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Stadtgrenzen: Reacher-Reihe 2
Stadtgrenzen: Reacher-Reihe 2
Stadtgrenzen: Reacher-Reihe 2
eBook313 Seiten4 Stunden

Stadtgrenzen: Reacher-Reihe 2

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Über dieses E-Book

Auf diese Auszeit hatte er gewartet und niemand, nicht einmal sein restliches Team, kann ihn vom Gegenteil überzeugen. Bei diesem Job muss er für einen alten Feind arbeiten und die Stadtgrenze zu London überqueren.

Beide Brüder gehen gerne Risiken ein, aber Charlie hat keine Ahnung, wieviel wirklich auf dem Spiel steht. Das Team muss sich seiner Vergangenheit, sich selbst und einem Killer stellen, der näher ist, als sie glauben.

Werden sie es schaffen, lebend aus der Stadt zu entkommen?

SpracheDeutsch
HerausgeberNext Chapter
Erscheinungsdatum3. Aug. 2020
ISBN9781071558317
Stadtgrenzen: Reacher-Reihe 2

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    Buchvorschau

    Stadtgrenzen - L. E. Fitzpatrick

    1

    Die Straßenlaternen flackerten im dichten, dunklen Smog der Stadt. Mystique machte sich auf den Heimweg. Ihre neonfarbenen Stiefel stampften heftig über den zerrissenen Asphalt und sie versuchte verzweifelt, sich auf den Beinen zu halten, trotz ihres Rauschs. In Wirklichkeit hieß sie Clare, Clare Trent, war 32, versuchte zu tun, als wäre sie 23 und diese Lüge trug sie gerade nach außen.

    Es war eine kalte Julinacht, sie hatte hart gearbeitet und die schwüle Herbstbrise half ihr, ihre schmerzenden Schultern zu entspannen. Ihren Mantel hatte sie über den Arm gelegt und es kümmerte sie nicht, dass man sich bei ihrem Glitzerkostüm seinen Teil denken konnte. Sollten die anderen denken, was sie wollten. Das war immer ihr Motto gewesen. Klar, sie war eine Prostituierte, sie gehörte aber nicht zu denen, die an der Straßenecke herumstanden und ein Bedürfnis befriedigten, das sowieso nie verschwindet. Clare arbeitete im Lulu‘s. Manche Leute waren angetan von ihr, sie war gerade vom Champagner betrunken und das Kleidchen, das sie trug, war mehr wert, als die meisten Menschen in S‘aven in einem Jahr verdienten.

    Es war 04:00 Uhr und die Straßen erwachten langsam zum Leben, denn die Nachtlokale schlossen. Haufenweise reiche Londoner säumten die Straßen, sangen und pfiffen ihr nach. Sie lächelte, huschte an ihnen vorbei und rief ihnen lässig zu, dass sie morgen für jeden, der es sich leisten konnte, im Lulu‘s wäre.

    In London wurde ab 22:00 Uhr eine Ausgangssperre verhängt, sodass jeder in S‘aven, der einen Pass hatte, die ganze Nacht hindurch feiern oder sich einen Unterschlupf suchen konnte, wo er bis zum Morgen geschützt war. Die Bars hatten geöffnet, bis sich die ersten Sonnenstrahlen zeigten, aber normalerweise gaben sich jetzt gerade die Londoner den schmutzigen Freuden hin, die S'aven zu bieten hatte, und davon gab es haufenweise.

    Die Gruppen, die sich auf den Straßen tummelten, hatten ihre Chancen verpasst. Sie waren entweder zu betrunken oder zu arm, um sich ein Zimmer in einem der vielen Bordelle leisten zu können, die die Stadtgrenze säumten. Aber es war heiß und es war allen egal, draußen zu schlafen, wenn der Morgen anbrach.

    Noch eine Gruppe lief an ihr vorbei und jubelte ausgelassen. Sie gestikulierte und grabschte etwas mit den Händen und tanzte von ihnen weg. Der Trick bestand darin, es mit Humor zu nehmen. Eine Szene zu machen, würde sie auf sie aufmerksam machen und was Clare so gar nicht gebrauchen konnte, war Ärger. Sie beschleunigte ihren Schritt und ignorierte die Blasen, die an ihren Hacken schmerzten. Einige aus der Gruppe lösten sich heraus und folgten ihr. Zwei riefen ihr nach, sie würden ihr die beste Zeit ihres Lebens verschaffen und sie konnte nur lauthals darüber lachen. Sie blieben bei einem anderen Häuserblock stehen und sie ignorierte sie. So war es immer und sie hatte jetzt 32 Jahre überlebt, indem sie sich eine bestimmte Rücksichtslosigkeit angewöhnt und ein eisernes Nervenkostüm zugelegt hatte.

