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No Filter: Die Instagram-Story
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eBook487 Seiten10 Stunden

No Filter: Die Instagram-Story

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Über dieses E-Book

Die preisgekrönte Reporterin Sarah Frier enthüllt in ihrem Blick hinter die Kulissen, wie Instagram zu einer der kulturell prägendsten Apps des Jahrzehnts wurde. Gegründet im Jahr 2010, zog Instagram zunächst vor allem Kunsthandwerker an, bevor die Plattform den Durchbruch in den Massenmarkt schaffte und eine heute milliardenschwere Industrie schuf – die Influencer.
18 Monate nach dem Start trafen die Gründer die Entscheidung, das Unternehmen an Facebook zu verkaufen. Für die meisten Unternehmen wäre das das Ende der Geschichte, aber für Instagram war es erst der Anfang. Sarah Frier erzählt die fesselnde Geschichte, wie Instagram nicht nur eine neue Branche geschaffen, sondern auch unser Leben verändert hat – und sie tut dies virtuos auf Basis eines in diesem Maße noch nie gewährten Zugangs zu den verschiedenen Protagonisten.
SpracheDeutsch
HerausgeberPlassen Verlag
Erscheinungsdatum25. Juni 2020
ISBN9783864706974
No Filter: Die Instagram-Story

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    Buchvorschau

    No Filter - Sarah Frier

    Vorbemerkung der Autorin

    Dieses Buch ist der Versuch, Ihnen die definitive Geschichte von Instagram nahezubringen und hinter die Kulissen zu blicken. Ohne die Hunderte von Menschen – derzeitige und ehemalige Mitarbeiter, Manager und andere, die ihre Karriere auf die App aufgebaut haben, sowie Konkurrenten –, die ihre Zeit zur Verfügung gestellt und Erinnerungen mitgeteilt haben, die sie noch nie einem Journalisten erzählt hatten, wäre es nicht möglich gewesen. Die Gründer von Instagram sprachen über mehrere Jahre hinweg gemeinsam und separat mit mir. Facebook gewährte mir mehr als zwei Dutzend persönliche Interviews mit derzeitigen Mitarbeitern und Führungskräften, unter anderem mit dem derzeitigen Chef von Instagram, auch noch nachdem die Gründer das Unternehmen verlassen hatten.

    Trotz der Spannungen zwischen den Gründern und der Firma, die sie übernommen hatte, und trotz der zahlreichen kritischen Artikel, die ich als Journalistin für Bloomberg News über Facebook schrieb, waren sich alle einig, es sei wichtig, dass dieses Buch so zutreffend wie möglich wird. Wenn potenzielle Quellen meine Kontaktanfrage an die Gründer oder das Unternehmen weitergaben, um zu fragen, ob es in Ordnung sei, mit mir zu sprechen, bekamen sie meistens ein Ja, obwohl sowohl das Unternehmen als auch die Gründer wussten, dass sie keine Kontrolle über den endgültigen Inhalt dieses Buches haben würden. Diese Entscheidung spricht für sie.

    Trotzdem sprachen die meisten Quellen für dieses Buch ohne ausdrückliche Erlaubnis des Unternehmens oder ohne sein Wissen mit mir. Dabei liefen sie Gefahr, gegen die Vertraulichkeitsvereinbarungen zu verstoßen, die Mitarbeiter bei der Einstellung unterschreiben. Tatsächlich muss sogar jeder Nichtjournalist, der die Unternehmenszentrale von Facebook besucht, beim Passieren der Sicherheitskontrollen eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterzeichnen, bevor er sich mit einem Mitarbeiter treffen darf. Aus diesem Grund gaben die meisten meiner Quellen ihre Interviews, Dokumente und sonstigen Unterlagen nur anonym.

    Dieser Kontext ist wichtig, um zu verstehen, warum ich das Buch so geschrieben habe, wie ich es getan habe: Ich präsentiere die Geschichte im Erzählstil aus einer allwissenden Perspektive, die alle erwähnten unterschiedlichen Gedächtnisse beinhaltet. Um meine Quellen zu schützen, sage ich nicht direkt, wer mir welche Information mitteilte. Wenn ich auf Nachrichtenmeldungen aufbaue, zitiere ich die Berichterstattung in den Endnoten. Ich habe mich dafür entschieden, nur dann aus aufgezeichneten Interviews zu zitieren, wenn ich einen Außenstehenden ins Spiel bringe, beispielsweise eine prominente Persönlichkeit oder einen Influencer, deren Perspektive uns besser verstehen lässt, wie sich die App auf die Welt auswirkt.

    Seit Beginn des Projekts bat ich um ein Interview mit Mark Zuckerberg für dieses Buch, und hoffte, eins zu bekommen. Ich argumentierte, dass der Facebook-CEO, den ich in den Jahren zuvor schon mehrmals interviewt hatte und den ich bei seiner Aussage vor dem US-Kongress 2018 zehn Stunden lang beobachtet hatte, in der Vorstellung der Öffentlichkeit gewissermaßen zum Bösewicht geworden ist. Ich sagte einem Vertreter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, ein Buch wie dieses sei eine Gelegenheit, sich all die wichtigen Momente anzuschauen, über die wir in der Geschichte von Facebook geschrieben haben, und bei allem nachzubohren, was wir nicht vollständig verstanden, als es geschah.

