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Githeá: Göttin der Erde
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eBook388 Seiten5 Stunden

Githeá: Göttin der Erde

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Über dieses E-Book

Seit Jahrzehnten treten die Menschen die Natur mit Füßen. Sie zerstören, wildern und nehmen keine Rücksicht. Nun hat die Göttin der Erde endgültig die Geduld mit ihren Kindern verloren. Nur Tarja könnte Githeás Zorn besänftigen wenn sie sich erinnert.Denn die junge Frau hat ihr Gedächtnis verloren und sucht in den Bergen Norwegens nach ihren Erinnerungen. Dort findet sie nicht nur die Liebe, sondern auch Hinweise, die sie auf die Spur der Erdgöttin führen. Doch jemand trachtet ihr nach dem Leben. Während Tarja mit ihren Gefühlen kämpft und ihre Rolle im Plan der Götter zu verstehen versucht, droht nicht nur ihr Gefahr. Naturkatastrophen ungekannten Ausmaßes erschüttern die Erde. Die Zeit läuft Tarja davon, denn in ihren Erinnerungen verbirgt sich der Schlüssel, um die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren.Kann Githeá noch einmal über die Taten der Menschen hinwegsehen?Wer die Erde nicht zu schätzen weiß, hat sie nicht verdient.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum22. Aug. 2019
ISBN9783959914277
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    Buchvorschau

    Githeá - Lilyan C. Wood

    Kapitel Eins

    Großvater, sieh nur, hier liegt ein Mädchen«, rief eine Stimme. »Und sie ist nackig.«

    »Rede doch keinen Unfug, Gustav! Woher soll hier oben denn ein nacktes Mädchen kommen?«, entgegnete in der Ferne die raue Stimme eines Mannes.

    Schritte näherten sich und knirschten auf unebenem Boden. Etwas kitzelte die junge Frau im Gesicht und allmählich färbte sich die Dunkelheit in schillernde, leuchtende Farben. Ihr war kalt und sie spürte eine Gänsehaut am ganzen Körper. Zaghaft öffnete sie die Augen und betrachtete die Sonne, die knapp über dem Gipfel eines Berges hervorlugte. Dann bemerkte sie, dass sie auf felsigem Boden lag und kleine Steine in ihre Haut drückten. Sie stemmte sich auf die Ellbogen und nahm das Gesicht eines kleinen blonden Jungen wahr, der vor ihr hockte. Neugierig musterte er aus braunen Augen ihr Gesicht, während er in einer Hand einen Grashalm auf und ab wippen ließ.

    Erst jetzt realisierte sie, dass sie keine Kleidung trug und die Worte des Jungen ergaben endlich einen Sinn. Sie war nackt! Erschrocken zog sie die Beine an und bedeckte ihre Brüste mit ihren Armen. Doch der Junge sah ihr weiterhin mit unschuldigem Blick ins Gesicht und schien sich nicht an ihrer Blöße zu stören, sodass sie sich entspannte.

    »Guten Morgen«, sagte er und grinste breit.

    »Guten … guten Morgen«, entgegnete sie und strich sich durch die rotbraunen, leicht gelockten Haare, die voller Knoten waren. Ihr Kopf fühlte sich schwer an und es gelang ihr nicht, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Sie starrte weiterhin den Jungen an und entdeckte eine Schürfwunde an seinem rechten Knie. Ihr Gegenüber bemerkte ihren Blick und strich über die Kruste.

    »Gestern Nacht bin ich hingefallen, weil ich dringend aufs Klo musste. Mein Fuß ist an einer der Schnüre hängen geblieben und ich bin mit dem Knie aufgeschlagen.«

    »Hm«, murmelte sie und richtete sich weiter auf, bis sie mit dem Rücken an einer Eberesche lehnte, die ihr Schatten spendete. Ihre Nacktheit störte sie plötzlich nicht mehr, da der Junge nicht mehr darauf einging. Als wäre es vollkommen normal, einer unbekleideten Frau gegenüberzusitzen.

    »Mein Name ist Gustav und wie heißt du?«

    Sie setzte zum Sprechen an, nur um den Mund langsam wieder zu schließen, weil sie nicht wusste, wie die Antwort lautete. Verwirrt horchte sie in sich hinein, doch lediglich Stille antwortete ihr. Da war nichts. Kein Name, kein Wissen. Wer war sie? Wo war sie hier überhaupt? Und weshalb war sie nackt? Sie massierte sich die Schläfe und dachte angestrengt nach. In ihrem Kopf schwoll ein Summen an, das ihr durch Mark und Bein ging und sie zusammenzucken ließ.