    Sie lief an noch zwei Straßen vorbei, ehe sie merkte, dass sie noch immer verfolgt wurde.

    Es war nicht das erste Mal, dass sein Arschloch dachte, er könne es bei ihr versuchen. Aber Clare lebte schon lange genug hier, um zu wissen, wie sie sich zur Wehr setzen konnte. Sie holte lässig das Springmesser, das sie bei sich hatte, und das Reizgas, das Lulu allen Mädchen gab, aus dem Mantel. Kurz den Mantel zurecht geschoben und sie war gewappnet. Sie verlangsamte ihr Tempo und genoss die Kontrolle, die sie hatte.

    Es näherte sich jemand. Sie spürte etwas hinter sich, das groß und kalt war. Sie spürte Hände im Nacken, die sich um ihren Hals legten und Fingerkuppen, die ihre Haut streichelten. Das war ihr Moment. Sie drehte sich um und griff zum Messer, nicht zum Reizgas.

    Es stieß ins Nichts.

    Niemand war da.

    Auf der menschenleeren Straße wurde es dunkler, der Griff um ihren Hals hielt aber an. Das Messer fiel zu Boden, als sie versuchte, denjenigen abzuschütteln, der ihr den Hals so zudrückte. Sie konnte nicht atmen. Ihr Körper wurde in die Luft gehoben. Sie trat um sich, wobei ihre Absätze leicht über den Asphalt unter ihr fuhren. Der Griff wurde enger und sie verlor die Kontrolle über alles: Ihren Atem, ihre Blase, ihr Leben. Ihre Arm- und Beinknochen wurden gebrochen. Sie wollte schreien, brachte aber nur ein Krächzen heraus.

    Als es ihr schwarz vor Augen wurde, sah sie einen Umriss, eine Gestalt in der Ferne, die einen Arm nach ihr ausstreckte. Sie versuchte, nach ihr zu greifen, aber es war zu spät.

    Das hätte so nicht kommen sollen - waren ihre letzten Gedanken, bevor es zu Ende ging.

    Harveys eilige Schritte verlangsamten sich.

    Am Ende der Straße konnte er eine Frauenleiche sehen. Zögerlich näherte er sich und schaute, ob jemand etwas sah. Das war das dritte Mädchen. Er holte sein Handy heraus und machte ein Foto, für seine Sammlung.

    2

    Auf dem Land erstickte die Hitze alles. Ein Netz aus schwarzen Wolken, das sich bedrohlich am Himmel erstreckte, kündigte noch einen Regenguss an. England litt in diesem Sommer besonders und wurde in der Morgensonne gebraten, wie ein Steak. Bald würde der Regen einsetzen und die leeren Straßen und Felder benetzen. Dann wäre für einen kurzen Augenblick alles abgekühlt, ehe dann die Hitze wieder einsetzte. Bei diesem Wetter konnte man nichts säen, wodurch das Land so brachlag, wie selbst im Winter nicht. Die kleinen Dörfer, die dem Süden Englands ihren Reiz verliehen, waren längst verlassen worden, nachdem vor zehn Jahren eine so starke Flut sie heimsuchte, wie man sie bis dahin nicht erlebt hatte. Großflächige Seen und Sümpfe erstreckten sich nun über das Flachland und Schornsteine, die zu den Dächern der ehemaligen Ortschaften gehörten, ragten aus dem flachen Wasser. Erinnerungen an bessere Zeiten.

    Rachel war durch das weite Land gereist. Sie hatte den bitterkalten Winter in einem verlassenen Bauernhaus verbracht und sich beim ersten Anzeichen des Frühlings auf den Weg gemacht. Schon bald hatte es geschneit und der Schnee blieb bis April liegen. Als sie aber auf dem Rücksitz des gestohlenen Range Rovers saß und ihr der Schweiß über den Hals und den Rücken lief, wünschte sie sich, wieder am Kamin zu sitzen, wo sie versuchte, die Frostbeulen von ihren Füßen zu bekommen.