    Es gebe zwar viele unangenehme Fragen, die ich stellen könnte, aber ich würde mit einer einfachen anfangen. Warum wollte Zuckerberg Instagram kaufen? Ich wolle keine Antwort aus seinem Blog, sondern eine persönliche Story. Welche Schritte und Auslöser veranlassten ihn, an einem Donnerstag im April 2012 zu beschließen, er müsse das Telefon in die Hand nehmen und alle Hebel in Bewegung setzen, um das Unternehmen so bald wie möglich zu kaufen? Und es nicht nur zu kaufen, sondern sich zu verpflichten, es unabhängig bleiben zu lassen?

    Einen Monat, bevor ich das Manuskript abgeben musste, erhielt ich von der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit eine E-Mail von Facebook mit einer Antwort auf diese Frage, die angeblich von Zuckerberg stammte:

    „Ganz einfach: Das war ein großartiger Dienst, und wir wollten ihm beim Wachsen helfen."

    Das ist alles, was ich in dieser Angelegenheit zum Zitieren bekam. Um Ihnen die ganze Geschichte zu vermitteln, griff ich daher auf andere Menschen zurück, die sich daran erinnern, was Zuckerberg in entscheidenden Momenten gesagt oder gedacht hat – soweit sich das aus seinen Aussagen gegenüber Kollegen schließen lässt. Einige dieser Erinnerungen wollte ich mit Facebook abgleichen, aber meistens äußerte sich das Unternehmen zu solchen Anekdoten nicht.

    Grundsätzlich sollte der Leser nicht davon ausgehen, dass die Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, exakt diesen Dialog mit mir geführt haben. In den meisten Fällen gaben mir Personen bei unseren Gesprächen ihre Worte aus dem Gedächtnis wieder, und manchmal erinnerten sich andere genauer an die Details. Dialoge habe ich genauso niedergeschrieben, wie sie mir in Interviews vermittelt wurden, weil ich den Werdegang von Instagram so zu zeigen versuche, wie sich die Beteiligten daran erinnern. Es kann aber sein, dass sich meine Quellen – selbst diejenigen, die sich an ihre Gedanken und Worte erinnern – in vereinfachter oder unzutreffender Form oder auf eine Weise erinnern, die anderen Quellen widerspricht, weil sich die Instagram-Story über zehn Jahre erstreckt. Dieses Buch ist mein bestmögliches Bemühen, die Wahrheit über die Instagram-Story zu liefern, ohne Filter bis auf meinen eigenen.

    Einführung: Der ultimative Influencer

    In der brasilianischen Stadt São Paulo gibt es eine Freiluft-Galerie für Streetart namens Beco do Batman oder Batman’s Alley. Diesen Namen hatte sie schon lange vor der Schöpfung einer ihrer denkwürdigeren Wandmalereien, die auf gut fünf Metern abgeplatzter Farbe die brasilianische Fußballerlegende Pelé in einer Umarmung mit dem „dunklen Ritter" zeigt. Dass es sich um Pelé handelt, sieht man nur an dem Trikot mit der Nummer 10, das seinen Namen trägt. Sein Gesicht ist abgewandt und er presst eine Wange an Batmans Maske, vielleicht küsst er ihn oder flüstert ihm ein Geheimnis zu, während Batmans Hand über Pelés unteren Rücken streicht.

    An einem Samstag im März steht eine junge Frau, etwa so groß wie die Nummer auf Pelés Trikot, vor dem Wandgemälde. Mit ihrer Sonnenbrille, roten Turnschuhen und einem weiten weißen Top wirkt sie gewollt locker. Ihr Freund fotografiert sie mehrmals, wie sie lächelt und dann den Blick nachdenklich in die Ferne schweifen lässt. Sie gehen zum nächsten Bild und wieder zum nächsten, wobei sie bei den beliebteren Hintergründen geduldig warten, bis sie an der Reihe sind. Dutzende andere Menschen tun das Gleiche, darunter drei werdende Mütter in bauchfreien Tops, die Freunde mitgebracht haben, um die Größe ihrer Babybäuche vor einer surrealen violetten Orchidee zu dokumentieren. Daneben posiert ein blondes kleines Mädchen in paillettenbesetzten blauroten Shorts, mit rotem Lippenstift und einem T-Shirt mit der Aufschrift „Daddy’s Little Monster vor einem ominösen Vogel mit einem Baseballschläger in der Hand. Ihre Mutter weist sie an, den Schläger höher und fester zu halten und mehr auszusehen wie Harley Quinn aus der Comic-Reihe „Suicide Squad. Sie gehorcht.

    Entlang der sich windenden Gasse profitieren Händler von den Menschenmassen, denen sie Bier und Schmuck verkaufen. Ein Mann schrammelt auf einer Gitarre, während er auf Portugiesisch singt und hofft, Fans für seine Musik zu gewinnen. Auf sein Instrument hat er ein großes Blatt Papier mit dem Namen seines Social-Media-Accounts und dem Logo der einzigen App geklebt, auf die es hier ankommt: Instagram.

    Mit dem Aufstieg von Instagram ist der Beco do Batman zu einer der bedeutendsten touristischen Sehenswürdigkeiten von São Paulo geworden. Auf der Ferienwohnungs-Website Airbnb verlangen Anbieter circa 40 Dollar pro Person für zwei Stunden in der Gasse mit einem „persönlichen Paparazzo", der hochwertige Aufnahmen von Menschen macht, die sie dann auf Instagram posten; dieser Service gehört zu einem Typus, der zu einem der berühmtesten von Airbnb für Städtereisende auf der ganzen Welt geworden ist.

