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Mustermanns Woche
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eBook494 Seiten7 Stunden

Mustermanns Woche

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Über dieses E-Book

Unscheinbar. eigenbrötlerisch, irgendwie verschroben. So kann man den Protagonisten dieses Romans beschreiben. Martin Mustermann führt trotz mancher Widrigkeiten ein halbwegs geordnetes Leben. Bis eine einzige Woche sein Leben komplett auf den Kopf stellt. Aber sehen Sie selbst und begleiten Sie Martin Mustermann durch die turbulentesten Tage seines Lebens und eine Reise in seine doch nicht so ganz unscheinbare Vergangenheit...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum29. Mai 2020
ISBN9783751945868
Mustermanns Woche
Autor

Maximilian Strohmayer

Der Autor hat sich mit diesem Werk den lang gehegten Traum eines eigenen Romans erfüllt. Ansonsten ist über ihn nicht allzu viel bekannt. Im Übrigen bestehen zwischen dem Leben des Autors und dem Leben seiner Hauptfigur so gut wie keine Parallelen. Es handelt sich um eine reine Ausgeburt der Phantasie. Rückschlüsse lassen sich daher auch aus diesem Roman nicht ziehen. Es ist und bleibt ein Rätsel...

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    Buchvorschau

    Mustermanns Woche - Maximilian Strohmayer

    Leben.

    1. KAPITEL

    Es regnet in Strömen. Schnellen Schrittes husche ich über die Maximilianstraße. Ein Taxi wird gezwungen, scharf abzubremsen. Der Fahrer flucht und zeigt mir seinen Mittelfinger in voller Pracht. Ich grinse nur unverschämt und setze meinen Weg fort. Zu dumm aber auch, der Regenschirm liegt daheim in der Diele auf dem Boden. Aber jetzt ist es ja so gut wie geschafft; nur noch ein Sprung über zwei Wasserpfützen, schon ziehe ich behände den Schlüssel aus meiner Jackentasche. Einen Augenblick später öffnet sich die Tür des alten Mietshauses und ich trete hinein. Erst einmal tief durchatmen, schließlich liegt ein gut zwanzigminütiger Spaziergang im Eiltempo hinter mir – und dies bei einer Wetterlage, die einem unweigerlich den Gedanken an das biblische Bild der Sintflut hervorruft. Meine Nüstern blähen sich auf und senken sich wieder. Ein schwer zu beschreibender Geruch liegt in der Luft, eine Mischung aus altem Fisch und Motoröl, verbunden mit den Duftschwaden, die so mancher Küche in den Wohnungen der oberen Etagen entspringen. Auf dem Boden liegt ein altes Damenrad mit zerschlissenen Reifen, daneben ein Kinderwagen oder besser gesagt was davon übrig ist, denn man hat ihn weitgehend ausgeschlachtet. Dann fällt mein Blick auf den Lageplan, der neben der Eingangstür hängt. Offensichtlich war dem Vermieter irgendwann einmal sehr langweilig, ansonsten kann ich es mir beim besten Willen nicht erklären, warum die Namen der einzelnen Mietparteien fein säuberlich mit Kugelschreiber in formschönen Druckbuchstaben neben den jeweils einschlägigen Wohnungen auf dem Plan eingetragen sind. Stirnrunzelnd betrachte ich eine gewisse Zeit das schon etwas vergilbte, sich neben dem Haupteingang befindende Stück Papier. Ich werde stutzig und wundere mich darüber, dass es mir noch nie aufgefallen ist in den mittlerweile gut drei Jahren, in denen ich zu den Mietern dieses oben mit einem Flachdach abschließenden Komplexes aus den frühen Dreißigern des letzten Jahrhunderts, Bauhausstil, zähle. Genauer gesagt sind es eigentlich nur zwei Jahre und elf Monate. Ungefähr jedenfalls, das genaue Einzugsdatum liegt momentan wohl nicht parat in den Windungen meines Gehirns. Welcher Tag ist heute eigentlich? Ich sehe auf meine Digitaluhr, die ich zum fünfzehnten oder sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen habe. Ein billiges Produkt, nicht einmal ein Markenname ist darauf zu sehen. Zwölfter Oktober laut Datumsanzeige. Irgendwann, Mitte November vor fast drei Jahren, damals bin ich eingezogen. Es war ein Tag wie heute, die Regentropfen prasselten auf die Straßen, es blitzte und donnerte ununterbrochen. Ich ließ mir von meinem Vater helfen, der – obwohl in die Jahre gekommen – dafür durchaus noch die körperliche Verfassung hatte. Wir hatten uns schon einige Zeit nicht mehr gesehen. Genauer gesagt, richtig gesehen wie einen Vater habe ich ihn schon seit vielen Jahren nicht mehr. Ein langer Zeitraum, möchte man sagen, in Anbetracht der Tatsache, dass ich mich mit neunundzwanzig Jahren und gut vier Monaten schon bald zur Generation dreißig plus zählen darf, einer allzu bunten Ansammlung von Menschen, die jedoch eines gemeinsam haben: Ihre Jugend, ihre Blütezeit, ihre Unbeschwertheit – all das geht vorüber, andere Werte treten in den Vordergrund. Werte, die weder für immerwährende Blüte noch für ein unbeschwertes, fröhliches Leben stehen. Wie bereits erwähnt ein langer Zeitraum; doch dieser Begriff kann dem nicht gerecht werden, was beim Gedanken daran in mir vorgeht. Doch was genau steuert meine Emotionen? Um diese Frage zu beantworten, muss ich zurückgehen, in eine Zeit, die weit hinter mir liegt. Eine Zeit, die einen tiefen Einschnitt im Leben eines jeden Menschen bedeutet: Die Zeit, als ich eingeschult wurde.