    Nicht nur unter der Hitze hatte sie zu leiden. So nahe war sie ihrer ehemaligen Heimat seit zehn Jahren nicht mehr gekommen. Seit sie die Gebrüder Smith getroffen und sich ihr Leben für immer verändert hatte. Damals war sie die Beute gewesen, ein Preis für rücksichtslose Menschen, die ein teuflisches Spiel spielten. Durch ihre Abwesenheit hatte sie sich aber verändert und sie war stärker geworden. Save Haven, das alte Elendsviertel, das London umgab, war weniger als eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Dass sie jetzt ganz in der Nähe war, machte sie nervös. In dieser Stadt hatte sie viel Blut vergossen und ein Leben gelebt, in das sie nicht mehr zurückwollte. Sie gehörte nicht mehr hierher. Sie gehörte nirgends mehr wirklich hin, so wie die beiden Männer, die mit ihr im Auto saßen.

    Die Brüder hätten sie eigentlich entführen sollen, ihr Sinneswandel hatte aber nicht nur Rachels Leben, sondern auch ihr eigenes gerettet. Der ältere Bruder, Charlie, war ein Wrack, denn er trug eine Schuld, die sein Leben ruinierte hatte, seit seine Frau ermordet wurde. Die ganze Zeit lebte der jüngere Bruder, John, sein Leben und wollte Charlies Verfehlungen einfach nicht wahrhaben. Da zehn Monate vorher Rachel zu dem dynamischen Duo gestoßen war, war ihnen Ärger erspart geblieben und Rachel war es gewesen, die sie über die Wintermonate eng miteinander verbunden hatte.

    „Das sollte die richtige Gegend sein", sagte Charlie, der vom Stadtplan aufschaute und auf die offene Straße schaute. Auf seinen stoppeligen Backen glitzerten Schweißperlen. Durch das Leben auf der Straße wurde er immer ungepflegter, aber er war jetzt zwei Monate trocken und das macht sich allmählich. bemerkbar. Seine Augen waren heller, seine Laune war um Längen erträglicher. Auch wenn er bei weitem nicht so fein und adrett aussah, wie sein Bruder, so hatte er doch eine innere Schönheit, eine Ausstrahlung, durch die man ihn schnell ins Herz schloss.

    Er drehte den Stadtplan um. Durch den Spiegel grinste er sie schuldbewusst an.

    John war den ganzen Morgen gefahren, während Charlie ihn auf abgelegene Feldwege und abgefahrene Straßen lotste. John schien die Hitze ebenso wenig auszuhalten, wie die anderen. In den zehn Monaten, die sie sich nun schon einen Rücksitz teilten, hatte sie ihn noch nicht einmal schwitzen sehen. Was ihm die Zornesröte ins Gesicht trieb, war eine weitere Sackgasse. Sie waren ab vom Schuss und je mehr Straßen sie passierten, desto mehr wurde der Konflikt, der sich anbahnte, geschürt.

    „Es wäre hilfreich, wenn wir wüssten, wonach wir suchen", murrte John, dessen Geduld mit jeder Sekunde mehr abnahm. Er umklammerte das Lenkrad so fest, dass das Auto selbst sich schon enger zu werden schien.

    „Es ist eine kleine Kapelle, habe ich gesagt. Es sieht aus, wie eine Kapelle. Müsst ihr noch mehr wissen, um sie euch ausmalen zu können?"

    „Wer nur baut eine Kapelle in der tiefsten Einöde?"

    „Darcy sagte, sie liegt nahe der Straße, sodass wir sie nicht verfehlen können."

    Es gab hier weder Kirchen, noch Kapellen, sondern nur Ruinen, Relikte einer verbotenen Religion. Als der Staat überall im Land die Säkularisation durchsetzte, verschwand alles: Religion, Toleranz, Vernunft. Es bedeutete, dass diejenigen, die noch immer am Glauben festhielten, sich mit einem nomadischen Gott begnügen mussten. Kirchen, Synagogen und Moscheen bewegten sich im ganzen Land, manchmal nebeneinander, denn diejenigen, die wegen ihrer Religion verfolgt werden, leisten sich gerne Gesellschaft.