    Der einzige Aufwand für Amateurfotografen ist der Stress der Perfektion. Eine Mutter bändigt zwei kleine Kinder, die sich um eine Coladose streiten, damit ihre Schwester anstehen kann, um vor großen grünblauen Pfauenfedern zu posieren. Der Teenager, der gerade mit den Pfauenfedern dran war, wird wütend auf seinen Freund, weil der die Gelegenheit durch eine unschmeichelhafte Perspektive vertan hat. Aber niemand fotografiert die Fotografierenden; auf Instagram werden die aufpolierten Bilder zur Wirklichkeit und treiben immer noch mehr Besucher an diesen Ort.

    Ich kam auf Empfehlung eines Mannes namens Gabriel in die Gasse, der an meinem ersten Abend in Brasilien zufällig in einer Sushi-Bar neben mir saß. Meine portugiesischen Sprachkenntnisse waren so schlecht, dass er für die Restaurantmitarbeiter dolmetschte. Ich erklärte ihm, dass ich hergereist war, um mehr über Instagram und seine weltweiten Auswirkungen auf die Kultur herauszufinden. Während wir sprachen und der Koch Sashimi und Nigiri servierte, fotografierte er jedes Gericht, um es in seiner Instagram-Story zu posten, und klagte gleichzeitig, seine Freunde seien derart besessen davon, ihr Leben zu teilen, dass er sich nicht sicher sei, ob sie überhaupt noch ein Leben führten.

    Jeden Monat nutzen eine Milliarde von uns Instagram. Wir nehmen Fotos und Videos von unserem Essen, unseren Gesichtern, unserer Lieblingslandschaft, unseren Familien und unseren Interessen auf und teilen diese in der Hoffnung, dass sie etwas davon wiedergeben, wer wir sind beziehungsweise sein möchten. Wir interagieren mit diesen Postings und miteinander und versuchen so, tiefergehende Beziehungen, stärkere Netzwerke oder persönliche Marken aufzubauen. So funktioniert eben das moderne Leben. Nur selten haben wir Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie wir dahin gekommen sind und was das bedeutet.

    Das sollten wir aber tun. Instagram war eine der ersten Apps, die unsere Beziehung zu unseren Handys vollständig ausnutzten und uns zwangen, das Leben um den Lohn digitaler Bestätigung durch eine Kamera zu erleben. Die Geschichte von Instagram ist eine eindrückliche Lektion darüber, dass sich Entscheidungen innerhalb eines Social-Media-Unternehmens – auf welche Nutzer es hören soll, welche Produkte aufgebaut werden und wie Erfolg gemessen werden soll – dramatisch auf unsere Lebensweise und darauf auswirken können, wer in unserer Wirtschaft belohnt wird.

    Ich möchte Sie mit hinter die Kulissen zu den Gründern Kevin Systrom und Mike Krieger nehmen, als sie überlegten, was sie mit der Macht ihres Produkts über unsere Aufmerksamkeit anfangen sollten. Jede Entscheidung, die sie trafen, hatte eine drastische Wirkung, die sich allmählich ausbreitete. Beispielsweise sicherten sie durch den Verkauf ihres Unternehmens an Facebook die Langlebigkeit von Instagram und halfen dem Social-Media-Giganten gleichzeitig, noch mächtiger und respekteinflößender im Vergleich zur Konkurrenz zu werden. Nach dem Verkauf verloren die Instagram-Gründer ihre Illusionen über Facebooks utilitaristische Kultur des Wachstums um jeden Preis und stellten sich dagegen, indem sie sich lieber auf den Aufbau eines sorgfältig durchdachten Produkts konzentrierten, bei dem die Popularität durch die Geschichten bestimmt wird, die Instagram selbst über seine Hauptnutzer erzählt. Dieser Plan funktionierte so gut, dass der Erfolg von Instagram schließlich Facebook und dessen CEO Mark Zuckerberg bedrohte.

    Auf die Art, wie die Geschichte für die Instagram-Gründer endete – sie verließen das Unternehmen im Jahr 2018 unter Spannungen –, wird sie für uns nicht enden. Instagram ist mittlerweile derart mit unserem täglichen Leben verflochten, dass man die Story des Unternehmens nicht von seinen Auswirkungen auf uns loslösen kann. Instagram ist zu einem Instrument geworden, mit dem kulturelle Relevanz gemessen wird, sei es in der Schule, in einer auf Interessen gegründeten Gemeinschaft oder in der Welt. Ein erheblicher Teil der Weltbevölkerung strebt nach digitaler Anerkennung und Bestätigung, und viele Menschen bekommen sie in Form von Likes, Kommentaren, Followern und Markendeals. Innerhalb und außerhalb von Facebook dreht sich die Instagram-Story letzten Endes um die Schnittstelle von Kapitalismus und Selbstwertgefühl – um die Frage, wie weit Menschen gehen, um zu bewahren, was sie aufgebaut haben, und um erfolgreich zu erscheinen.