    Gerade einmal sechs Jahre alt, schien das beschauliche Leben, welches ich führen durfte – es war zweifelsohne ein Privileg für mich, was ich damals jedoch nicht ausreichend zu schätzen wusste – mit einem Schlag zu enden. Wie gestern weiß ich es noch, als ich zum ersten Mal an der Bushaltestelle stand, begleitet von meiner Mutter, die – um meine Aufregung wissend, wie das Mütter nun mal so an sich haben – beruhigend meine Hand hielt und jeden meiner fragenden Blicke mit einem Lächeln beantwortete. Ich kann mich noch ganz genau an jenen Moment erinnern, als dieses Monstrum sich am Horizont zeigte, zuerst kaum sichtbar, dann sich mit zäher Langsamkeit anschleichend auf uns zuschob und schließlich in voller Größe vor uns stand. Ich hatte Angst. Meine Mutter hielt meine rechte Hand und zog mich hinter sich her in das Gefährt hinein. Mit großen furchtgeweiteten Augen bestaunte ich alles, was hier vor sich ging: Den Busfahrer und meine Mutter, die bei ihm den Fahrpreis zahlte, die Fahrgäste, die Frau mit Kinderwagen, die in der Mitte des Busses stand, sich am Geländer an der Seite festhielt und ihrem kleinen Säugling ein leises Wiegenlied entgegenhauchte. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn auch nur einmal schreien gehört zu haben. Meine Mutter und ich setzten uns auf einen Platz in der Mitte des Busses. Es war tatsächlich das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein öffentliches Verkehrsmittel betreten hatte. Mit sechs Jahren! Sechs Jahre auf dieser Welt gewesen, doch niemals einen Bus, einen Zug oder eine Straßenbahn betreten. Wann immer ich in die nahegelegene Kreisstadt musste – Sankt Blasius ist ihr Name, ein Luftkurort auf den Anhöhen der weitläufigen Mittelgebirgslandschaft, welche sich wie ein Bandwurm durch die süddeutschen Lande zieht – so wurde ich mit dem Auto chauffiert. Die Dörfer zogen derweil vorbei, ereignislos, die Welt lag im Morgentau ganz friedlich da. Nach einer guten Viertelstunde war meine erste Busfahrt beendet. Die Bushaltestelle, an der wir ausstiegen, lag direkt vor meiner Schule, der Grundschule am Schlosspark. Es war ein altes, fast schon gebieterisch und weise anmutendes Gebäude, hinter dem schräg nach oben das altehrwürdige Schloss von Sankt Blasius aufragte, welches zumindest regionale Bekanntheit als Ausflugsziel für Jung und Alt hatte und diese auch heute noch mehr denn je besitzt. Wie dem auch sei, plötzlich stand ich inmitten eines fremden Raumes, welcher sich als mein Klassenzimmer herausstellen sollte und meine rechte Hand krallte sich in der Linken meiner Mutter fest, welche mir ein beruhigendes Lächeln zuwarf. Es waren viele Kinder dort, nur wenige allein, die meisten in Begleitung ihrer Mütter, Väter, Großeltern oder anderer Bezugspersonen. Keines von ihnen hatte ich je gesehen. Ich wusste, dass einige Kinder aus meinem Kindergarten in dieselbe Schule kamen, jedoch waren sie offenbar anderen Klassen zugeteilt worden. So war ich ein Unbekannter für jene, die wiederum für mich Unbekannte waren. Man hatte schon erste Kontakte geknüpft, zumeist weil sich die Eltern untereinander kannten und demzufolge deren Kinder gewissermaßen genötigt wurden, miteinander Kontakt aufzunehmen; auch schienen sich viele meiner zukünftigen Klassenkameraden schon zu kennen und gingen entsprechend freundschaftlich oder auch nicht – je nach Sympathie füreinander – miteinander um. Es schien mir, als hätten meine Mutter und ich schon die ersten neugierigen Blicke auf uns gezogen. Meine Mutter nahm mich an die Hand und setzte sich auf einen freien Stuhl neben eine relativ kleine, rundliche Frau mit dunkelblonden, schon leicht ins Rötliche gehenden Haaren, welche ein blondes Mädchen auf dem Schoß sitzen hatte. Ich setzte mich auf den freien Stuhl neben meine Mutter.

    »Ach, Frau Mustermann«, rief die Dicke, »lange nicht mehr gesehen! Wie geht es Ihnen denn?«

    »Danke, danke, ich kann nicht klagen, Frau Hohenmuth. Man lebt so vor sich dahin. Das ist ja die kleine Bianca! Mensch, als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du noch Windeln getragen«, lachte meine Mutter. »Na, freust du dich denn schon auf die Schule?«, fragte sie das blonde Mädchen, das offenbar Bianca hieß.

    Diese zuckte nur schüchtern mit den Schultern, sah erst meine Mutter und dann mich an und lachte dann laut auf.

    »Bianca ist etwas schüchtern im Umgang mit Menschen, die sie nicht kennt«, ließ Frau Hohenmuth verlauten. Sie war, wie ich später erfuhr, die Witwe des Unternehmers Rolf-Günther Hohenmuth, welcher schon kurz nach der Geburt seiner einzigen Tochter Bianca bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben kam, dahingerafft von einem betrunkenen Porschefahrer. Meine Mutter unterhielt sich mit der offensichtlich wohlsituierten Dame noch einige Minuten über dies und das, ausnahmslos jedoch belangloses Zeug. Dann verabschiedete Frau Hohenmuth sich höflich mit dem Hinweis, sie müsse jetzt los, sie sei schon spät dran. Ich weiß nicht genau warum, aber auf irgendeine Weise wünschte ich mir plötzlich, dass meine Mutter auch aufbrechen musste. Wahrscheinlich wollte ich es, weil ich mich vor dem blonden Mädchen genierte. Unter keinen Umständen durfte sie in mir das Muttersöhnchen, welches ich nun einmal war, sehen. Mir war bewusst, dass ich noch nie in meinem Leben einen derartigen Gedankengang gehabt hatte; jedoch waren die anderen Kinder, die ich im Kindergarten kennen gelernt hatte, mir ziemlich egal. Bei der blonden Bianca schien es sich aber anders zu verhalten, obwohl sie sich erst vor wenigen Minuten in meine kleine Welt begeben und mich wahrscheinlich noch nicht einmal wahrgenommen hatte. Ein wenig Mut brauchte es schon, um folgende Worte herauszupressen: »Mama? Ich möchte jetzt allein sein. Ich komm jetzt auch gut ohne dich zurecht.« Meine Mutter sah mich überrascht an. Sie sagte nichts, sondern musterte mich lediglich scharf; nachdenklich blickte sie mich an. Langsam öffnete sie ihren Mund und erwiderte: »Bist du sicher? Ich bleibe gern noch, wenn du willst. Schau, viele andere Mamas sind auch noch da!«