    »Ich weiß es nicht«, hauchte sie entsetzt und starrte den Jungen namens Gustav erschrocken an.

    »Bei allen Göttern«, erklang eine fassungslose Stimme, bevor sich ein alter Mann mit wirrem grauem Haar näherte. »Ja, ist das möglich?« Er trug Wanderkleidung und hatte sich einen großen Rucksack auf den Rücken geschnallt, den er jetzt auf dem Boden abstellte, ehe er daraus ein Kleidungsstück hervorkramte. Mit ungläubiger Miene trat er auf die beiden zu und ließ sich neben Gustav im spärlichen Gras nieder, während er ihr Gesicht fixierte. »Du solltest dir etwas überziehen«, riet er ihr und bot ihr ein kariertes Hemd an, das sie dankbar nickend entgegennahm. »Wer bist du denn?«, fragte er und wandte sich ab, als sie sich das Hemd aus weichem Flanellstoff überstreifte und es zuknöpfte. Es war ihr viel zu groß, sodass es ihre Blöße bedeckte. Der Mann drehte sich wieder zu ihr um und seufzte scheinbar erleichtert.

    »Sie weiß es nicht«, antwortete Gustav schnell an ihrer Stelle und zuckte mit den Schultern.

    »Du weißt nicht, wer du bist?«, hakte der Mann nach und betrachtete sie gründlich. »Dann weißt du auch nicht, weshalb du unbekleidet hier gelegen hast?« Seine buschigen grauen Augenbrauen zogen sich angestrengt zusammen und tiefe Falten bildeten sich auf seiner sonnengegerbten Haut.

    Stumm schüttelte sie den Kopf und versuchte erneut in ihren Erinnerungen zu kramen, aber da war nichts, als wären sie völlig ausgelöscht.

    »Hast du etwa dein Gedächtnis verloren?«, fragte der Mann.

    Hilflos zuckte sie mit den Schultern und schloss die Augen, um die Tränen zurückzudrängen, während sie versuchte, sich zu erinnern. Das Summen nahm wieder zu, doch sie konzentrierte sich weiterhin, auch wenn ihr der Kopf schmerzte. Leise drang eine Stimme wie hinter einer dicken Mauer zu ihr vor. Sie konnte sie nicht richtig verstehen. Ihre Lippen formten immer wieder ein Wort, in dem vergeblichen Versuch, die Stimme zu erfassen.

    »Ich kann mich nicht an meinen Namen erinnern«, flüsterte sie irgendwann und gab auf. Hilfe suchend sah sie zwischen Gustav und dem Mann hin und her.

    »Heißt du vielleicht Merle?«, fragte der Junge, doch sie schüttelte den Kopf.

    Der Name klang nicht vertraut.

    »Simone?«, schlug nun auch der Mann einen Namen vor, der jedoch nicht passte.

    Betrübt ließ sie den Kopf hängen, während sie mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfte.

    »Hm«, grübelte der Mann, während Gustav freudig gluckste.

    »Ich hab’s. Du siehst aus wie eine Tarja«, sagte er.

    »Wie sieht denn eine Tarja deiner Meinung nach aus?«, fragte der Mann und sah den Jungen belustigt an.

    »Na, so wie sie«, entgegnete er breit grinsend und zeigte auf sie.

    Der Klang des Namens gefiel ihr. Je mehr sie ihn in Gedanken wiederholte, desto vertrauter war er ihr. Sie hob den Kopf und lächelte zaghaft. »Ja, das muss es sein. Tarja«, flüsterte sie den Namen und fasste nach den Händen des Jungen, um sie dankbar zu drücken. Nun wusste sie zumindest ihren Vornamen.

    »Ein Mädchen mit Gedächtnisverlust finden wir hier oben zum ersten Mal. Und dann auch noch nackt«, murmelte der Mann und schien sich zu besinnen, da sie ihn unsicher anblinzelte. »Ich heiße übrigens Haakon. Gustav ist mein Enkel und wir haben diese Nacht mit den Pfadfindern im Gebirge übernachtet. Hier kommen normaler­weise nur Wanderer hinauf und Menschen, die nach Ruhe oder einer Eingebung suchen. Dem Ort wird nachgesagt, er sei mystisch und es würden göttliche Kräfte walten. Nicht weit von diesem Plateau steht deshalb ein Tempel.«

    Neugierig schaute sich Tarja um. Zu allen Seiten ragten Felsen empor und auf einem Gipfel entdeckte sie ein goldenes Kreuz. Bei diesem Anblick lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinab. Obwohl die warmen Sonnenstrahlen ihren Körper erreichten, fror sie plötzlich in dem dünnen Hemd. Unwillkürlich rieb sie sich die Oberarme und genoss die entstehende Wärme.