    Die App ist zu einer Prominente produzierenden Maschine geworden, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Mehr als 200 Millionen Instagram-Nutzer haben jeweils mehr als 50.000 Follower; laut Dovetale, einem Unternehmen, das Influencer-Analysen durchführt, kann man auf diesem Niveau seinen Lebensunterhalt verdienen, indem man im Auftrag von Marken postet. Weniger als ein Hundertstel Prozent der Instagram-Nutzer hat mehr als eine Million Follower. In dem riesigen Maßstab von Instagram entsprechen diese 0,00603 Prozent allerdings mehr als sechs Millionen Insta-Stars, von denen die meisten nur durch die App berühmt wurden. Um ein Gefühl für die Größenordnung zu bekommen, bedenken Sie, dass Millionen Menschen und Marken mehr Instagram-Follower haben, als die New York Times Abonnenten hat. Marketing mithilfe dieser Menschen, die im Grunde mittels Trendsetting, Geschichtenerzählen und Unterhaltung private Medienunternehmen betreiben, ist inzwischen ein Milliardengeschäft.

    All diese Aktivitäten sind in unsere Gesellschaft eingesickert und wirken auf uns ein, ob wir nun Instagram nutzen oder nicht. Unternehmen, die unsere Aufmerksamkeit wollen – von Hotels und Restaurants bis hin zu großen Verbrauchermarken –, ändern die Gestaltung ihrer Räumlichkeiten und die Werbung für ihre Produkte, indem sie ihre Strategien an unsere neue visuelle Kommunikationsweise anpassen, sodass sie ein Foto für Instagram wert sind. Schaut man sich an, wie Geschäftsräume, Produkte und sogar Wohnungen gestaltet werden, sieht man den Einfluss von Instagram auf eine Weise, wie das bei Facebook oder Twitter nicht so leicht der Fall ist.

    Zum Beispiel hat der Workspace in San Francisco, in dem ich dieses Buch schreibe, die Bücher in seiner Bibliothek weder nach Titel noch nach Autor geordnet, sondern nach der Farbe des Umschlags: Diese Entscheidung leuchtet ein, wenn einem Instagram-Ästhetik wichtiger ist als das Auffinden eines Buches. Eine in Manhattan gegründete Burgerkette namens Black Tap kreierte riesenhafte Milchshakes, auf denen ganze Kuchenstücke schwammen, und monatelang standen die Menschen bis um die Ecke Schlange, um sie zu kaufen. Zwar schafften die Kunden dieses Dessert nur selten, aber sie verspürten den Drang, es zu fotografieren. In Japan gibt es ein Wort für diese Bewegung des instagramtauglichen Designs: insta-bae. Je mehr insta-bae etwas ist – sei es ein Kleidungsstück oder ein Sandwich –, umso größer ist sein Potenzial für gesellschaftlichen und kommerziellen Erfolg.

    In London erklärte mir ein Student, eine größere Anzahl von Instagram-Followern bedeute, dass man mit größerer Wahrscheinlichkeit für eine Führungsposition ausgewählt wird. In Los Angeles sprach ich mit einer Frau, die von Gesetzes wegen noch keinen Alkohol trinken darf, wegen ihrer beträchtlichen Instagram-Gefolgschaft jedoch von Club-Werbern zu exklusiven Veranstaltungen geladen wird. In Indonesien unterhielt ich mich mit einem Elternteil, dessen Tochter in Japan zur Schule geht und jeden Sommer kofferweise japanische Konsumartikel mitbringt, die mittels auf Instagram geposteter Fotos vor Ort verkauft werden. Ich habe mit einem brasilianischen Paar gesprochen, das in der Küche seiner Wohnung eine Bäckereifirma mit Zigtausenden Followern aufgebaut hat, weil die Donuts so geformt sind, dass sie die Worte „I love you!" bilden.

    Instagram befeuert Karrieren und sogar Star-Imperien. Kris Jenner, Managerin der Reality-TV-Familie Kardashian-Jenner, sagt, Instagram habe ihren Job über die Sendung „Keeping Up with the Kardashians hinaus in einen sieben Tage die Woche rund um die Uhr laufenden Content- und Werbezyklus verwandelt. Sie wacht zwischen halb fünf und fünf Uhr morgens in ihrem palastähnlichen Haus im kalifornischen Hidden Hills auf und checkt Instagram, bevor sie irgendetwas anderes tut. „Ich kann buchstäblich auf Instagram gehen und nach meiner Familie schauen, nach meinen Enkeln, nach meinen Geschäften, erklärt sie. „Ich schaue einfach gleich nach meinen Kindern. Was machen alle? Sind sie wach? Posten sie pünktlich Fotos fürs Geschäft? Haben sie Spaß?"

    Der Instagram-Zeitplan wird in Kris’ Büro gepostet, aber sie bekommt auch jeden Abend und jeden Morgen einen Ausdruck davon. Sie und ihre Kinder vertreten zusammen Dutzende Marken, darunter Adidas, Calvin Klein und Stuart Weitzman, außerdem bewerben sie ihre eigenen Kosmetik- und Schönheitsprodukte. Die fünf Schwestern der Familie – Kim Kardashian West, Kylie Jenner, Kendall Jenner, Khloé Kardashian und Kourtney Kardashian – erreichen gemeinsam über eine halbe Milliarde Follower.

    An dem Tag, an dem wir miteinander sprechen, ist Kris unterwegs zu einer instagramtauglichen Party zum Thema Pink, um im Auftrag ihrer Schwester Kylie eine Hautpflegeserie zu lancieren. Sie erinnert sich an das erste Mal, als Kylie sie fragte, ob es okay wäre, ein Lippenstift-Business aufzubauen, einfach nur über ihren Instagram-Feed, ohne physische Produkte in Geschäften. „Ich sagte zu ihr: ‚Fang mit drei Farben in deinem Kästchen an, und das müssen Farben sein, die du wirklich liebst‘, erinnert sich Kris. „Entweder wird es fantastisch und geht weg wie warme Semmeln, oder es wird ein Flop und du trägst für den Rest deines Lebens diese drei Farben.

