Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Lourdes: Mystik und Massen
Lourdes: Mystik und Massen
Lourdes: Mystik und Massen
eBook300 Seiten3 Stunden

Lourdes: Mystik und Massen

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Das letzte Buch des Kultautors Joris-Karl Huysmans erstmals auf Deutsch: sein eindrücklich realistischer Bericht über Lourdes, den Wallfahrtsort der Pilgermassen, der Kranken, des Kitsches und der Wunder.
Skeptisch und nur auf Drängen von Freunden reist der legendäre Schriftsteller Huysmans nach Lourdes, und was er dort antrifft, hat in der Tat nur noch wenig mit der unberührten Idylle der Grotte am Flüsschen Gave zu tun, wo 1858 der vierzehnjährigen Bernadette Soubirous mehrfach die Jungfrau Maria erschienen sein soll. Es herrscht ein Riesenauflauf: Menschenhorden fluten den Ort, darunter viele bedauernswerte Wesen mit den schauerlichsten Krankheiten. Glaubenskitsch der billigsten Art ist ebenso allgegenwärtig wie der medizinische Betrieb für die kranken Pilger und der routinierte Ablauf der zahllosen Messen und Prozessionen. Bei all dem Ablenkenden, Irritierenden und oft auch Oberflächlichen aber entdeckt Huysmans nach und nach auch das Tiefmenschliche, das Schöne und das Berührende, und er beschließt, über das Phänomen Lourdes zu schreiben. Es wird sein letztes Buch – ein Zusammenklang von einfühlsamer Sprachkunst und kritisch beobachtender Reportage.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Mai 2020
ISBN9783940357663
Lourdes: Mystik und Massen
Autor

Joris-Karl Huysmans

Joris-Karl Huysmans (Charles Marie Georges Huysmans), geboren am 5. Februar 1848 in Paris als Sohn des Druckers Godfried Huysmans und der Lehrerin Malvina Badin; gestorben am 12. Mai 1907, ebenda. Französischer Schriftsteller. Hauptwerke: Gegen den Strich (À rebours, 1884); Tief unten (Là-bas, 1891). Ausführliche Lebensbeschreibung auf Seite 4.

Mehr von Joris Karl Huysmans lesen

Ähnlich wie Lourdes

Ähnliche E-Books

Christentum für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Lourdes

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Lourdes - Joris-Karl Huysmans

    19,2

    VORBEMERKUNG

    Ich habe nicht die Absicht, die Geschichte von Bernadette und Lourdes im Einzelnen zu erzählen. Es sind bereits zahllose Bände, die sie wiedergeben, erschienen; man kann auch sagen, sie ist von Schriftstellern jeder Couleur immer wieder durchgekaut und mit jeder Wiederholung weiter verwässert worden. Ich will die Erscheinungen der Jungfrau in der Grotte von Massabielle bei Lourdes hier nur kurz in Erinnerung rufen, damit die Skizzen und Aufzeichnungen, aus denen dieses Buch besteht, verstanden werden können.

    Im Jahr 1858 – von Donnerstag, den 11. Februar, bis Freitag, den 16. Juli – erschien die Jungfrau in dieser Grotte am Ufer des Gave der vierzehnjährigen Bernadette, der Ältesten von sechs Kindern des Müllers François Soubirous, insgesamt achtzehnmal.

    Bernadette sah sie dort umgeben von einer Aureole in einer wie ein gotisches Fenster geformten Vertiefung im Fels oberhalb der Grotte; sie hatte das Aussehen eines jungen Mädchens von sechzehn oder siebzehn Jahren, recht klein, sehr hübsch, mit einer sanften Stimme und blauen Augen. Sie trug ein weißes Kleid mit einer himmelblauen Schärpe um die Taille, die in zwei Bahnen zu den nackten, vom Kleid bis zu den Zehen bedeckten Füßen hinunterfiel, und die Zehen schmückte jeweils eine Rose von flammend gelber Farbe. Sie trug einen Schleier und hielt in den Händen einen Rosenkranz aus weißen Perlen, die auf eine goldene Kette aufgezogen waren.