    Rachel selbst war in einem Kloster aufgewachsen, ein Waisenkind mit besonderen Kräften, von Nonnen aufgezogen, die dachten, dass sie mehr war, als nur eine Mutation. Das war Pater Darcy zu verdanken, aber es war ihm auch zu verdanken, dass ihre Schwester verschwunden war und das Erbe, das Isobel hinterlassen hatte, Rachel schon einmal eingeholt hatte. Sie war sich nicht sicher, wie sie sich fühlte, den alten Priester wieder zu sehen, behielt aber ihre Gedanken für sich. Darcy war für Charlie und John wie ein Vater und, auch wenn sie nicht die beste Zeit dort verbracht hatten, so legten sie doch noch sehr viel Wert auf die Familie. Plötzlich dämmerte es Rachel, dass sie nun auch zur Familie gehörte.

    „Wieso meinst du, hat er angerufen?", fragte John, nun sichtlich entspannt, da sie jetzt eine Strecke fuhren, auf der der Asphalt besser war und es weniger Schlaglöcher gab.

    „Ich weiß nicht. Ich hatte den Eindruck, er hätte einen Job für mich, am Telefon wollte er aber nicht darüber sprechen."

    „Wieso wollte er nicht sagen, ob es ein Job ist?"

    „Ich weiß nicht, John. Frag ihn doch, wenn wir ihn treffen." Charlie wischte sich das Gesicht am Ärmel ab und klopfte dann aufgeregt auf dem Armaturenbrett herum.

    Etwas stach durch die braune Landschaft.

    Ein kleines steinernes Gebäude, das instabil aussah, erhob sich am Ende der Straße. Die Steine und die Dachplatten fielen schon herunter. Der Friedhof war mit Brombeersträuchern und Nesseln überwuchert, der Haupt Hof zur Kapelle war aber erst kürzlich gesäubert worden. Neben dem Bach, der zur Kirche hinaufführte, waren Reifenspuren. Es hatten offenbar Leute hier geparkt, bevor sie dann zum Gottesdienst gingen. Oberflächlich war vielleicht schon alles am Einstürzen, Gott hatte diese Hütte aber noch nicht verlassen. Rachel schaute auf das lässige Kreuz auf dem Dach, das sich gen Himmel erstreckte, als der Regen losbrach.

    Das Wasser prasselte so hart auf sie ein, dass das Auto wackelte. Rachel schaute auf ihre Stiefel. Sie waren wasserfest und nagelneu, wie die meisten ihrer anderen Habseligkeiten. Sie hatte S‘aven verlassen und nichts mitgenommen, da sie ohnehin wenig dort hatte. Jetzt hatte sie neue, gut verarbeitete, Kleidung, zwei Paar Schuhe und sogar eine Armbanduhr, die lief. Es war ein harter Winter, der sicher aber auch sein Gutes hatte.

    John stellte das Auto ganz in der Nähe des Kapellen Tores ab. Er zog die Handbremse an und ließ den Motor laufen.

    Charlie schaute finster. „Du kannst nicht hier draußen bleiben."

    „Jemand sollte die Straße im Auge behalten."

    „Wozu? Wir sind seit zwei Stunden unterwegs und haben nur ein einziges Auto gesehen."

    John legte die Hände auf das Lenkrad, denn er wollte jetzt ganz sicher nirgends hin.

    „Hat das mit deiner Phobie zu tun?"

    „Welche Phobie?", fragte Rachel.

    „John hat eine Kirchenphobie."

    Rachel konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Es war schwer vorstellbar, dass John sich vor etwas fürchtete. „Du hast eine Kirchenphobie?"

    „Es ist keine Phobie!", antwortete John.

    Charlie schüttelte den Kopf. „Gut, aber stell den verdammten Motor ab. Wir müssen an die Umwelt denken."

    „Mir gefällt der Gedanke, ihr den Gnadenstoß zu versetzen", raunte John und Rachel konnte auch nach zehn Monaten nicht sagen, ob das ein Scherz war, oder nicht.

    Er stellte dennoch den Motor ab und im Auto wurde es seltsam still.  Würde John nicht eintreten, bedeutete das, dass auch Rachel nicht gehen musste. Sie konnte der Versuchung aber nicht widerstehen, denn es war für sie viel einfacher, als Darcy zu stellen.

    „Du kannst hierbleiben, wenn du willst, Rachel", meinte Charlie.

    Sie schüttelte den Kopf, denn zur Familie zu gehören bedeutete, in guten und in schlechten Zeiten. Für alles Gute, musste sie auch Schlechtes durchstehen. Sie hatte ihre neuen Schuhe und es war jetzt an der Zeit, Darcy zu stellen.