    Beide waren 2015 in Kris’ Büro, als Kylie den Link zur Website postete. Innerhalb von Sekunden war das Produkt komplett ausverkauft. „Ich dachte, etwas wäre schiefgegangen, erinnert sich Kris. „Ist das kaputt? Ist die Website zusammengebrochen. Was ist passiert?

    Das war kein Glücksfall, sondern schlicht der Hinweis, dass die Menschen alles tun würden, was ihnen ihre Tochter sagen würde. In den nächsten Monaten warteten jedes Mal, wenn Kylie auf Instagram neue Produkte ankündigte, mehr als 100.000 Menschen auf ihrer Website darauf, dass sie einschlugen. Vier Jahre später, als Kylie 21 Jahre alt war, brachte Forbes sie auf dem Titel und erklärte sie zur jüngsten Selfmade-Milliardärin aller Zeiten. Inzwischen scheint jeder Schönheitsguru auf Instagram seine eigene Kosmetiklinie zu haben.

    Diese Zahl – eine Milliarde – hat in unserer Gesellschaft eine gewisse Kraft. Diese Marke bedeutet insbesondere in der Geschäftswelt, dass man einen einzigartigen unantastbaren Status erreicht hat, dass man in einen Ehrfurcht einflößenden und nachrichtenwürdigen Rang gehoben wurde. Als Forbes 2018 in einem Artikel schrieb, das Vermögen von Jenner stehe kurz vor der Schwelle von 900 Millionen Dollar, forderte Josh Ostrovsky, der Inhaber des beliebten und umstrittenen humorigen Instagram-Accounts @thefatjewish, seine Follower auf, für eine Crowdfunding-Kampagne zu spenden, um 100 Millionen Dollar für Kylie zusammenzubringen: „Ich will nicht in einer Welt leben, in der Kylie nicht eine Milliarde Dollar hat", schrieb er in seiner Bildunterschrift und löste damit einen viralen Strudel augenzwinkernder Nachrichten aus.

    Nachdem Instagram von Facebook übernommen worden war – durch einen Deal, der die Branche schockierte –, wurde es die erste mobile App, die eine Bewertung von einer Milliarde Dollar erzielte. Der Erfolg von Instagram war wie bei allen Start-ups unwahrscheinlich. Als die App 2010 startete, war sie weder ein Beliebtheitswettbewerb noch ein Weg zum persönlichen Branding. Sie fasste Fuß, weil man hier einen Blick in das Leben anderer Leute werfen und sehen konnte, was die anderen gefiltert durch die Handykameras erlebten.

    Laut Chris Messina, dem Technologen, der Nutzer Nummer 19 war und das Hashtag erfunden hat, war die Einführung der visuellen Perspektiven anderer Menschen auf Instagram eine atemberaubende Neuerung – vielleicht gleichwertig mit dem psychischen Phänomen, das Astronauten erleben, wenn sie zum ersten Mal die Erde aus dem Weltraum sehen. Auf Instagram konnte man in das Leben eines Rentierhirten in Norwegen oder eines Korbflechters in Südafrika blicken. Und man konnte sein eigenes Leben auf eine Weise teilen und reflektieren, die sich tiefgründig anfühlte.

    „Es gewährt diesen flüchtigen Blick auf die Menschheit und verändert die gesamte Sichtweise auf alles und auf dessen Bedeutung, erläutert Messina. „Instagram hält uns den Spiegel vor und ermöglicht uns allen, mit unseren persönlichen Erfahrungen zum Verständnis dieser Welt beizutragen.

    Als Instagram größer wurde, versuchten seine Gründer, dieses Gefühl des Entdeckens zu bewahren. Sie wurden zu ästhetischen Trendsettern einer Generation und waren dafür verantwortlich, dass wir nun von einer Verehrung visuell fesselnder Erlebnisse durchdrungen sind, die wir mit unseren Freunden und mit Fremden gegen die Belohnung durch Likes und Follower teilen können. Sie investierten massiv in eine redaktionelle Strategie, um zu zeigen, wie Instagram ihrer Meinung nach genutzt werden sollte: als Treffpunkt für verschiedene Sichtweisen und Kreativität. Sie mieden einige von Facebooks spamartigen Taktiken wie etwa das Versenden übertrieben vieler Mitteilungen und E-Mails. Sie widerstanden der Versuchung, Tools hinzuzufügen, die die Influencer-Wirtschaft gefördert hätten. Man kann beispielsweise in ein Posting keinen Hyperlink einfügen oder das Posting von jemandem so teilen, wie das auf Facebook möglich ist.

    Und bis vor Kurzem hatten sie niemals die Messgrößen verändert, um es uns zu ermöglichen, sich mit anderen zu vergleichen und eine höhere Ebene der Relevanz zu erreichen. Instagram gab seinen Usern in der App drei einfache Kennzahlen für ihre Leistung an die Hand: die Zahl der „Follower, eine Zahl für „Following und die Zahl der „Likes" für ihre Fotos. Diese Feedback-Punkte reichten aus, damit das Erlebnis spannend und sogar süchtig machend wurde. Mit jedem Like und jedem Follow bekam ein Instagram-Nutzer eine kleine, befriedigende Belohnung, sodass in den Belohnungszentren des Gehirns Dopamin ausgeschüttet wurde. Mit der Zeit fanden die Menschen heraus, wie man auf Instagram gut wird, und so erschlossen sie sich einen sozialen Status und sogar kommerzielles Potenzial.