    »Wir sollten uns auf den Weg hinab ins Tal machen und dir passende Kleidung besorgen«, schlug Haakon vor.

    »Sie hat doch gar keine Schuhe an, Großvater«, wandte Gustav ein.

    »Ersatzschuhe habe ich leider keine dabei. Wird es so gehen, Tarja?«, fragte Haakon und betrachtete sie besorgt.

    Tarja nickte, denn ihr blieb nichts anderes übrig. Nachdenklich fuhr sie sich mit der Hand über die weiche Fußsohle. Lange konnte sie auf diesem Boden nicht barfuß gelaufen sein.

    Kinderstimmen erschollen und dann kamen mehrere Jungen und Mädchen hinter einer Biegung hervor. Sie lachten und unterhielten sich angeregt, bis sie Tarja entdeckten und mit überraschten Gesichtern stehen blieben, bevor sie aufgeregt auf die drei zurannten.

    »Haakon, wer ist das?«, fragte ein blondes Mädchen und bestaunte Tarja. »Wieso hat sie keine Hose und Schuhe an?«

    Haakon räusperte sich und stemmte sich hoch. »Das ist Tarja und wir werden sie mit ins Tal nehmen, Kinder. Ihre Hose und Schuhe wurden ihr gestohlen«, flunkerte er und tat Tarjas überraschten Blick mit einer Handbewegung ab. »Habt ihr hier oben beim Spielen vielleicht Kleider gefunden?«

    Die Kinder schüttelten die Köpfe, woraufhin der alte Mann Tarja die Hand entgegenstreckte und ihr half, aufzustehen. Gleichzeitig sprang Gustav auf die Beine und wich ihr nicht von der Seite, als fühlte er sich für sie verantwortlich.

    Prüfend strich sich Tarja das Hemd glatt und stellte erleichtert fest, dass es ihr bis über die Knie reichte. »Ich danke euch, dass ihr mich mitnehmt«, sagte sie zu dem alten Mann, der daraufhin abwinkte.

    »Du hast dein Gedächtnis verloren und somit keine Ahnung, woher du kommst oder wie du hier in die Berge gelangt bist. Sicherlich hast du Hunger und Durst. Wir wohnen zwar nur in einem kleinen Bergdorf, aber in Granvin gibt es eine Polizeiinspektion. Der Kommissar ist ein guter Bekannter und kann uns bestimmt weiterhelfen. Womöglich wirst du bereits vermisst und deine Eltern suchen dich überall. Aus deinem Norwegisch höre ich keinen Dialekt heraus, daher ist es leider schwer zu sagen, aus welcher Gegend du stammen könntest.«

    »Hoffentlich sucht jemand nach mir«, sagte Tarja. Sie konnte sich partout an nichts erinnern. Es bereitete ihr Angst, nichts über sich zu wissen, und sie fühlte sich verloren. Zu wem gehörte sie und weshalb hatte sie hier mutterseelenallein und nackt gelegen? Sie konnte von Glück reden, dass Haakon mit seinen Pfadfindern in den Bergen übernachtet und sie gefunden hatte.

    »Ihr bringt mich also zu dieser Polizeiinspektion?«, fragte sie sicherheitshalber nach.

    »Natürlich.« Er kramte erneut in seinem Rucksack und zog einen Müsliriegel und eine Trinkflasche hervor, die er ihr reichte. »Du solltest dich etwas stärken, denn wir werden eine gute Stunde für den Abstieg benötigen. Vielleicht sogar etwas mehr, da du barfuß unterwegs bist.«

    Gierig trank Tarja von dem kühlen Wasser und gab die Flasche zurück, bevor sie die Verpackung des Riegels aufriss. Ihr Magen zog sich zusammen und knurrte leise.

    »Den Müll musst du aber wieder mitnehmen«, erklärte Gustav und nahm ihr die Plastikverpackung ab, um sie in seinem eigenen Rucksack zu verstauen. »Die Umwelt mag kein Plastik und wir wollen unsere Berge sauber halten.« Nach Zustimmung heischend schaute er zu seinem Großvater, der stolz grinste und nickte.

    Tarja freute sich über die Einstellung des Jungen, während sie in den Müsliriegel biss und genüsslich kaute. Es war nicht selbstverständlich, dass Kinder die Natur achteten, so viel wusste sie noch. Glücklicherweise war also nicht all ihr Wissen verloren gegangen.