    Während der verschiedenen Erscheinungen sprach sie im Dialekt der Gegend und sagte zu dem Kind:

    »Wollen Sie mir die Güte erweisen, zwei Wochen lang hierherzukommen? Ich verspreche Ihnen nicht, Sie in dieser Welt glücklich zu machen, aber in der anderen. Ich wünsche viele Menschen hier zu sehen.« – »Beten Sie zu Gott für die Sünder.« – »Buße, Buße, Buße!« – »Sagen Sie den Priestern, dass man hier eine Kapelle bauen soll.« – »Ich will, dass man in Prozessionen hierherkommt.« – »Trinken Sie aus der Quelle und waschen Sie sich darin. Essen Sie von den Kräutern, die Sie dort finden.« – »Ich bin die Unbefleckte Empfängnis. Ich wünsche mir hier eine Kapelle.«

    Darüber hinaus offenbarte sie Bernadette ein besonderes Gebet und drei persönliche Geheimnisse, die nie öffentlich bekannt wurden.

    Zu bemerken ist noch, dass die Jungfrau die Quelle in der Grotte nicht während einer ihrer Erscheinungen neu entspringen ließ; es gab sie dort schon seit langer Zeit, sie floss aber unsichtbar, ohne dass jemand von ihr wusste, durch den Sand in den Gave. Die Jungfrau hat sich also darauf beschränkt, die Stelle dem Kind zu zeigen, das dann nach ihren Anweisungen den Boden aufscharrte und so die Quelle an die Oberfläche holte.¹

    Diese Quelle, die lediglich als ein fingerdickes Rinnsal aus der Erde kommt, gibt heute, ohne je versiegt zu sein, 122 000 Liter Wasser in vierundzwanzig Stunden ab.² Sie ist berühmt geworden durch die Heilungen, die sich mit ihrer Hilfe ereignen.

    Was Bernadette angeht, so trat sie, nachdem die kirchlichen und weltlichen Autoritäten sie Prüfungen aller Art unterzogen hatten und ihre Mission erfüllt war, im Alter von zweiundzwanzig Jahren bei den Barmherzigen Schwestern ins Kloster Saint-Gildard in Nevers ein. Sie nahm dort den Schleier unter dem Namen Schwester Marie Bernard und starb dort sehr fromm am 16. April 1879 im Alter von fünfunddreißig Jahren, drei Monaten und neun Tagen.

    I

    FEUER UND WASSER

    Wenn es einen gibt, der niemals den Wunsch gehabt hat, Lourdes zu sehen, dann bin ich es. Zum einen mag ich die lautstark singenden Prozessionszüge nicht und stimme Johannes vom Kreuz³ zu, der im Aufstieg auf den Berg Karmel schreibt: »Ich lobe denjenigen sehr, der sich außerhalb der üblichen Zeiten zur Wallfahrt auf den Weg macht, um die großen Pilgerströme zu meiden. Auch ich empfehle, sich ihnen nicht anzuschließen, denn man läuft Gefahr, eher noch weniger gesammelt zurückzukommen, als man hingegangen ist.«

    Zum anderen möchte ich die Wunder gar nicht sehen, von denen ich wohl weiß, dass die Jungfrau sie in Lourdes und andernorts wirken kann. Mein Glaube stützt sich weder auf meine Vernunft noch auf mehr oder weniger sichere Zeugnisse der Sinne, vielmehr erneuert er sich aus einem inneren Gefühl, aus einer durch innere Erfahrungen gewonnenen Gewissheit.

    Die führenden Köpfe der Psychiatrie und die Oberlehrer versehen die Phänomene des spirituellen Lebens, von denen sie nichts wissen und die sie nicht erklären können, mit den Etiketten »Autosuggestion« oder »Geistesstörung«. Dabei ist die Mystik eine absolut exakte Wissenschaft; ich habe mich von einer gewissen Anzahl ihrer Erscheinungsformen überzeugen können und verlange nicht nach mehr, um zu glauben; es genügt mir so.

    Aber jetzt bin ich nun schon zum zweiten Mal wochenlang an diesem Ort, veranlasst durch länger zurückliegende Umstände und fast unabhängig von eigenen Motiven, und erwarte die Ankunft der großen internationalen Wallfahrten.

    Heute Morgen regnet es, wie es in diesem Landstrich eben regnet, das heißt: Es gießt wie aus Eimern. Ich sitze am Fenster des Landhauses oberhalb der Straße von Pau, wo ich logiere, und schaue durch die tränenden Scheiben auf das Panorama von Lourdes.