    Und aufgrund der Filter, die anfangs unsere suboptimalen Handyfotos verbesserten, war Instagram anfangs ein Ort für aufgehübschte Bilder vom Leben der Menschen. Die Nutzer begannen zu akzeptieren, dass grundsätzlich alles, was sie sahen, bearbeitet worden war, damit es besser aussah. Realismus war weniger wichtig als Ehrgeiz und Kreativität. Die Instagram-Community erfand sogar das Hashtag #nofilter, um andere wissen zu lassen, dass sie etwas Unbearbeitetes, Echtes posteten. Der Instagram-Account mit den meisten Followern – 322 Millionen – ist der vom Unternehmen kontrollierte Account @instagram. Das passt, denn Instagram hat den allergrößten Einfluss auf die Welt, die es geformt hat. Im Jahr 2018 erreichte Instagram eine Milliarde monatliche Nutzer – seinen zweiten „1-Milliarde-Meilenstein". Bald danach verließen die Gründer ihre Arbeitsplätze. Systrom und Krieger stellten fest, dass man selbst dann, wenn man die höchsten Ränge des geschäftlichen Erfolgs erreicht, nicht immer das bekommt, was man will.

    Projekt Codename

    Kevin Systrom, Instagram-Mitgründer Ich sage immer, dass ich gefährlich genug bin, um zu programmieren, und gesellig genug, um unser Unternehmen gut zu verkaufen. Und ich halte das in unternehmerischer Hinsicht für eine unschlagbare Kombination.¹

    Kevin Systrom hatte nicht die Absicht, das Studium abzubrechen, aber auf jeden Fall wollte er sich mit Mark Zuckerberg treffen.

    Der 1,95 m große Systrom mit seinem braunen Haar, seinen zusammengekniffenen Augen und seinem rechteckigen Gesicht hatte den Gründer eines örtlichen Start-ups bereits früher im Jahr 2005 über Freunde von der Stanford University beim Biertrinken aus Plastikbechern auf einer Party in San Francisco kennengelernt. Zuckerberg wurde durch seine Arbeit an TheFacebook.com, einem sozialen Netzwerk, das er ein Jahr zuvor an der Harvard University gegründet hatte und das sich an Colleges im ganzen Land ausbreitete, zum Wunderkind der Technologiebranche. Studenten nutzten die Website, um kurz mitzuteilen, was sie gerade machten, und um ihren Status dann auf ihren Facebook-„Walls" zu posten. Die Website war einfach gehalten, ein weißer Hintergrund mit blauem Rand, nicht wie das soziale Netzwerk Myspace mit seinen grellen Designs und wählbaren Schriftarten. Und sie wuchs so schnell, dass Zuckerberg fand, es gebe keinen Grund, weiterzustudieren.

    In der Zao Noodle Bar in der University Avenue, etwa eine Meile vom Universitätscampus entfernt, versuchte Zuckerberg, Systrom zu der gleichen Entscheidung zu überreden. Beide waren schon alt genug, um Alkohol zu trinken, aber Zuckerberg – etwa 25 Zentimeter kleiner als Systrom, mit hellen Locken und blasser, rosiger Haut, der stets Adidas-Slippersandalen, weite Jeans und einen Hoodie mit Reißverschluss trug – sah viel jünger aus. Er wollte dem Facebook-Erlebnis neben dem Profilbild weitere Fotos hinzufügen und er wollte, dass Systrom dieses Tool erstellte.

    Systrom freute sich, dass Zuckerberg, den er für hyperintelligent hielt, ihn engagieren wollte. Sich selbst hielt er nicht für einen genialen Programmierer. An der Stanford University kam er sich wie ein normaler Mensch unter Wunderkindern aus aller Welt vor und er schaffte in seinem ersten und einzigen Informatikkurs gerade mal eine Zwei. Allerdings passte er in die allgemeine Kategorie dessen, was Zuckerberg brauchte. Er mochte die Fotografie, und eines seiner Nebenprojekte war eine Website namens Photobox, auf der man große Bilddateien hochladen und dann teilen oder ausdrucken konnte, was vor allem nach Partys seiner Studentenvereinigung Sigma Nu geschah.

    Photobox reichte aus, um Zuckerbergs Interesse zu wecken, der damals nicht sehr wählerisch war. Die Personalbeschaffung ist beim Aufbau eines Start-ups immer der schwierigste Teil, und TheFacebook.com wuchs so schnell, dass er die Räume mit Leuten füllen musste. Früher in jenem Jahr konnte man Zuckerberg vor dem Informatikgebäude der Universität mit einem Plakat über sein Unternehmen stehen sehen, weil er hoffte, auf die gleiche Art Programmierer zu gewinnen, wie Vereine auf dem Campus Mitglieder warben. Er hatte sich eine Überzeugungsstrategie zurechtgelegt und erklärte Systrom, er biete ihm die einmalige Chance, von Anfang an bei etwas dabei zu sein, das wirklich riesengroß würde. Als Nächstes werde sich Facebook Schülern und schließlich der ganzen Welt öffnen. Das Unternehmen wolle sich noch mehr Geld von Wagniskapitalgebern beschaffen, und eines Tages könne es größer als Yahoo!, Intel oder Hewlett-Packard werden.