    »Lasst uns gehen. Eure Eltern warten in einer Stunde bereits am Parkplatz auf euch.« Gestenreich scheuchte Haakon die Kinder vorwärts, die zum Wanderpfad rannten und geordnet in einer Zweierreihe losmarschierten. »Wirst du den Weg wirklich schaffen?«, richtete er sich wieder an Tarja.

    »Ich muss es schaffen, schließlich kann mich niemand von euch huckepack bis zum Dorf hinabtragen«, scherzte sie.

    Haakon fiel in Tarjas Lachen ein und die beiden folgten den Kindern. Gustav flankierte Tarja, damit ihr nichts geschah.

    »Ich passe auf dich auf. Mach dir also keine Sorgen«, versprach er ihr und sah stoisch nach vorne auf den Weg, was sie zum Schmunzeln brachte.

    Was für ein tapferer kleiner Kerl, dachte sie.

    In Gesellschaft dieser Truppe fühlte sich Tarja sicher und in ihr wuchs die Hoffnung, in Granvin zu erfahren, wer sie war und wie sie in die Berge gelangt war. War sie aus eigener Kraft den Pfad hinaufgestiegen oder war sie womöglich entführt worden? Hatte sie ihren Entführern entwischen können und war dann unter der Esche zusammengebrochen? Was, wenn diese Leute noch immer nach ihr suchten und ihr irgendwo auflauerten? Haakon und die Kinder wären wegen ihr in Gefahr. Panisch sah sie sich um, doch sie entdeckte nichts Auffälliges. Es war ratsam, aufmerksam zu bleiben, bis sie weit genug von diesem Ort entfernt und in Sicherheit war.

    Womöglich ging auch lediglich ihre Fantasie mit ihr durch und es gab eine harmlose und völlig normale Erklärung für all das. Sie musste sich nur den Kopf angestoßen haben, was oft schon ausreichte, um eine kurzzeitige Amnesie auszulösen. Aber weshalb war sie dann nackt gewesen und ihre Kleidung, Schuhe und eine Tasche mit ihren Personalien nicht auffindbar? Das passte alles nicht zusammen. Irgendeine Erklärung für ihre Situation musste es geben und Tarja gab die Hoffnung auf eine harmlose Variante nicht auf.

    Die Kinder vor ihr stimmten ein fröhliches Lied an und lenkten sie damit für kurze Zeit von ihrer Suche nach einer Erklärung ab. Sie betrachtete die Umgebung, die von Felsen, Büschen und Bäumen geprägt war. Hier war es traumhaft ruhig und würde sie sich nicht in dieser Situation befinden, hätte sie an diesem Ort verweilen wollen. Die unberührte Natur wärmte ihr Herz.

    Rasch ließen sie die Gipfel hinter sich und folgten dem immer steiler abfallenden Pfad. Unter ihnen befanden sich Wälder und in der Ferne entdeckte sie Wasser, das sich über weite Teile erstreckte. Sicherlich war es einer der vielen Fjorde, die Norwegens Landschaft bestimmten. Das im Sonnenlicht glitzernde Meerwasser erfüllte sie mit Freude und sie vermutete, ein sehr naturverbundener Mensch zu sein.

    Der unebene und steinige Untergrund machte ihren Fußsohlen jedoch zu schaffen. Spitze Steinchen bohrten sich in ihre Haut, weshalb sie regelmäßig die Luft anhielt, um nicht jammern zu müssen. Ihr Blick glitt immer wieder zu Haakon, der neben ihr lief und sie wiederholt musterte. Schnell drehte er sich weg, wenn sie seine Blicke bemerkte. Er runzelte die Stirn, wenn er sie betrachtete, als würde ihn etwas beschäftigen. Womöglich dachte er genauso verzweifelt über ihre Identität nach wie sie selbst.

    Es bedrückte sie, dass sie sich an nichts erinnern konnte, was sie persönlich betraf. All ihre Erinnerungen an ihre Person waren ausgelöscht.


    »Weißt du denn, wie alt du bist?«, fragte Haakon, nachdem sie eine Weile marschiert waren und ordentlich an Höhenmetern verloren hatten.

    Angestrengt dachte Tarja nach. Erneut streikten ihre Erinnerungen und es war, als würde sie in einer leeren Kiste kramen, um nach etwas zu suchen, das sich dort befinden müsste. Enttäuscht schüttelte sie den Kopf.

    »Schade, das wäre ein weiterer Anhaltspunkt gewesen. Vielleicht könntest du siebzehn oder achtzehn sein, denn du siehst noch nicht alt aus«, überlegte Haakon.