    »Ja, ich bin mir sicher, Mama, ich komm so auch zurecht! Die Lehrerin ist auch schon da.«

    »Gut, wenn du meinst! Also mach′s gut, ich hol dich um zwölf Uhr wieder ab!« Sie lächelte mich an, drückte mich an sich und platzierte einen dicken Schmatzer auf meiner rechten Wange. Dann ließ sie mich alleine, so wie ich es gewünscht hatte. Meine Mutter unterhielt sich noch kurz mit der Lehrerin, die sie offenbar auch kannte, dann ging sie zur Tür hinaus. Nun saß ich also hier, unter lauter Fremden, aber ich wollte es ja nicht anders. Ich warf der rechts neben mir sitzenden Bianca einen schüchternen Blick zu, welchen diese aber nicht zu bemerken schien. Auch die anderen Kinder ließen mich links liegen – wen hätte es verwundert bei meiner schmächtigen Statur. Ich war ein bis zwei Köpfe kleiner als die meisten meiner Klassenkameraden, hatte dunkelblonde Haare, welche zu einem Stiftenkopf geschnitten waren – übrigens von meiner Mutter, welche die Kunst wunderbar beherrschte, eine Ansammlung von Haaren in eine ansehnliche Frisur zu verwandeln – und war ziemlich dünn, obwohl die Küche meiner Mutter wirklich gut war und ich seit jeher die Angewohnheit hatte, immer alles, was auf den Teller kommt, aufzuessen. So saß ich ein paar Minuten auf meinem Stuhl und bewegte mich so wenig wie möglich, ab und an Bianca verstohlene Blicke zuwerfend. Irgendetwas mochte ich an ihr, auch wenn ich noch nicht genau sagen konnte, was es war. Auch sie saß auf ihrem Platz. Munter mit ihren Beinen baumelnd und offenbar ein Hustenbonbon zwischen Oberkiefer und Unterkiefer hin und her schiebend, beobachtete sie das Geschehen. Sie war etwas größer als ich, aber nicht wesentlich. Blaue Augen hatte sie und ein grünes Kleidchen. Es erinnerte mich an meine grüne Wiese daheim, so geriet ich ins Träumen. Auf einmal wurde ich von einer freundlichen Frauenstimme geweckt.

    »Nicht schlafen, ich möchte von dir wissen, wie dein Name ist«, lachte die Stimme. Sie gehörte meiner ersten Klassenlehrerin, Frau Langenberg, wie ich ihrem Namensschild, welches von Sicherheitsnadeln an ihrer Bluse gehalten wurde, entnehmen konnte. Ich schaute mich um. Die anderen Kinder feixten, schienen sich über mich lustig zu machen, was mich erröten ließ.

    »Na, wie heißt du denn? Die anderen Kinder möchten es auch gerne wissen«, bohrte die Lehrerin noch einmal nach. Sie war eine eher unscheinbare Frau, circa einen Meter fünfundsechzig groß, brünett-dunkles Haar, mit einem gutmütigen Lächeln und Lachfalten um die Mundwinkel; ich schätzte ihr Alter auf irgendetwas zwischen dreißig und vierzig.

    »Ähm…Äh«, begann ich zu stottern – ich war es nicht gewohnt, vor fremden Menschen, noch dazu vor so vielen, zu sprechen und war entsprechend aufgeregt – »Mustermann heiße ich. Martin Mustermann.« Ich schluckte und hörte einige Kinder lachen. Ich linste zu Bianca hinüber und sah, dass sie nicht lachte, sondern den Kopf zu mir gedreht hatte und mich ansah.

    Meine Gesichtsfarbe verwandelte sich von Rot zu Dunkelrot, ich richtete den Blick auf die Lehrerin.

    »Warum wird der denn so rot?«, hörte ich ein Mädchen kichern.

    »Martin, wo kommst du denn her? Ich weiß es ja, weil ich deine Mama kenne, aber deine Klassenkameraden interessiert es auch.«

    »Mich nicht!«, plärrte ein pausbäckiger Junge dazwischen und lachte recht bäuerlich.

    »Aus Holzweis. Aber nicht direkt. Wir haben ein großes Haus, das ist aber weiter weg von den anderen Häusern, direkt an einer großen Wiese.«

    »Das klingt ja toll! Freust du dich denn auf die Schule?«, wollte Frau Langenberg wissen.