    Und dann, als das Restaurant Zuckerbergs Kreditkarte durchs Gerät zog, funktionierte sie nicht. Er schob das auf den Präsidenten des Unternehmens, Sean Parker.

    Ein paar Tage danach ging Systrom mit der ihm im Rahmen des Entrepreneurship-Programms zugewiesenen Mentorin in dem Vorgebirge in der Nähe des Campus spazieren – Fern Mandelbaum, die 1978 in Stanford ihren MBA in Venture-Investing gemacht hatte. Sie befürchtete, Systrom würde sein Potenzial vergeuden, wenn er alles wegen der Vision eines anderen aufgeben würde. „Machen Sie dieses Facebook-Zeug nicht, sagte sie. „Das ist eine Modeerscheinung. Das führt zu nichts.

    Systrom fand, sie habe recht. Ohnehin war er ja nicht ins Silicon Valley gekommen, um durch ein Start-up schnell reich zu werden. Er hatte vor, in Stanford eine Ausbildung von Weltrang und einen Abschluss zu bekommen. Er dankte Zuckerberg für seine Zeit und plante dann ein Abenteuer anderer Art: im Rahmen des Entrepreneurship-Programms von Stanford ein Auslandsstudium in Florenz zu absolvieren. Doch sie würden in Kontakt bleiben.

    Florenz sprach Systrom auf eine Art und Weise an, wie TheFacebook es nicht tat. Er wusste nicht recht, ob er im Technologiebereich arbeiten sollte. Als er sich in Stanford beworben hatte, hatte er vorgehabt, Bautechnik und Kunstgeschichte zu studieren. Er stellte sich vor, durch die Welt zu reisen und alte Kathedralen oder Gemälde zu restaurieren. Ihm gefiel die Wissenschaft, die hinter der Kunst steht, und dass eine einfache Neuerung – zum Beispiel die Wiederentdeckung der Zentralperspektive durch den Architekten Filippo Brunelleschi in der Renaissance – die Kommunikation der Menschen vollständig verändern kann. Während des größten Teils der Geschichte des Abendlands waren die Gemälde flach und comicähnlich gewesen, aber ab dem 15. Jahrhundert verlieh ihnen die Perspektive Tiefe und machte sie fotorealistisch und emotional.

    Systrom mochte es, darüber nachzudenken, wie die Dinge gemacht werden, und er entschlüsselte gerne die Systeme und Details, auf die es ankam, wenn man etwas Hochwertiges herstellen wollte. In Florenz begeisterte er sich für italienische Handwerkskünste; er lernte den Ablauf der Weinherstellung, das Verfahren, Leder für Schuhe zuzuschneiden und zu nähen, und die Techniken, um einen annehmbaren Cappuccino zu fabrizieren.

    Schon in seiner geborgenen Kindheit erkundete Systrom seine Hobbys mit geradezu akademischem Eifer und in dem Streben nach Perfektion. Er wurde im Dezember 1983 geboren und wuchs mit seiner Schwester Kate in einem zweistöckigen Haus mit einer langen Einfahrt an einer Allee im vorstädtischen Holliston im Bundesstaat Massachusetts, etwa eine Stunde westlich von Boston, auf. Seine energische Mutter Diane war Marketingvorstand der nahe gelegenen Firma Monster.com und später bei Zipcar, und sie machte ihre Kinder schon in der Zeit mit dem Internet vertraut, als man sich noch über Telefonleitungen einwählen musste. Sein Vater Doug war Personalmanager des Konglomerats, dem die Discounter Marshalls und HomeGoods gehörten. Systrom war ein ernstes, neugieriges Kind, das gerne in die Bücherei ging und auf dem Computer das futuristische, von Dämonen bevölkerte Ego-Shooter-Spiel Doom II spielte. Er lernte zu programmieren, indem er eigene Levels für das Spiel entwickelte.

    Er sprang von einer intensiven Leidenschaft zur nächsten und machte Phasen durch, von denen jeder in seiner Umgebung hören musste – manchmal buchstäblich: In seiner DJ-Phase an der Middlesex School kaufte er zwei Plattenspieler und ließ eine Antenne aus seinem Internatszimmer ragen, um sein eigenes Radioprogramm zu senden, in dem er elektronische Musik spielte – damals noch eine Nische. Schon als Teenager mogelte er sich in Clubs, in die man erst ab 21 durfte, um dort seine Idole in Action zu erleben, hielt sich aber doch so weit an die Regeln, dass er dort keinen Alkohol trank.²

    Entweder mochten die Menschen Systrom sofort, oder sie schrieben ihn als eingebildet und arrogant ab, als jemanden, der sich aufspielt. Er konnte anderen gut zuhören, brachte ihnen aber auch sehr gern bei, wie man etwas richtig macht. Damit rief er, da seine Leidenschaften so vielfältig waren, entweder Faszination oder Augenrollen hervor. Er gehörte zu den Menschen, die sagen, sie könnten etwas nicht gut, obwohl sie es gut können, oder sie seien nicht cool genug, etwas zu tun, obwohl sie cool genug sind, und bewegte sich auf dem schmalen Grat zwischen Kontaktfreude und falscher Bescheidenheit. Beispielsweise erwähnte er, um ins Silicon Valley zu passen, oft seine Referenzen aus der Highschool-Zeit als Nerd – die Videospiele und seine Programmiertätigkeit –, aber selten, dass er auch Kapitän der Lacrosse-Mannschaft³ oder dafür zuständig gewesen war, Werbung für Partys seiner Studentenverbindung zu machen. Seine Verbindungsbrüder betrachteten ihn als innovativ, weil er virale Videos einsetzte und damit Tausende Besucher einlud. Systroms erste derartige Produktion aus dem Jahr 2004 hieß Moonsplash und zeigte Verbindungsmitglieder, die in freizügigen Kostümen zu „Drop It Like It’s Hot" von Snoop Dogg tanzen. Bei diesen Veranstaltungen war Systrom immer der DJ.