    »Dann bist du fast genauso alt wie mein Bruder«, erklärte Gustav stolz. »Frederick ist nämlich schon zwanzig. Gehst du noch zur Schule? Mein Bruder studiert schon. Ich will auch mal studieren, wenn ich groß bin«, plapperte der Junge vor sich hin.

    »Frederick studiert Medizin in Bergen. Er ist ein guter Junge, hilft mir in seinen Semesterferien mit den Schafen«, erzählte Haakon und wirkte dabei, als wäre er in Gedanken. Sein Mund verzog sich und er wirkte mit einem Mal unendlich traurig. Etwas musste ihn bedrücken.

    »Ihr habt Schafe?«, fragte Tarja nach, um den alten Mann abzulenken. Sie wollte ihm nicht zu nahe treten und nach den Gründen seines Stimmungswechsels fragen.

    »Großvater hat sogar ganz viele, denn er züchtet sie.« Fröhlich auf und ab hüpfend war Gustav dem alten Mann zuvorgekommen. »Man kann mit ihnen kuscheln und ihre Wolle ist ganz flauschig«, schwärmte er und ergriff Tarjas Hand. Seine kleinen Finger waren warm und schmiegten sich in ihre Handfläche.

    Für den Jungen schien es selbstverständlich, ihre Nähe zu suchen und so ließ sie ihn gewähren. Seine Wärme in ihrer Handfläche zu spüren, fühlte sich gut an. Sie bemerkte das Schmunzeln auf Haakons Lippen, während er die beiden betrachtete.

    »Seit Jahrzehnten betreibe ich eine Schafzucht in den Bergen. Wir wohnen in einem Dorf, nicht weit entfernt von hier. Dort verbringen die Schafe den Winter im Stall, wenn das Wetter in den Bergen zu hart wird. Man verdient nicht die Welt, aber es reicht, um uns dreien ein angenehmes Leben zu ermöglichen«, sprach Haakon und zuckte mit den Schultern.

    Es schien für ihn das Normalste der Welt, mit Tarja über solch private Themen zu sprechen und sie war über diese Offenheit ihr gegenüber erstaunt. Immerhin war sie für ihn eine Fremde, so wie sie es auch für sich selbst war. Doch sie kam sich nicht so vor. Sie fühlte sich von der kleinen Gruppe aufgenommen und das gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Wäre es nicht so, wäre sie in Anbetracht ihres Gedächtnisverlustes bestimmt bereits panisch geworden.

    »Euch dreien?«, hakte sie nach und bemerkte zu spät, dass dies eine zu persönliche Frage sein könnte.

    Haakon schluckte schwer, bevor er antwortete. »Gustav, Frederick und ich.«

    »Meine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben. Deshalb leben wir bei Großvater«, schaltete sich Gustav ein und schaute traurig auf seine Schuhe.

    »Vor drei Jahren sind mein Sohn und seine Frau verunglückt. Gustav war damals noch sehr klein.« Haakon wuschelte dem Jungen durch die Haare und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln.

    Es war nicht zu übersehen, dass es ihn schmerzte, über den Verlust zu sprechen. Sofort fühlte sich Tarja schlecht, nachgefragt und damit alte Wunden aufgerissen zu haben. Gleichzeitig taten ihr Gustav und Haakon leid. Sie empfand Mitleid mit der kleinen Familie, die solch einen Verlust erleiden musste. Seine Eltern oder sein Kind zu verlieren, war ohne Frage schrecklich.

    »Das tut mir sehr leid«, wisperte sie und schaute nachdenklich in den Himmel. Wegen der Sonne musste sie sich die Augen mit der freien Hand abschirmen. Besaß sie noch Eltern? Sie wünschte sich sehnlichst, sich zu erinnern.

    »Das Leben geht seinen eigenen Weg. Dem einen ist es vorher­bestimmt, lange auf dieser Erde zu wandeln, und andere müssen diese Welt früh verlassen. Was wir Menschen uns wünschen, spielt dabei keine Rolle. Welchen Schmerz wir in unserem Herzen tragen, interessiert das Leben nicht.« Auch wenn er den Eindruck vermitteln wollte, sich mit dem Lauf der Dinge abgefunden zu haben, so war die Verbitterung in seinen Worten nicht zu überhören.

    »Deine Worte stecken voller Leid und Schmerz«, entgegnete sie leise.

    »In meinem Alter hat man schon viele kommen und gehen sehen. Geliebte Menschen sind fort. Jeder Tod hinterlässt eine Kerbe in meinem Herzen. Und mit jeder Kerbe verliert man den Glauben an die Vorstellung, das Leben sei gerecht. Doch Frederick und Gustav sind noch so jung. Ihre Herzen sollten nicht bereits zwei solch große Kerben haben.« Haakon verzog missmutig das Gesicht, bevor er sich von Tarja abwandte und mit großen Schritten an die Spitze der Wande­rtruppe eilte.