    »Ja, schon«, log ich, dabei war ich gar nicht begeistert bei dem Gedanken, von nun an jeden Morgen dieses Gebäude mit all den fremden Menschen besuchen zu müssen, anstatt mich auf eine gewisse Lieblingswiese zu begeben und dort meine Zeit zu verbringen. Wehmütig begannen sich meine Gedanken um diese Tatsache zu drehen, da war Frau Langenberg bereits bei Bianca und unterhielt sich mit ihr. Sie machte das mit allen Kindern, ich hatte es am Anfang in meiner Träumerei nur nicht bemerkt. Die Fragen, die sie dem Mädchen zu meiner Rechten stellte, bekam ich nicht mit, genauso wenig die Antworten, die sie bekam. Geradezu benebelt war ich, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, der restliche Schultag schien wie im Flug vorbeizuziehen. Am Ende des Tages schließlich bekamen wir unsere Sitzplätze zugeteilt. Ganz richtig, sie wurden uns von Frau Langenberg zugeteilt, wahrscheinlich um eine Grüppchenbildung derjenigen Kinder zu vermeiden, die sich bereits kannten und um jeden einzelnen möglichst gut zu integrieren. Zu meiner Rechten saß ein Junge, sein Name war Mahmud. Er war Türke und Moslem, auch wenn mir diese beiden Begriffe damals herzlich wenig zu sagen wussten. Mahmud war mehr als zwei Köpfe größer als ich, was wie gesagt kein großes Kunststück war, etwas pummelig, mit pechschwarzen Haaren und in heruntergekommener Kleidung, eine verwaschene, etwas zerrissene Jeans und ein blassrosafarbenes Sweatshirt, welches früher wohl einmal rot gewesen war. Mit ihm wechselte ich einige Worte, er schien nett zu sein, etwas schüchtern, jedoch nicht so schüchtern wie ich. Er wirkte immer leicht desinteressiert, aber das konnte auch täuschen. Links neben mir, und das hatte für mich eine weitaus größere Bedeutung, wurde ein blondes Mädchen im grünen Kleid platziert. Es war Bianca. Ich sprach kein einziges Wort mit ihr an unserem ersten Schultag. Sie sah ein paar Mal zu mir herüber und wollte wohl ein Gespräch beginnen, jedoch wurde ich dann jedes Mal puterrot im Gesicht und wenn ich merkte, dass ich rot wurde, errötete ich noch mehr. Um halb zwölf war mein erster Schultag zu Ende und ich war verwirrt wie ich es noch nie war in meinen bisherigen sechs Lebensjahren. Gedanken, die ich bis dato nicht gekannt hatte, durchwanderten meinen Kopf, Fragen über Fragen zermarterten mein Gehirn. Ich packte meinen Schulranzen und meine mit Süßigkeiten gefüllte Schultüte langsam zusammen und verließ den Raum als Vorletzter, nur Frau Langenberg, der ich artig einen schönen Tag wünschte, saß noch an ihrem Pult. Nachdenklich schlenderte ich den Gang hinab, hinaus in den Pausenhof. Meine Mutter stand am Tor der Grundschule am Schlosspark, in der Hand hielt sie eine Tüte mit gebrannten Mandeln. Sie gab mir lächelnd die Tüte in die Hand, ich nahm sie dankend an und genoss die Leckereien. Wir redeten das Übliche, wie mein erster Schultag denn so gewesen sei, ob es mir gefalle, ob die Lehrerin nett sei. Bereitwillig antwortete ich, aber es war ein Leichtes, zu erkennen, dass ich meine Mama nur nebenbei wahrnahm und nur die Antworten gab, die ein Sohn eben gibt, um seine Mutter zufriedenzustellen. Daheim angekommen kochte meine Mutter mein Lieblingsessen, nämlich Spaghetti Bolognese. Sie hätte wohl gerne etwas Anspruchsvolleres gekocht, doch wollte sie mir damit eine Freude machen; ich tat so, als freue ich mich unbändig. Eine Weile saßen wir schweigend am Esstisch und ich versuchte die Erlebnisse des heutigen Tages in klare Gedankenströme zu packen, doch es fiel mir schwer. Schließlich stand ich auf und ging hinaus, hinaus aus dem Esszimmer, hinaus aus unserem Haus, hinaus auf meine Wiese. Vormittags hatte es leicht geregnet. Die Wiese roch herrlich, so schön frisch, und ich fühlte mich, als wäre ich soeben neugeboren worden. Ich setzte mich auf das angenehm nasse, saftig grüne Gras und atmete tief ein. Wieder zu Hause! Ein wunderbarer Moment – ich hoffte, er würde nie vorübergehen. Bis zum Abend muss ich wohl auf der Wiese gesessen haben, die Sonne war schon untergegangen, der Himmel schwarz angemalt, der Wind blies sanft über die Gräser und Sträucher hinweg, es war ein ziemlich lauer Septemberabend. Da hörte ich meine Mutter vom Haus aus meinen Namen rufen: »Martin, Essen! Papa ist da!«

