Offenheit
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Über dieses E-Book
Jaqueline Scheiber öffnet jeden Tag ein virtuelles Fenster zu ihrer Welt. Als "minusgold" berührt sie auf Instagram mit sehr persönlichen, leuchtenden, manchmal unbequemen Posts. So entsteht ein Raum für Erfahrungen anderer, die sich mit ihren eigenen zu einem dichten Netz an Anteilnahme und Unterstützung verweben. Doch was für die einen mutig ist, stößt bei anderen auf Ablehnung. Jaqueline Scheiber reflektiert präzise, warum sie es für unerlässlich hält, die eigene Stimme zu erheben und gehört zu werden. Sie beschreibt den Balanceakt zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und tritt den Beweis an, dass "radical softness as a weapon" (Lora Mathis) die Basis ist für ehrlichen Austausch, empathische Auseinandersetzung und echte Veränderung.
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Buchvorschau
Offenheit - Jaqueline Scheiber
Domin
Der Vorhof
Ich bin eine Leuchtreklame.
Ich halte es für unerlässlich, dass es Menschen gibt, die sich in die Mitte eines Raums stellen und darauf bestehen, gesehen zu werden. Nicht nur, um eine von vielen Graustufen innerhalb aller klassischen Schwarz-Weiß-Malerei zu markieren, sondern auch, um selbstbestimmt die eigene Position zu gestalten.
Anhand meiner ganz persönlichen Reise zeige ich auf, wie ein offener Umgang mit Themen, die unser aller Leben bewegen, funktionieren kann und welche Auswirkungen er womöglich auf Umfeld und Leser*innen hat.
Nicht jede*r muss sein oder ihr Privatleben von den Dächern schreien. Es genügt, wenn es einige Menschen wie Leuchtreklame am Straßenrand gibt. Menschen, die durch ihre Ehrlichkeit auf sich aufmerksam machen und keine Angst davor haben, für ihre Aussagen verurteilt zu werden. Menschen, die sich Themen widmen, die fernab der üblichen Normalbiografie liegen, die das Hässliche und das Schöne im Leben entdecken, benennen und aufzeigen, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Darüber hinaus braucht es auch Menschen, die dieses Leuchten wahrnehmen und sich damit identifizieren können, um ein Stück Licht ins Dunkel der Tabuthemen zu bringen. Denn Licht reflektiert und erweitert sich, je mehr Fläche es zur Verfügung hat. So kann ein Wandel stattfinden.
Und eine dieser Leuchtreklamen, das bin ich.
Wenn ich mich jemandem vorstelle, dann erfolgt das immer in drei Abschnitten: Ich bin Sozialarbeiterin. Ich schreibe, seit mir Sprache zur Verfügung steht. Und mittlerweile ist mir eine gewisse Öffentlichkeit zuteilgeworden.
Ich bin heute besser bekannt unter dem Pseudonym Minusgold, das ich vor mehr als zehn Jahren für mich und mein Tun erschaffen habe. Minusgold ist jedoch mehr als bloß die Zusammensetzung zweier Worte. Es beschreibt die Reise, die ich durch dieses Leben bis hierher gemacht habe, und vor allem, wie ich sie auf verschiedenen Plattformen zum Ausdruck brachte. Sie hat mich an den Punkt geführt, an dem ich heute stehe und von dem aus ich erzählen kann, warum mein offener Umgang mit Tabuthemen nicht bloß mir, sondern vielen anderen Menschen geholfen hat.
Es gibt viele Vorurteile und Annahmen, weshalb Menschen sich auf Social-Media-Plattformen exponieren, wie ich es tue. Ich habe mein Leben mit einer digitalen Persona namens Minusgold verwoben und nutze diese, um mich für Themen wie psychische Gesundheit, Körperbilder, Feminismus und das Tabuthema Trauer einzusetzen. Damit einher geht eine gewisse Form der Selbstdarstellung, die ich in den vergangenen Jahren entwickelt habe.