    Während Tarja ihm nachsah, dachte sie über seine Worte nach. Es lenkte sie von ihrer eigenen Situation ab. Zu ihrer Verwunderung fühlte sie eine tiefe Verbundenheit mit diesem Mann.

    »Manchmal ist er so traurig«, erklärte Gustav nach einer Weile der Stille, in der lediglich die Schritte der Kinder auf dem felsigen Untergrund und gelegentliches Gemurmel zu hören gewesen war. »Die meiste Zeit ist er fröhlich und erzählt Geschichten über Götter und die Erde. Aber wenn er an Mama und Papa denkt, dann wird er ganz anders. Ich glaube, er denkt, dass er an dem Unfall schuld ist.« In Tarjas Hand wurden seine Finger unruhig, bis er sie zurückzog. »Er denkt immer, ich würde es nicht merken, weil ich noch so klein bin. Aber ich habe ihn belauscht, als er mit sich selbst geredet hat.«

    »Er hat mich sich selbst geredet?«

    »Wenn er richtig traurig ist, trinkt er dieses Zeug, das so eklig riecht, wenn ich im Bett bin. Dann spricht er immer mit sich selbst. Einmal habe ich mich wieder runtergeschlichen und mich auf die Treppe gesetzt. Er schimpft mit sich selbst, bis er weint. Großvater hat immer wieder gesagt, dass er Mama und Papa hätte retten können. Aber Frederick meint, dass man die Zeit nicht zurückdrehen kann und dass Großvater den Unfall nicht hätte verhindern können.« Unsicher knetete Gustav seine kleinen Hände. »Ich erinnere mich nicht mehr gut an Mama und Papa. Aber ich vermisse sie so sehr. Frederick und Großvater vermissen sie noch mehr, glaube ich.«

    Tarja wusste nicht, was sie darauf entgegnen sollte. Zu gerne wollte sie den Jungen trösten, doch sie wusste nicht wie. Worte konnten den Schmerz nicht lindern. Sie brachten Gustavs Eltern nicht zurück. So nahm sie seine Hand wieder in ihre und drückte sie sachte. Gustav drehte ihr das Gesicht zu und sie schenkte ihm ein mitfühlendes Lächeln. Er erwiderte es zaghaft, bevor er wieder geradeaus schaute und sich auf den Weg konzentrierte.

    In Tarja tobten die verschiedensten Gefühle. Mitgefühl für diese Familie, aber auch Dankbarkeit, dass sie sich ihrer angenommen hatten. Angst und Ungewissheit aufgrund ihrer eigenen Situation und der Tatsache, dass sie nichts über sich wusste. Sie fühlte sich wie ein Buch, dessen Inhalt ausgelöscht und dessen Seiten plötzlich unbeschrieben waren. Und doch blätterte sie immer wieder darin, auf der Suche nach der kleinsten Information, nach wenigstens einem Wort, das darin geschrieben stand.

    Kapitel Zwei

    Die kleine Gruppe kam gut voran und so war der Parkplatz, auf dem bereits mehrere Eltern ihren Kindern zuwinkten, schnell in Sichtweite. Tarjas Füße schmerzten und ein penetrantes Ziehen in den Fußsohlen bestätigte ihre Vermutung, dass sie es nicht gewohnt war, lange und vor allem steinige und abfallende Strecken barfuß zu bewältigen. Also hatte sie ihre Schuhe auf jeden Fall verloren oder sie waren ihr gestohlen worden.

    Viele Erwachsene betrachteten Tarja verwundert, nachdem sie ihre Kinder in Empfang genommen hatten. Kein Wunder, schließlich war sie barfuß und nur mit Haakons Hemd bekleidet.

    »Gustav hat sie in den Bergen gefunden«, hörte Tarja ein Mädchen seiner Mutter erklären. Die Frau zog überrascht die Brauen hoch, als sie Tarja musterte.

    Sie selbst war unsicher am Rande des Parkplatzes stehen geblieben und beobachtete das freudige Wiedersehen der Kinder und deren Eltern. Die Kleinen wurden geherzt und umsorgt, als wären sie wochenlang fort gewesen. Gustav hatte sich von allen Freunden verabschiedet und leistete ihr nun Gesellschaft. Tarja bemerkte seine sehnsüchtige Miene, während er die rührenden Szenen beobachtete. Also nahm sie ihm seinen Rucksack ab, den er noch immer geschultert hatte, und wuschelte ihm durch die Haare, wie sie es bei Haakon gesehen hatte. Sie hatte das dringende Bedürfnis, den Jungen zu trösten und ihm Halt zu schenken.