    Mein Vater. Ich sah ihn nicht oft; im Gegensatz zu meiner Mutter, welche mir quasi rund um die Uhr – es mag zugegebenermaßen zynisch klingen – zur Verfügung stand, sah ich ihn allenfalls, nachdem er ermüdet und abgekämpft von seiner Arbeit kam. Er hatte einen wirklich anstrengenden und fordernden Beruf, Herzchirurg – noch dazu als Oberarzt – im Städtischen Krankenhaus von Steinburg, der einzigen größeren Stadt in der näheren Umgebung, ungefähr dreißig Kilometer entfernt von Sankt Blasius, für mich damals eine unglaubliche Entfernung. Meine Mutter respektierte diese Tatsache und versuchte nach Möglichkeit, meinem Vater das Leben daheim möglichst angenehm zu machen. Meine Eltern schienen aus meiner Sicht eine harmonische Ehe zu führen. Zwar gab es wie in jeder menschlichen Beziehung hin und wieder Streitigkeiten, jedoch arteten diese nie aus in Beschimpfungen oder handfesten Ehekrach. Nach außen hin müssen wir wie eine Familie aus dem Bilderbuch gewirkt haben, dies war auch die Absicht meiner Eltern, jedoch weniger die meiner Mutter als vielmehr das Ansinnen meines Vaters. Ich konnte mich, als ich in Richtung unseres Hauses trottete, im Übrigen an keine einzelne grobe Auseinandersetzung innerhalb unserer Familie erinnern; warum mir dieser Gedanke gerade in den Sinn kam, wusste ich nicht. Zu meinem Vater konnte ich allerdings niemals wirklich eine richtige Beziehung aufbauen, wie sie zwischen Vater und Sohn nun mal üblich ist oder zumindest üblich sein sollte. Sicherlich, er war ein hart arbeitender Arzt in einer großen Klinik, der oft auch am Wochenende seinem Beruf nachging. Am Sonntag allerdings gab es eine Sache, die ihm heilig war, und dies im wahrsten Sinne des Wortes: Der wöchentliche Kirchbesuch in Sankt Blasius war eine Konstante in unserem Familienleben. Jeden Sonntagvormittag, an welchem mein Vater nicht arbeitete, machten wir uns mit seinem schon etwas in die Jahre gekommenen Mercedes-Benz W 123 auf die Reise in die Kirche des Heiligen Blasius. Sie war die größte, älteste und schönste Kirche dieser knapp 20.000 Einwohner beherbergenden Kleinstadt. Dieses Ritual wurde seit meiner Taufe praktiziert und es passierte zu dieser Zeit höchst selten, dass einer von uns den sonntäglichen Kirchgang auch nur einmal nicht antrat. Diese Kirchensonntage mochte ich immer gerne. Zum einen, weil ich die Möglichkeit hatte, etwas Zeit mit meinem Vater zu verbringen, was mir ansonsten zumeist nur abends möglich war, wenn er erschöpft von der Arbeit nach Hause kam und zu nicht viel mehr zu gebrauchen war, als im Wohnzimmer im Sessel sitzend die Zeitung zu studieren. Zum anderen mochte ich aber auch die Gottesdienste an sich gerne. Ich mochte es, dem Priester bei der Predigt zuzuhören, ich genoss es, mit den anderen Gottesdienstbesuchern zu beten, ich liebte es, mit den anderen für mich fremden Menschen gemeinsam Kirchenlieder aus dem Gotteslob zu intonieren. Heute noch habe ich einen besonderen Bezug zu Kirchen. Jedes Mal wenn ich an einer vorbeikomme, in der ich noch nicht gewesen bin, drängt es mich hinein, sei es zur stillen Andacht, sei es zur Bewunderung der artifiziellen Ornamente, sei es, um den Wohlklängen der Orgel – der Königin der Musikinstrumente – zu lauschen. Nachdem wir von der Kirche wieder zu Hause waren, ging es weiter mit den sonntäglichen Eigenheiten. Der Sonntag war oftmals der einzige Tag in der Woche, an dem ich gemeinsam mit meinen Eltern zu Mittag essen konnte. Ansonsten aß ich immer mit meiner Mutter, mein Vater aß – wenn überhaupt – abends zu Hause. Ich genoss dieses Sonntagsmahl wirklich sehr, der Sonntag war mein Lieblingstag allein aus dem Grund, dass sich mein Vater um meine Mutter und mich kümmern konnte. An diesen Tagen habe ich oft mit meinen Eltern dagesessen und Karten gespielt, wenn ich nicht gerade das Verlangen verspürte, mich auf der Wiese hinter unserem Haus aufzuhalten. Aber, wie gesagt, ansonsten bekam ich meinen Vater nicht oft zu Gesicht, Bezugsperson war für mich eindeutig meine Mutter. Wie dem auch sei, ich war dabei, über die Wiese in Richtung unseres Anwesens zu gehen. Ich verließ die Wiese und trat durch das Gartentor ein, nach einigen Schritten war ich an der Haustür angelangt, an welcher meine Mutter stand.

    »Beeil dich, Martin, das Essen steht schon auf dem Tisch!«

    »Ja Mama, ich muss nur noch schnell die Hände waschen.«

    Meine Mutter begutachtete mich und sagte zu mir, ich solle mir vor dem Essen noch etwas anderes anziehen. Ich betrachtete meine Kleidung und musste ihr Recht geben: Durch das Sitzen auf dem nassen Gras hatten sowohl meine Hose als auch mein Pullover interessant aussehende grüne Farbtupfer erhalten. Während ich nach oben ins Bad rannte, um mich umzuziehen, vernahm ich das Seufzen meiner Mutter, welche offenbar leicht verärgert über mich die Haustüre schloss und das Esszimmer betrat. Schnell hatte ich mir frische Sachen angezogen, ging die Treppe hinab und öffnete die Tür zum Esszimmer. Meine Mutter und mein Vater saßen am Tisch und lächelten mich beide an.

    »Und Martin? Erzähl doch mal! Wie war dein erster Tag in der Schule?«, wollte mein Vater wissen.

    Bereitwillig erzählte ich noch einmal dasselbe, was ich bereits am Mittag nach der Schule zu meiner Mutter gesagt hatte. Mein Vater schien nicht besonders zufrieden damit zu sein. Er wollte von mir wissen, wie ich mich denn mit den anderen Kindern verstehen würde, ob sie nett seien, ob ich schon Freunde gefunden hatte. Wahrheitsgemäß antwortete ich, dass ich nur mit meinem Banknachbarn Mahmud ein paar Worte gewechselt hatte, ansonsten aber noch niemanden von meinen Klassenkameraden kannte. Mein Vater schaute mich erst nachdenklich an, dann musterte er mich mit finsterem Blick und sah meine Mutter schließlich fragend an. Sie schwieg. Mein Vater setzte mit gewichtiger Miene zu einer Rede an, mich fest ansehend.

    »Weißt du Martin, du musst schon auf die anderen Kinder zugehen. Du willst doch Freunde haben, oder? Du kannst aber keine Freunde haben, wenn du nicht mit den anderen Kindern redest. Du kannst nicht ewig auf deiner Wiese hocken und nichts machen. Jeder Mensch braucht Freunde. Jeder Mensch braucht Freunde! Auch du, Martin!«

    Ich musste schlucken. Stumm stand ich vor dem gedeckten Esstisch und rang mit den Worten. Doch ich kam nicht dazu, etwas zu sagen; meine Mutter, die bisher die Worte meines Vaters nur mit Kopfnicken begleitet hatte, meldete sich nun auch zu Wort.

    »Papa hat Recht, Martin. Wir machen uns Sorgen um dich. Du hast noch nie einen Freund mit nach Hause gebracht, als du im Kindergarten warst. Die Kindergärtnerinnen haben erzählt, dass du immer nur allein spielst. Dass du den anderen Kindern aus dem Weg gehst. Wenn du etwas mit denen zu tun hattest, dann nur, wenn sie dich geärgert und ausgelacht haben. Wir haben gehofft, dass es anders wird, wenn du in die Schule kommst!«

    Ich stand da und war nicht imstande, auch nur irgendeinen Laut herauszupressen. Stattdessen lief ich feuerrot an.