    Eines seiner langanhaltendsten persönlichen Interessengebiete war die Fotografie. In einem Kurs an der Highschool schrieb er, er setze dieses Medium gern ein, „um allen meinen Blick auf die Welt zu zeigen und „andere dazu anzuregen, die Welt auf eine neue Art zu betrachten⁴. Vor seiner Reise nach Florenz, dem Epizentrum der Renaissance, von der er schon so viel gehört hatte, sparte er, damit er sich nach intensiven Recherchen eine der besten auf dem Markt erhältlichen Kameras mit dem schärfsten Objektiv kaufen konnte. Diese wollte er für seinen Fotografie-Kurs benutzen.

    Sein Lehrer in Florenz, ein Mann namens Charlie, war davon nicht beeindruckt. „Du bist nicht hier, um perfekte Fotos zu schießen"⁵, sagte er. „Gib mir die mal."

    Systrom dachte, der Professor wollte die Kamera anders einstellen. Stattdessen brachte er den stolz gekauften Apparat in sein Hinterzimmer und kam mit einem kleineren zurück, einer Holga, die nur verschwommene quadratische Schwarzweiß-Aufnahmen machte. Sie war aus Kunststoff, wie ein Spielzeug. Charlie erklärte Systrom, in den kommenden drei Monaten dürfe er seine tolle Kamera nicht benutzen, weil ein hochwertigeres Werkzeug nicht unbedingt bessere Kunst hervorbringen würde. „Du musst lernen, die Unvollkommenheit zu lieben", wies er ihn an.

    Über den Winter des Jahres 2005 schoss Systrom hier und da in Cafés Fotos und versuchte, die Schönheit verschwommener, unscharfer Bilder schätzen zu lernen. Die Idee – ein quadratisches Foto, das durch Nachbearbeitung zum Kunstwerk wird – setzte sich in Systroms Hinterkopf fest. Noch wichtiger war die Lektion, dass etwas technisch Komplexeres nicht unbedingt besser ist.

    Derweil machte er Pläne für den bevorstehenden Sommer. Im Rahmen des Stanford Mayfield Fellows Program, zu dem er nur knapp zugelassen worden war, brauchte er ein Praktikum bei einem Start-up.⁶ Wie alle Studenten in Stanford saß er bei der Wiederauferstehung des Internets in der ersten Reihe. Bei der ersten Generation des Internets ging es darum, Informationen und Unternehmen online zu bringen, und dies entfachte Ende der 1990er-Jahre einen goldrauschartigen Spekulationsboom, der 2001 zusammenbrach. Bei der neuen Generation, die Investoren durch den Jargonbegriff „Web 2.0" von den Fehlschlägen unterschieden, ging es darum, Websites durch Verwendung nutzergenerierter Informationen – zum Beispiel Restaurantkritiken und Blogs – interaktiver und interessanter zu gestalten.

    Die meisten angesagten neuen Technologiefirmen befanden sich im vorstädtischen Palo Alto, wo sich Unternehmen wie Zazzle und Film-Loop in der Innenstadt niederließen. Um Mitarbeiter zu bekommen, wollten sie so nahe an Stanford sein wie möglich und eroberten darum leer stehende Immobilien zurück.⁷ Dort wollten Systroms Kommilitonen hin. Aber Palo Alto im Sommer war langweilig.

    In der New York Times las Systrom von einem Trend im Bereich Online-Audio. In dem Artikel wurde ein Unternehmen namens Odeo erwähnt, das im Internet einen Marktplatz für Podcasts einrichtete. Er beschloss, dass er sein Praktikum dort machen wollte. Ins Blaue hinein schrieb er eine E-Mail an den CEO Evan Williams, der seit einigen Jahren bei dem Start-up arbeitete, das seinen Sitz 45 Autominuten nördlich in San Francisco hatte. Williams war in der Tech-Szene bereits durch den Verkauf der Blog-Website Blogger an Google berühmt geworden. Systrom bekam das Praktikum. Jeden Tag fuhr er mit dem Zug in die Stadt, die mit ihren guten Whiskeykneipen und ihrer Livemusik-Szene aufregender war.

    Jack Dorsey, der von Odeo gerade erst als Techniker eingestellt worden war, ging davon aus, dass er den 22-jährigen Praktikanten nicht mögen würde, mit dem er den ganzen Sommer würde verbringen müssen. Er stellte sich einen exklusiven Entrepreneurship-Studiengang und ein Elite-Internat an der Ostküste als sterile, uninspirierte Orte vor und dachte, einer davon geprägten Person werde es vermutlich an Kreativität fehlen.

    Der 29-jährige Dorsey hatte sein Studium an der New York University abgebrochen, trug ein anarchistisches Tattoo und einen Nasenring und betrachtete sich eher als Künstler. Beispielsweise träumte er gelegentlich davon, Damenschneider zu

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