    Gustav lehnte sich an sie und ergriff erneut ihre Hand. Es war ihr, als würde sie seine Sehnsucht spüren.

    »Es tut mir leid, dass ihr warten musstet. Die Eltern wollen jedes Mal zuerst wissen, ob alles geklappt hat. Früher war die Rückkehr noch etwas entspannter. Heutzutage machen sich Eltern über jede Kleinigkeit zu viele Gedanken«, erklang Haakons Stimme und Tarja sah überrascht auf.

    »Aber die Kinder sind bei dir doch in guten Händen?«, entgegnete sie.

    »Das sollte man meinen«, sagte er und lachte. »Ich führe diese Wanderungen und Übernachtungen bereits seit Jahrzehnten mit Pfadfindern durch. Irgendjemand muss den Kindern schließlich Achtsamkeit und den richtigen Umgang mit der Natur beibringen.«

    »Und Großvater kennt die besten Lagerfeuergeschichten«, schaltete sich Gustav ein und riss sich von den fortfahrenden Autos los. »Geschichten über Götter und Fabelwesen.«

    »Ein alter Mann kennt viele Geschichten. Das bringt das Alter mit sich«, sagte er und zwinkerte Tarja zu. Dann forderte er die beiden auf, ihm zu folgen und ging in Richtung eines Pick-ups, der schon bessere Tage gesehen hatte. Das grüne Fahrzeug hatte eine offene Ladefläche, auf der einiges an Gerümpel, wie ein Drahtzaun, Pfosten und alte Decken, lag.

    Ohne zu murren kletterte Gustav auf die Rückbank und Haakon hielt Tarja die Beifahrertür auf. Sie ließ sich auf dem abgewetzten Sitz nieder und sog den Geruch nach verschiedenen Tieren in sich auf.

    »Man darf als Schafzüchter nicht zu anspruchsvoll sein«, entschuldigte sich Haakon, nahm auf dem Fahrersitz Platz und startete den Motor.

    Das Auto vibrierte, als es ansprang, und Tarja fühlte sich für einen Moment in dem Fahrzeug eingeengt. Hatte sie etwa Platzangst? Doch das unangenehme Gefühl verschwand so schnell, wie es gekommen war. Ob sie einen Führerschein besaß und womöglich ein eigenes Auto? Auch daran konnte sie sich nicht erinnern.

    Sie fuhren vom Parkplatz und den Schotterweg entlang, bis dieser in eine asphaltierte schmale Straße überging, die hinab ins Tal führte. Zu beiden Seiten erhoben sich Laubbäume in die Höhe und Gras wucherte überall. Dazwischen schmiegten sich Büsche und Sträucher an die Baumstämme. Die wilde Natur, die trotz der nahe gelegenen Straße herrschte, bereitete Tarja erneut unbändige Freude und es zog sie schon wieder zurück in die Berge, in denen sie nur Stunden zuvor erwacht war.

    »Du wirst momentan genug mit dir selbst und deiner Situation zu tun haben, und dann belaste ich dich zusätzlich während des Abstiegs mit meinen bedrückenden Gedanken und Ansichten. Es tut mir leid, wenn ich dir damit zu nahe getreten sein sollte und dich das nun ebenfalls beschäftigt. Das wollte ich dir noch gesagt haben«, durchbrach Haakon das eingekehrte Schweigen, das lediglich von den leisen Tönen des Radios untermalt wurde. »Normalerweise schütte ich mein Herz nicht wildfremden Mädchen aus. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Natürlich interessieren dich unsere Familien­angelegenheiten auch nicht.«

    Mit beiden Händen umklammerte er das Lenkrad und sah starr geradeaus, um Tarja nicht in die Augen sehen zu müssen.

    Schämte er sich etwa vor ihr? Niemand sollte sich schämen müssen, über seine Gefühle zu sprechen.

    »Das muss dir nicht leidtun. Du hast mich keineswegs damit belastet und niemand sollte seine Gefühle in sich verschließen. Brauchen wir nicht alle jemanden, dem wir uns anvertrauen können? Auch wenn es ein Fremder ist, dem wir unser Herz ausschütten. So muss man sich immerhin nicht vor Vorwürfen fürchten. Denn Fremde lauschen einem vorbehaltlos«, entgegnete sie und stellte fest, dass Haakon sie interessiert musterte, ehe er wieder auf die Straße schaute.