    »Martin, du musst einfach auf die anderen Kinder zugehen. Mit ihnen reden. Spiel doch in der Pause mit ihnen«, schlug meine Mutter vor, begleitet von energischem Kopfnicken meines Vaters.

    Ich war immer noch nicht in der Lage, etwas darauf zu entgegnen.

    »Denk mal drüber nach«, warf mein Vater scharf in die Stille ein, »wir wollen ja nur dein Bestes.« Das stimmte natürlich. Jeder Mensch braucht Freunde, jeder sollte Personen haben, mit denen er sowohl lachen als auch weinen kann, denen er alles anvertrauen darf ohne schlechtes Gewissen. Davon bin ich heute überzeugt. Damals jedoch, im Alter von sechs Jahren, hatten andere Menschen als meine Eltern einfach noch keine Bedeutung für mich. Obwohl ich ja an meinem ersten Schultag so einiges erlebt hatte, was völlig neu war für mich. So etwas muss man als kleiner Knirps natürlich erst einmal verarbeiten. So stand ich da, um Worte ringend, doch das Einzige, was man von mir hören konnte, war ein leises, fast gehauchtes »Ja, Mama und Papa.«

    Meine Eltern schienen sich nun in Beteuerungen zu überbieten wollen, wie gut sie es mit mir doch meinten und dass ich ja so ein guter Junge sei, aber leider schüchtern und offenbar nicht in der Lage, zwischenmenschliche Kontakte zu knüpfen, woran ich aber arbeiten könne. Immer noch stand ich vor dem gedeckten Tisch und hatte mich nicht bewegt, war nicht in der Lage, mich zu rühren und an den Esstisch zu setzen. Erst nach der ausdrücklichen Aufforderung meiner Mutter kam ich dieser nach und begann, mich fast schon zeitlupenartig auf den freien Stuhl zu bequemen. Mein Kopf war noch immer so rot wie der kostbare Teppich, der dem Esstisch gegenüber an der Wand hing und von dem ich bis heute noch nicht die genaue Bezeichnung kenne. Mein Vater, der mir gegenübersaß, hob seinen Arm, langte über den Tisch hinüber und klopfte mir auf die Schulter, halb aus Mitleid, halb aus einer Stimmung heraus, welche sagen wollte: Du schaffst das schon. Im ersten Moment, als er seinen Arm hob, dachte ich, er würde mir eine Ohrfeige verpassen wollen. Dieser Gedanke war natürlich absurd, mein Vater hatte noch nie die Hand gegen mich erhoben, er verabscheute Gewalt aufs Äußerste, war ein Pazifist im besten Sinne, auch wenn er selber zwei Jahre lang nach seinem Abitur als Reserveoffiziersanwärter seinem Land diente und als Leutnant der Reserve der Gebirgsjägertruppe aus dem aktiven Dienst ausschied. Mit seiner Kraft, die man ihm sofort ansah, wenn man ihn betrachtete mit seinen breiten Schultern, wäre es ihm ein Leichtes gewesen mir derart eine zu kleben, dass mir Hören und Sehen vergehen würden. So aber klopfte er mir nur auf die linke Schulter und obwohl ich nichts anderes erwarten konnte, machte sich doch eine ungeheure Erleichterung in mir breit. Ich sah meinen Vater an und sagte ihm, dass er Recht habe und dass ich mich fortan bemühen würde, auf die anderen Kinder zuzugehen und ihnen meine Freundschaft anzubieten. Aufs Erste zufrieden lehnte mein Vater sich zurück, während meine Mutter mich anlächelte und beteuerte, wie sehr sie dieser Satz aus meinem Munde freute. So nahm ich dann einen ersten Bissen vom Leberkäse mit Spiegelei, welcher auf meinem Teller schon kalt zu werden drohte; selten hat mir eine Mahlzeit, noch dazu eine relativ einfach zubereitete, so gut geschmeckt. Das nächste, an das ich mich heute erinnern kann, ist das Klingeln des Weckers, eine monotone Abfolge von schrillen Tönen, die mich unsanft aus den süßesten Träumen rissen. Im selben Moment riss meine Mutter die Tür zu meinem Zimmer auf. Das Licht vom Flur schien herein und nahm mir jede Illusion, weiter friedlich schlafen zu können. Ich tapste langsam ins Bad, es war mein Eigenes, denn es gab im Haus ein Bad für meine Eltern, das Größte im Haus, ein Kleineres für mich und schließlich noch eines für die Gäste. Gäste hatten wir allerdings nur selten, ab und zu kamen Verwandte vorbei, vorzugsweise zu Festivitäten wie Weihnachten oder Ostern, noch seltener Freundinnen meiner Mutter oder Arbeitskollegen meines Vaters. Ich dachte an die Unterhaltung gestern Abend mit meinen Eltern, zu der ich selbst nur recht wenig aktiv beitragen konnte. Während ich mir die Zähne putzte, überlegte ich mir, wie ich es schaffen könnte, mit den anderen Kindern in Kontakt zu treten. Auch wollte ich all meinen Mut zusammennehmen und Bianca ansprechen, was ja an sich nicht so schwer sein könne, schließlich war sie ja meine Banknachbarin. Nach dem Frühstück, welches durchaus belebende Wirkung hatte, brachte meine Mutter mich zur Haltestelle und wartete mit mir wie tags zuvor auf den Bus. An die Fahrt an sich hatte ich keine Erinnerung mehr, vielleicht habe ich sie verschlafen, denn plötzlich seh ich mich bereits durch die Eingangstüre ins Schulgebäude eintreten. Zunächst zielstrebig ging ich die Treppe hinauf und den Gang entlang in Richtung meines Klassenzimmers. Doch zusehends verlangsamte ich meinen Schritt und blieb vor der offenen Türe stehen. Vorsichtig lugte ich ums Eck herum ins Zimmer hinein und begutachtete, was darin vor sich ging. Es war bereits kurz vor acht Uhr, auch Frau Langenberg saß schon an ihrem Platz, doch die meisten Kinder tollten noch herum und dachten nicht daran, sich an ihren Tischen niederzulassen. Zu den wenigen Kindern, die schon auf ihren Plätzen saßen, gehörten Mahmud und Bianca. Ich fasste den Entschluss, das Treiben noch bis zum Ertönen der den Unterrichtsbeginn ankündigenden Klingel zu beobachten, da schien ich auch schon von einer Gruppe Jungen entdeckt worden zu sein, denn sie sahen in meine Richtung und feixten. So blieb mir nichts anderes übrig, als ins Klassenzimmer zu trotten und mich zu meinem Sitzplatz zu begeben. Unsicher setzte ich mich auf meinen Platz zwischen Mahmud und Bianca. Ich versuchte, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, was mir wohl nicht sehr gut gelang, denn kaum hatte ich mich hingesetzt, spürte ich alsbald die mir in den Kopf steigende Röte. Ich spürte, dass Bianca mich von der Seite musterte, was mich nur noch röter werden ließ. Im Gegensatz zu Mahmud, welcher mich freundlich begrüßte, sagte Bianca jedoch nichts zu mir, was mich insgeheim ärgerte. Geradezu erleichtert war ich, als die Schulglocke den Beginn der Stunde einläutete. In den beiden Pausen verkroch ich mich in eine stille Ecke des Schulhofes, die ziemlich abseits war, so dass ich für mich allein sein konnte ohne gestört zu werden. Auch meinen zweiten Schultag hatte ich mehr oder weniger unbeschadet überstanden – so dachte ich jedenfalls, als Frau Langenberg uns gegen Mittag entließ. Als letzter Schüler verließ ich den Raum, nur Frau Langenberg saß noch an ihrem Pult und ordnete irgendwelche Blätter; ich wünschte ihr einen schönen Tag und ging auf den Gang hinaus. Langsam trottete ich den Flur entlang, da hörte ich plötzlich Schritte hinter mir. Ich drehte mich herum. Es war Bianca, die hinter mir stand. Mit festem Blick sah sie mich an.

