphtherie sei eine sehr, sehr schwere Krankheit.

    Ihr Schimpfen und Schelten hatte keinen Sinn, die ganzen fünf Wochen hindurch konnte er das Geforderte nicht leisten, und so lag er einsam in einem weißen Bettgestell und wartete darauf, dass seine Eltern kamen, ihm hinter einer schmalen Glasscheibe zuwinkten und etwas zur Zerstreuung mitbrachten. Dass ausgerechnet in der Lindenburg seine lebenslange Liebe zu Shakespeare ihren Anfang nahm, ahnte er nicht, als er die von seinen Eltern geschenkten kleinen Zigarettenbildchen erstmals in den Händen hielt. Es waren Illustrationen von Aufführungen, jeweils eins pro Zigarettenpäckchen, die in einer Reihe von sechs Bildern ein berühmtes Theaterstück oder eine Oper darstellten. Er las die kurzen Erläuterungen, die unter einer der Zeichnungen standen, und war fasziniert: Hier ging es um einen dänischen Prinzen, dessen Vater vom Onkel ermordet wird. Der Prinz sinnt auf Rache und wird selbst unbeabsichtigt zum Mörder, eine verwickelte Geschichte mit tragischem Ausgang.

    Von nun an sammelte er diese Bilder, tauschte doppelt erworbene mit anderen Kindern in regelrechten Umtauschzirkeln ein und hatte bald eine stattliche Zahl von Zeichnungen von Klassikern zusammen, die er erst Jahre später zu lesen begann.

    ********************

    Regelmäßig am Donnerstagnachmittag lud die Mutter ihre Verwandtschaft zu Kaffee und Kuchen ein. Die Tische waren fein und reichlich gedeckt, und ihre Augen glänzten, wenn das Haus sich füllte und die Gäste um die große Tafel Platz nahmen. Sie war eine herzliche Gastgeberin und teilte gern mit vollen Händen aus, während sie sich angeregt in die bald lebhaften verwandtschaftlichen Auseinandersetzungen einmischte.

    Der Vater hingegen mied weitestgehend die Familienrunde. Er setzte sich zwar kurz hinzu und sprach mit jedem ein nettes Wort, machte sich indessen bald mit angemessener Entschuldigung wieder auf. Inmitten dieser den praktischen Dingen des Lebens zugewandten Menschen fühlte er sich nicht heimisch und mochte sich auch nicht in ihre kleinbürgerlichen Zwistigkeiten einmischen.

    Zudem war er viel beschäftigt, viel unterwegs und brachte in den guten Jahren viel Geld mit nach Hause. Wenngleich er ein erfolgreicher Geschäftsmann war, bedeutete ihm im Grunde das Geldverdienen nicht wirklich etwas. Er hatte Geld und gab es aus, ohne sich auch nur im mindesten Gedanken über die Zukunft zu machen, geschweige denn in irgendeiner Form Vorsorge zu treffen oder gar seinen Kindern das Pfennigzählen beizubringen. „Vielleicht habe ich euch nicht erzogen, meinte er einmal nachdenklich im Hinblick auf seine häufige Abwesenheit, „vielleicht habe ich euch nicht erzogen, aber ich habe euch auch nicht verzogen. Schon als Kind empfand Manfred diese Einstellung als sehr weise. Die Mutter sah Anatol einiges nach und entschuldigte vielerlei. Bei Manfred war es umgekehrt, bei ihm ließ der Vater eher Nachsicht walten und drückte so manches Auge zu. Aber es gab Grenzen. Wenn sie zu weit gegangen waren, hatten sie zu Hause einen fürchterlichen Krach zu erwarten, der so bald nicht abebbte.

    Einmal hatten er und Anatol wochenlang die Schule geschwänzt und waren stattdessen in den Gassen der Innenstadt herumgelaufen, hatten an der Uferpromenade den Schiffen auf dem Rhein hinterhergeschaut und sich so die Zeit vertrieben. Nach zwei Wochen bekamen die Eltern einen Brief vom Rektor, der anmahnte, dass die Söhne seit geraumer Zeit unentschuldigt fehlten.