    „Worauf warten wir noch?"

    Charlie wurde von Tag zu Tag beweglicher. Die Stichverletzungen in seinem Rücken würden nie völlig heilen, aber er kam jetzt mit dem restlichen Schmerz gut zurecht und lernte, seinen Körper wieder zu gebrauchen. Wie er da so mit der Krücke daherkam, schaute jede Bewegung sinnlos aus. Er schwankte aus dem Auto und schwang sich herum, um für Rachel die Tür zu öffnen.

    Es regnete in Strömen. Noch ehe sie die Veranda erreichten, waren sie durchnässt. Eine notdürftige Tür stand offen und innen wurden die Überreste der Kapelle durchnässt, denn durch die Löcher im Dach regnete es. Verfallene Kirchenbänke waren planlos verteilt, als hätte sie jemand vor dem Wasser schützen wollen, aber das Dach war in einem solch desolaten Zustand, dass es drinnen so viel regnete, wie draußen.

    Die Fenster links in der Kapelle waren noch intakt. Das leicht gefärbte Glas verdunkelte sich, denn Sonne drang nicht hinein. Die rechte Seite war längst weg, denn sie hielt den Stürmen nicht stand, die in vielen Jahrzehnten über das Land hinweggefegt waren.

    Es war eine Kapelle, die einst zur Anglikanischen Kirche gehört hatte, nun aber von Katholiken genutzt wurde. Das hatte seltsame Auswirkungen. Die Statue der Jungfrau Maria und ein paar Heiliger, die nicht zu unterscheiden waren, waren auf den Kirchenbänken verteilt, so deplatziert wie ein Atheist in einem Gotteshaus. Rachel schaute sie etwas liebevoll an. Sie war nicht wirklich religiös, dies aber waren Symbole ihrer Kindheit.

    Charlie lief an den Statuen vorbei. Er ging in die Sakristei und rief nach Charlie, während Rachel in das dunkle Kirchenschiff ging und versuchte, die steinernen Heiligenstatuen zu identifizieren. Über dem Altar hing ein großer Jesus am Kreuz. Das Kreuz war zu groß für diese kleine Kirche, wie es so über dem Kirchenschiff thronte und Gemeindemitglieder musterte. Rachel erinnerte sich aus ihrer Kindheit an ein ähnliches Symbol und daran, wie wütend die Nonnen auf sie wurden, wenn sie es wagte, die ganze Herrlichkeit Jesu anzuzweifeln. Als sie sich daran erinnerte, musste sie lächeln. Sie schaute hinauf zu Jesus und war überrascht, seine nackten schwarzen Füße zu sehen. Dann, als sie die Stulpen seiner Jeans sah, runzelte sie die Stirn. Ihre Augen wurden weiter, als sie ein Gesicht sah, dass sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hatte.

    „Charlie!", schrie sie.

    Darcy trug nichts um die Hüfte. Seine Rippen schauten aus seiner ledrigen Haut, was den Schluss zuließ, dass er unterernährt war. Seine Arme waren mit blutigen Seilen an ein primitives Kreuz gebunden, das aus einer kaputten Kirchenbank bestand. Für seine Füße war kein Seil mehr übrig gewesen, sodass ein Gürtel die Füße des 80-Jährigen fixierte. Er hatte auch noch weitere Narben: Brandblasen auf seiner Brust und dem Gesicht und sein restlicher Körper war voller blauer Flecken und getrocknetem Blut. Wie lange er dort oben wohl schon war?

    „Hol John!, sagte Charlie. Er versuchte verzweifelt, den Körper zu befreien, aber es misslang. „Hol John!, befahl er wieder und Rachel erwachte aus ihrer Schockstarre.

    Sie schrie vom Gang aus und sollte John wirklich eine Phobie haben, so würde das hier locker reichen, sie zu besiegen. Er war sofort bei ihnen. Er nahm das schwere Kreuz ab und legte es mit Charlies Hilfe auf den Boden. Durch den Regen war das Holz schwerer und rutschiger. Wasser tropfte auf Darcys abgezehrten Körper, während John die Fesseln durchtrennte.

    „Wer macht so etwas nur mit einem alten Mann?", fragte Charlie und zitterte vor Wut. Das war sein Vater und Mentor. Es war egal, dass sie zuletzt böse Worte gewechselt hatten, dieser Mann bedeutete ihm alles.