    »Sag mal«, fing sie zu reden an, » magst du mich denn nicht? Du schaust mich nie an und sagst auch nie etwas zu mir.«

    Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und ruderte hilflos mit den Armen, was Bianca zum Lachen brachte.

    »Warum wirst du denn immer so rot?«, wollte sie wissen.

    Nachdem ich ein paar Sekunden um Worte gerungen hatte, begann ich den Versuch mich zu rechtfertigen. Ich erklärte Bianca, dass es gar nichts mit ihr zu tun habe, sondern dass ich einfach nur schüchtern sei und war selbst überrascht aufgrund der Offenheit meines Bekenntnisses. Bianca schien mit meinen Erklärungsversuchen zufrieden zu sein.

    »Ich dachte schon, du magst mich nicht. Ich finde dich nämlich ganz nett«, grinste sie mich an. Wieder wusste ich nicht, was ich erwidern sollte. Eine ganze Weile haben wir uns dann unterhalten. Wir schlenderten ein wenig durch die Stadt und vergaßen ganz die Welt um uns herum. Und auch die Zeit vergaßen wir, denn als ich Bianca fragte, wie spät es sei, war es bereits so spät, dass ich meinen Bus verpasst hatte. Verärgert machte ich ihr Vorwürfe, sie habe mich aufgehalten, welche ich sogleich bereute. Gemeinsam gingen wir zur Haltestelle, an der ich auf den nächsten Bus nach Hause warten wollte. Mich überraschte es, dass Bianca nicht nach Hause ging, sondern bei mir blieb. Sie sagte mir, dass ihre Mutter sowieso erst später nach Hause komme und auch das Essen somit noch nicht gekocht sei. So blieb sie bei mir, bis der Bus heranbrauste. Wir hatten uns in Windeseile angefreundet – sie hatte mich sogar zu sich nach Hause eingeladen – und sie winkte mir noch nach, als der Bus bereits davongefahren war. Während der Busfahrt malte ich mir in schwärzesten Farben aus, wie meine Mutter sich um mich sorgte und dies mich nach meiner Ankunft durch Schimpftiraden spüren ließ. Als der Busfahrer meine Haltestelle anfuhr, sah ich sie schon stehen mit besorgtem Gesicht.

    »Wieso kommst du denn erst so spät?«, schrie sie mich an, kaum war ich ausgestiegen. »Was glaubst du, was ich mir für Sorgen gemacht habe! Ich war schon kurz davor, die Polizei anzurufen. Wenn du jetzt nicht gekommen wärst, hätte ich es gemacht!«

    Als ich ihr jedoch erklärte, warum ich zu spät gekommen war, schien jeglicher Ärger wie weggeflogen zu sein. Stattdessen beglückwünschte meine Mutter mich, dass ich die elterlichen Anweisungen in die Tat umgesetzt und nun erste Kontakte zu anderen Kindern geknüpft hatte. Sie kochte dann auch – nicht mehr vor Wut, sondern vor Freude – daheim angekommen, mein Lieblingsessen, Spaghetti Bolognese, wie bereits gestern. Es vergingen die Tage, der Herbst hielt Einzug ins Land, die Blätter fielen von den Bäumen und die Nächte wurden kälter. In der Schule hatte ich mich leidlich eingelebt; mit Bianca verstand ich mich ausgezeichnet, auch mit Mahmud, meinem Banknachbarn, vertrug ich mich gut, auch wenn wir – zumindest aus meiner Sicht – keine Freunde waren, sondern lediglich zwei Klassenkameraden, die zufällig nebeneinandersaßen. Zu den anderen Kindern aus meiner Klasse hatte ich keinen nennenswerten Kontakt, Bianca dagegen schien sich mit allen gut zu verstehen. In den Pausen spielte sie immer mit den anderen Kindern Fangen, Verstecken und was man sonst als Erstklässler so spielt. Manchmal spielte ich ihr zuliebe auch mit, auch wenn ich diese sinnlosen Freizeitbeschäftigungen im Grunde wie die Pest hasste. Und die Tage vergingen weiter, es wurde Winter, der Schnee fiel in Form weicher Flocken vom Himmel und meine geliebte Wiese war mit einem Mal nicht mehr grün, sondern weiß. Plötzlich stand Weihnachten vor der Tür, ganz klammheimlich hatte es sich von hinten angeschlichen und trat auf einmal aus dem Schatten einer fernen Zukunft hervor. Kommen hatte ich es nicht gesehen, nein, die Zeit schien wie im Fluge vergangen zu sein. Es war bereits der letzte Schultag vor Weihnachten, die Schulglocke läutete das Ende des Schultages und den Anfang der Weihnachtsferien ein. Zusammen mit Bianca verließ ich das Klassenzimmer. Als wir auf dem Gang waren, zog mich Bianca plötzlich auf die Seite, ganz ohne Vorwarnung, und drängte mich an ein Fenster.