(Selbst-)Darstellung ist traditionell vor allem für bestimmte Bereiche der Kunst, des Schauspiels und der Unterhaltung reserviert. Man findet sie in der Politik, unter Prominenten oder in der Kunstszene. Nun kommt sie zunehmend aus dem Privaten, aus den eigenen vier Wänden direkt über die Bildschirme gespült in eine Welt, die noch nicht vollends versteht, wie sie mit dieser Art von roher Wahrheit umgehen soll. Ich habe diesen Weg anfänglich unbewusst gewählt, es steckte keinerlei Strategie oder illusorischer Antrieb dahinter, die Welt zu verbessern. Erst zu einem späteren Zeitpunkt begreife ich meine Sprache als Werkzeug. Es ist meine persönliche Geschichte, deren viele Facetten unter einem Begriff zusammenlaufen: Ich lege mich offen. Und damit bin ich ein Beispiel für eine Generation, deren Ausdrucksformen sich im digitalen Zeitalter ständig erweitern.
Ich erzähle meine Geschichte nicht zum ersten Mal, ich habe sie in unterschiedlichen Ausführungen beschrieben und verbreitet. Vor mehr als zehn Jahren habe ich begonnen, das Schreiben im digitalen, öffentlichen Raum zu meiner Begleitung zu machen. In kurzen Erzählungen, Gedichten und Bildern habe ich mich meinem Umfeld mitgeteilt. Habe mich mir selbst und anderen begreiflich gemacht.
Ich bin eine junge Frau, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, auf virtuellen und realen, kleinen und großen Bühnen eine Rolle zu spielen. Keine Rolle im herkömmlichen Sinne, ich meine damit nicht, dass ich die Kunst des Schauspiels beherrsche. Ich möchte Raum einnehmen, ich möchte mit meiner Präsenz Aufklärung und Offenheit schaffen. Ich habe mich dafür entschieden, vor allem meine persönliche Betroffenheit als Grundlage zu nutzen. Besagte Grundlage ist das Schreiben.
Zum ersten Mal gehe ich hier eine Stufe tiefer. Die folgenden Erzählungen schaffen einen Zusammenhang, den ich bisher in meinem Schreiben nur fragmentarisch skizziert habe. Als Skizzen von einem Haus, das mich repräsentiert und sich erst heute auf festem Untergrund befindet. Ich betrete den Ort, auf den mein Fundament gebaut ist. Später wird ersichtlich sein, welche meiner Wände Brände überstanden und wo sich Risse gebildet haben. Es wird sich zeigen, woraus ich meinen Antrieb schöpfe und welche Beschaffenheit mein Innerstes hat. Ich werde offenbaren, wie es in meinen Gemäuern aussieht und warum ich die Türe zu meinen Räumen nicht mehr geschlossen halten möchte.
Den Bauplan entfalten
In den vergangenen Jahren wurde ich immer wieder damit konfrontiert, dass mein literarisches Können sich auf das Erzählen meines eigenen Weges beschränkt. Die Wahrheit ist: Ich habe nie gelernt, eine andere Geschichte zu erzählen als die meinige. Das habe ich lange Zeit für eine Schwäche gehalten, für etwas, das egozentrisch und unflexibel ist. Heute weiß ich, dass meine Stärke darin liegt, meine Stimme für die Dinge zu erheben, die ich kenne. Damit ein eingegrenztes Feld an Themen zu bedienen, die ich am eigenen Leib erfahren durfte und musste. Erst im Prozess ergibt sich eine Schnittmenge zu anderen Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und daraus etwas beziehen, das sich Kraft und Hoffnung nennt. Ich sauge mir nichts aus den Fingern, ich er- und durchlebe jedes Wort. Es hat sich gezeigt, dass es für mich und andere eine Rolle spielt, laut zu sein, Raum einzufordern und mich nicht irritieren zu lassen von dem Gegenwind, der mir manchmal entgegenblies. Denn die eigenen Karten auf den Tisch zu legen bewirkt nicht nur Zuspruch. Ich habe mich oft in Frage gestellt, und das tue ich