    Als sich beide an diesem Tag arglos beim Glockenschlag von Groß St. Martin durch die Altstadtgassen und entlang der Ringe auf den Weg machten, bei der Menschenschlange am Arbeitsamt in der Badstraße³ stehenblieben, um das stets wiederkehrende Schauspiel zu beobachten, wie ein Polizist einem Arbeitslosen die wöchentliche Unterstützung aus der Hand nahm und sie der wartenden, mit bangen Blicken dreinschauenden Ehefrau gab, immer unter großen Protesten des Mannes, der sich um Schnaps und Bier betrogen sah und dessen Schimpfen noch lange zu hören war, als Manfred und sein Bruder schon Richtung Rudolfplatz weiterliefen und sich beeilten, rechtzeitig zum Mittagstisch zu Hause zu sein, ahnten sie nicht, was ihnen bevorstand. Kaum hatten sie die neue Wohnung am Friesenplatz betreten, da schlug es dreizehn.

    „Der Brief des Rektors, der Vater hielt das blaue Kuvert in der Hand, „der Brief des Rektors ... sie waren nicht in der Schule gewesen ... ganze zwei Wochen ... nicht in der Schule gewesen ... wo waren sie gewesen ... nicht in der Schule gewesen ein Sturm der Entrüstung brach los, den Manfred Zeit seines Lebens nicht vergaß.

    Sie hatten sich nichts Schlimmes dabei gedacht, hatten einfach die Nase gestrichen voll gehabt von der Schule und den Lehrern und sich eigenmächtig einige erholsame Ferientage eingeräumt, weg von dieser quälenden Langeweile und den tagtäglichen Schlägen. Zu Hause wurde Manfred nie geschlagen, dafür in der Schule umso mehr.

    Es verging nahezu kein Tag, an dem er nicht die unbarmherzige Härte der schulmeisterlichen Hand oder des Rohrstockes zu spüren bekam, die bevorzugt ihn trafen, weil er vor lauter Langeweile dem Unterricht nicht folgte, lieber seine Späße trieb, unter der Bank zeichnete oder seinen Gedanken nachhing. Viel, ja nahezu alles hing von der Laune der Lehrer ab, ob es Prügel setzte, ob die harte Hand unberechenbar und strafend niedersauste oder ob die Unterrichtsstunden glimpflich verliefen. Sie waren keine Engel, und in gewisser Weise berührten ihn die Strafen, die er wegen Jux und Dollerei bekam, nicht sonderlich, die steckte er weg. Schwerer waren die Schläge zu verkraften, die er zu Unrecht und immer häufiger erhielt.

    Er war schon einige Jahre auf der Schule, als der Konrektor ihn fürchterlich schlug, weil Manfred über einen seiner Witze gelacht hatte. Es war ein guter, ein sehr guter Witz mit überraschender Pointe, und Manfred amüsierte sich köstlich. Er lachte laut und aus vollem Halse, aber vielleicht hatte er zu laut und zu herzlich gelacht, vielleicht fühlte der Lehrer sich genasführt: Der Wind, seine Laune hatte sich gedreht, die Zeichen standen auf Sturm, und so hagelte es Schläge, so fürchterliche Schläge, dass der Lehrer selbst sich im Nachhinein bei Manfred entschuldigte und ihm ein Fünfzigpfennigstück als Entschädigung zusteckte. Und mit fünf Groschen konnte man schon einiges anfangen, das war für kindliche Augen ein recht stattlicher Betrag.

    Der Unterricht interessierte ihn nicht. So sehr er es sich auch wünschte, es gab – mit einer Ausnahme vielleicht – keinen unter diesen humorlosen Lehrern, der seine Stunden auch nur halbwegs anregend gestaltete. Um ihn zu maßregeln, wurde er für Wochen in einen unteren Jahrgang versetzt, kam wieder in seine Klasse zurück, hatte von dem behandelten Stoff kaum etwas mitbekommen und erhielt für sein Nichtwissen schlechte Noten. Oft

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