    »Martin«, hauchte sie, »wart mal schnell! Ich möchte dir etwas geben!«

    Ich war noch ganz perplex von ihrem unerwarteten Vorgehen und deshalb lediglich in der Lage, große Augen zu machen. Mein Atem stockte mir, als ich sah, wie sie aus ihrem Schulrucksack ein kleines, mit Geschenkpapier eingewickeltes Etwas zog, von dem ich so gar nicht genau wusste, was es denn sein sollte. Lächelnd gab sie es mir in meine Hände, welche sogleich leicht zu zittern begonnen hatten. Noch immer brachte ich kein Wort heraus, so machte ich mich daran, das Geschenkpapier abzustreifen. Zum Vorschein kam eine kleine Kugel, in der es unaufhörlich schneien zu schien, eine kleine Schneekugel! Doch da war noch mehr, da war ein Bändchen, es war gehäkelt in bunten Farben, rot, blau, lila, grün; es war dasselbe, welches Bianca an ihrem rechten Handgelenk trug. Wortlos blickte sie mich an, ich starrte zurück, im Nachhinein weiß ich nicht mehr wie lange.

    Dann endlich brachte ich ein schüchternes »Dankeschön« heraus. »Das wär doch nicht nötig gewesen. So ein tolles Geschenk. Und ich hab jetzt gar nichts für dich.«

    »Ach, macht doch nichts«, erwiderte Bianca, »es ist ja nur ein kleines Geschenk und ich freu mich, wenn es dir gefällt.« Sie umarmte mich, dann band sie mir das Bändchen an mein rechtes Handgelenk. »Weißt du, du bist doch mein bester Freund! Und ich bin deine beste Freundin. Deshalb hab ich hier ein Freundschaftsband für dich. Es soll dich immer daran erinnern, auch wenn ich mal nicht da bin.«

    Ich war zu Tränen gerührt und versprach im Hinausgehen aus dem Schulgebäude, dass ich ihr auch etwas nachträglich schenken würde. Sie meinte ihrerseits zu mir, wir könnten uns in den Ferien ja einmal treffen, ihre Nummer hätte ich ja. So lagen wir uns in den Armen, sicherlich ein sehr putziges Bild für vorbeigehende Passanten, bis schließlich mein Bus kam, der mich in meine ersten Weihnachtsferien hineinfahren sollte. Lange noch sah ich Bianca hinterher und winkte, erst lange nachdem sie hinter dem Horizont verschwunden war, setzte ich den Arm ab und betrachtete die schneegepuderte Landschaft aus dem Fenster.

    Auf einmal spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Ich schrecke auf und drehe mich ruckartig herum. Erstaunt lasse ich meinen Blick schweifen. Es ist meine Nachbarin, Julia Blank ist ihr Name. Julia ist eine bezaubernd schöne junge Dame von vierundzwanzig Jahren, ihres Zeichens Studentin an der Juristischen Fakultät der Universität von Steinburg, welche – wie einfallsreich – Universität Steinburg heißt. Sie muss schon bald fertig sein mit ihrem Studium und macht den Eindruck einer sehr intelligenten und selbstbewussten jungen Dame. Nach eigenen Angaben ist sie in ihrem Studium äußerst erfolgreich, obwohl ich nicht den Eindruck habe, sie lerne besonders viel. Von Kopf bis Fuß ist sie eine Augenweide mit ihren rehbraunen Augen, ihrer Stupsnase, ihren lockigen, brünetten Haaren, die fast unmerklich ins Rötliche übergehen, mit ihren sinnlichen Lippen und ihren prallen runden Brüsten, die sich bei jedem ihrer Schritte sanft mitbewegen. Dieses wunderbare Geschöpf ist minimal größer als ich, vielleicht einen Meter siebzig groß ohne Schuhe und sieht auch heute – wie immer – aus wie aus dem Ei gepellt mit ihrem roten Oberteil, das sich zwar an ihren Körper anschmiegt, jedoch trotzdem der Phantasie noch genug Spielraum überlässt. Dazu trägt sie eine hautenge Blue Jeans, welche in dunkelbraunen Lederstiefeln steckt und passend dazu eine ebenfalls dunkelbraune Lederjacke. »Mensch Martin, bist du jetzt ansprechbar?«, ruft sie mir entgegen. »Dreimal habe ich deinen Namen gerufen und du stehst nur da und rührst dich nicht vom Fleck! Was ist denn los mit dir? Ich hab dich nur zufällig stehen sehen und wollte dich fragen, ob du vielleicht etwas Butter für mich hättest. Ich möchte nämlich einen Kuchen backen.«

    »Oh… tut mir leid«, bringe ich heraus, »ich habe mich gerade komplett in Gedanken verloren. Ich hab über etwas nachgedacht«, stottere ich geradezu.

    Lachend winkt Julia ab, sie ist das wohl schon von mir gewohnt, denn ich mache laut ihrer Aussage meistens einen recht zerstreuten und nachdenklichen Eindruck.

    »Natürlich kannst du etwas Butter von mir haben.

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