    Rachel kniete sich nieder und fühlte den Puls, mehr aus Gewohnheit, als in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen. Es gab eine Möglichkeit, Menschen für tot zu erklären, die sie, während sie im St. Mary‘s Spital, in S‘aven gearbeitet hatte, oft angewandt hatte. Ihre Finger berührten seinen eiskalten Hals und sie wollte sie gerade wegziehen, als sie eine leichte Bewegung spürte.

    „Er ist nicht tot. Ich kann es nicht glauben, er atmet noch immer ganz schwach, sagte sie und drückte das Ohr auf seine Brust. Er war dem Tod nahe und selbst mit ihrer ganzen medizinischen Sachkenntnis konnte sie nicht sagen, ob er die nächsten paar Minuten überlebte. Eines konnte sie aber tun: Sollte er noch leben, dann musste auch sein Gehirn intakt sein. Mit ihren Kräften konnte sie seine Gedanken lesen. „Ich kann vielleicht sehen, wer ihm das angetan hat.

    Noch ehe sie ihre Hand auf die Stirn des Priesters legen konnte, hielt sie John fest.

    Er hielt sie sanft zurück. „Tu das nicht. Das würde Darcy nicht wollen", sagte er.

    Rachel runzelte die Stirn. „Das ist vielleicht die einzige Chance, zu erfahren, wer das war", antwortete sie.

    „John hat Recht, meinte Charlie. „Alles, was Charlie über die ganzen Reacher weiß, die er jemals getroffen hat, ist in seinem Kopf. Er würde nicht wollen, dass jemand seine Gedanken liest. Selbst dann, wenn das bedeutet, dass sein Mörder davonkommt.

    John ließ sie los. Sie überprüfte nochmals Darcys Atmung und sagte: „Dann müssen wir ihn in ein Krankenhaus schaffen, denn hier kann ich nichts für ihn tun."

    „S‘aven ist eine halbe Stunde von hier", sagte John.

    Der Sturm, der draußen wehte, schlug gegen die Mauern. Die Steine begannen zu zittern. Das Wasser strömte noch mehr durchs Dach und warf Dachplatten auf den Mittelgang. Rachel beugte sich über Darcy, zum Schutz, und John beugte sich über sie. Der Lärm wurde lauter.

    Das war kein Wind. Das war etwas Anderes.

    3

    Zwei Monate waren vergangen, seit Mark Bellamy aus dem Arbeitslager entlassen worden war. Er hatte acht Monate Schwerstarbeit auf einer Rübenfarm in den Midlands verbracht, versucht, am Leben zu bleiben und sich gewünscht, er wäre tot. Er hätte sich nicht träumen lassen, wieder frei zu sein, als er eingesperrt war. Nun, da er wieder draußen war, war er das freie Leben nicht gewöhnt. Es ging nicht nur um Freiheit, er führte ein ganz neues Leben, weit weg von den Slums von S‘aven. Er verstand nicht, wie es so kommen konnte, wusste aber, dass es alles mit seinem neuen Chef, Special Agent Wade Adams, zu tun hatte.

    Agent Adams war Mitte Fünfzig, schon zweimal geschieden und hatte nichts mehr mit seinen Kindern zu tun. Dies schien ihm und ihnen gelegen zu kommen, also gut. Als er im Arbeitslager ankam, suchte er Mark, genauer gesagt Mark Bellamy, den Polizistenmörder. Mark saß lebenslang dafür, dass er seinen Kollegen ermordet hatte. Niemand glaubte, dass er unschuldig war und es kümmerte auch keinen.

    Dann kam Adams mit einer Akte voller Bilder und der Ermächtigung, jeden Gefangenen, den er wollte, in einer Minute zu entlassen. Als Adams Mark, an diesem heißen Tag vor zwei Monaten, auf den Rücksitz seines zehn Jahre alten Audi schaffte, hatte er keine Ahnung, wieso er freikam. Jetzt, da er im Keller des Öffentlichen Dienstes saß, war der Grund ihm noch immer ein Rätsel.

    Innerhalb dieser Behörde gab es eine Abstellkammer, in der Mark schlief, er verbrachte seine Zeit aber lieber am freien Schreibtisch, seinem Schreibtisch. Der Raum war eng und unordentlich, voller Akten, Zigarettenstummel und leeren Kaffeetassen, er fühlte sich aber allmählich an, wie eine zweite Heimat. An der Tür war kein Schild.

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