    »Du bist ein sehr empathischer Mensch, Tarja. Außerdem verfügst du über das Talent, die richtigen Worte zu wählen, sodass dein Gegenüber merkt, du verstehst ihn.«

    »Das ist ein Kompliment, nehme ich an«, sagte sie und grinste, als Haakon nickte.

    Erneut spürte sie diese Verbundenheit zu diesem Mann und auch zu Gustav. Ihre Nähe fühlte sich vertraut an, als gehörten sie zusammen, was nicht sein konnte. Irgendwo dort draußen war ihre Familie, die sie womöglich bereits suchte und sich Sorgen machte.

    Vor ihnen entdeckte Tarja das Wasser eines Fjordes, das in der Sonne funkelte, als würde es aus tausenden Diamanten bestehen. Unvermittelt bogen sie auf eine breitere Straße ab, die am Ufer des Meeresarmes vorbeiführte. Es herrschte nur wenig Verkehr.

    »Welchen Wochentag haben wir?«, fragte sie daher.

    »Sonntag«, gab Haakon zurück. »Am Freitag haben die Sommerferien begonnen. Vielleicht machst du mit deiner Familie in unserer Region Urlaub. Viele sind Freitag nach der Schule losgefahren, um in anderen Teilen Norwegens Urlaub zu machen oder um nach Schweden oder in den Süden zu fahren. Am Dienstag beginnen auch die Semesterferien der Studenten. Bergen ist knapp zwei Stunden von hier entfernt. Es gibt unzählige Möglichkeiten, woher du kommen könntest. Hoffen wir, dass uns die Polizei helfen kann.«

    Tarja knabberte auf ihrer Unterlippe herum, während sie begann, eine Haarsträhne um ihren Finger zu wickeln. Nach dem Marsch sehnte sie sich nach einer Dusche. Ihre bis zur Taille reichenden Haare waren verknotet und wirr, ihre Haut schmutzig und ihre Füße voller Staub. In dem dünnen Hemd und ohne Unterwäsche fühlte sie sich immer unwohler. Die anderen trugen robuste Wanderkleidung und sie ahnte, dass sie verwunderte Blicke auf sich ziehen würde, so wie sie es bereits am Parkplatz getan hatte.

    »Gustav ist eingeschlafen«, stellte Haakon nach einem Blick über die Schulter fest. »Also können wir einen Abstecher nach Granvin machen und in der Polizeiinspektion vorbeischauen, wenn du willst und es noch etwas länger in dem Hemd aushältst. Dort ist auch sonntags jemand.«

    Tarja nickte langsam. Auch wenn sie sich in diesem Aufzug unwohl fühlte, wollte sie so schnell wie möglich Antworten. »Das wäre gut. Vielleicht sucht mich meine Familie ja bereits.« Tief in ihr glomm die Angst, dass sie enttäuscht werden würde. Dass niemand sie suchte. Aber das war Blödsinn, es musste sie jemand suchen. Jeder Mensch hatte auf dieser Erde jemanden, der einen vermissen würde, wenn man einfach so verschwand, oder? Hoffentlich hatte auch sie Freunde und Familie, die sie in diesem Moment verzweifelt suchten. Wenn sie sich nicht von allem losgesagt hatte und als Einzelgängerin lebte, deren Verschwinden entgegen ihrer Hoffnung doch niemandem auffallen würde.

    Es machte sie nervös, über all diese Möglichkeiten nachzudenken und schlussendlich waren es lediglich Spekulationen, die ins Leere führten, da sie sich sowieso nicht erinnern konnte. Also setzte sie alle Hoffnungen auf die norwegische Polizei.

    Nach kurzer Zeit passierten sie das Ortsschild von Granvin. Tarja betrachtete die Häuser, die überwiegend aus Holz bestanden und die Straße in den verschiedensten Farben säumten. Entgegen ihrer Erwartung war das Städtchen nicht sehr groß. Ein Schild wies auf den Hafen hin, wie es bei vielen Orten der Fall war, die an einem Fjord lagen.

    Im Zentrum von Granvin befand sich die Polizeiinspektion, die sehr überschaubar wirkte. Ein einzelner Wagen mit Blaulicht stand vor dem winzigen Gebäude. Ob man ihr hier wirklich weiterhelfen konnte?

    Haakon schien Tarjas Skepsis zu bemerken. »Die Inspektion ist sehr klein, aber sie haben Verbindungen zu Polizeistationen im ganzen Land. Bestimmt können sie deinen Namen im System prüfen oder nachschauen, ob eine Vermisstenanzeige läuft, die auf deine Person

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