    Der Blick reicht nicht weit, er ist begrenzt durch die Berge, zwischen denen Schwaden aus weißem Dunst dahintreiben, während darüber pechschwarze Wolken ziehen und rußige Flocken der Fabriken wirbeln. Eine der Bergkuppen scheint zu rauchen, eine andere ragt aus den Wolken und wirkt wie tot. Hier und da legt sich eine graue, wattige Schärpe um die Flanken der niedrigeren Hügel und löst sich im Heruntersinken auf. Die ewig weiß verschneiten Gipfel sind vollständig eingehüllt vom Nebel. Je dichter der Regen wird, umso mehr versinkt alles im Dunst. Der Große und der Kleine Gers, zwei Berge, die am nächsten liegen, wirken in dieser Hexenküche wie gewaltige Pyramiden aus Schlacke, wie gigantische Ascheberge.

    Die Trostlosigkeit dieses Himmelstrichs kreuzt sich mit dem herabströmenden Regen. Am Fuß der Bergkette, direkt mir gegenüber, rauscht Tag und Nacht der Gave wie ein Wildbach sprudelnd zwischen den Felsbrocken. Sein schäumendes Wasser umfließt ein Gebäude mit spitzem Glockenturm und kargem Garten, in dem Tannen und Pappeln wachsen, bevor er sich schließlich weiter entfernt zu einem ruhig dahinfließenden Fluss erweitert. Man könnte dieses Gebäude mit den steil aufragenden Mauern, in die hoch oben winzige Lukenfenster eingelassen sind, für ein Gefängnis halten, aber es ist das Kloster der armen Klarissen. Links überspannt eine Brücke den Fluss und verbindet das neue Lourdes, dessen Häuser ich sehen kann, mit der Altstadt, über der ein wuchtiger Bergfried herrscht, der für eine auf Leinwand gemalte Opernkulisse gemacht zu sein scheint. Rechts schließlich die Esplanade mit ihren Bäumen, die zur Rosenkranz-Basilika und den beiden rampenartigen Aufgängen führt, überragt von der Oberen Basilika, deren blendend weißer Umriss sich vor der Anhöhe der Espélugues abzeichnet, wo riesige Kreuze die von Grün umgebenen Lichtungen mit den Kreuzwegstationen anzeigen.

    Hinter der Esplanade und ihren Rasenflächen stehen unterhalb der Rampen zwei Gasbehälter, der eine wassergrün gestrichen, der andere ockergelb wie die Tür zu einem Abort, grauenhaft deplatziert, und auf diese tortenförmigen Blechdinger sind Panoramen gemalt, auf dem einen eins von Jerusalem, auf dem anderen eins von Lourdes.

    Nach künstlerischem Maßstab wirkt all das nicht sehr einnehmend, und die Kathedrale, die auf einem Felsvorsprung aufragt, schneidet nicht besser ab. Dürftig, kahl, ohne bemerkenswerte Gestaltungselemente, erinnert sie an die grässlichen Miniaturkirchen aus Kork, wie man sie als Dekoration in manchen Schaufenstern sieht; sie verkörpert die Ästhetik von Korkenhändlern. Die einfachste mittelalterliche Dorfkapelle erscheint im Vergleich mit dieser Möchtegern-Gotik wie ein Meisterwerk an Raffinesse und Gestaltungskraft. Am besten wäre trotz ihrer kühlen Schlichtheit noch die doppelte Rampe aus Stein, die auf beiden Seiten von der Esplanade zum Portal der Basilika hochführt, wenn dieser Eindruck nicht verdorben würde durch die daran angrenzende Rosenkranz-Basilika. Plump fällt sie der Oberen Basilika auf die Füße mit einem Dach wie eine riesige, von drei Zinktopfdeckeln flankierte Savoyer Napfkuchenform.

    Von meinem seitlichen Blickwinkel aus sieht dieses Rondell mit seinen zwei Rampen, die sich im Bogen vom Dach bis zum Platz hinunterschwingen, wie ein gigantischer Krebs aus, der seine Scheren zur Altstadt hin streckt.

    Unterhalb dieser Rampen verläuft zu Füßen der Oberen Basilika und seitlich der Rosenkranz-Basilika eine breite Allee parallel zum Flussbett des Gave an den Badebecken und der Grotte entlang, bis sie abrupt an einem Hang endet, den sich Wege hinaufwinden, die ein M formen. Diese baumbestandenen Wege führen hinter die Basilika zur Wohnstätte der Patres der Grotte und zur bischöflichen Residenz nicht weit von der Apsis.

    Das alles erscheint dürftig und unzulänglich, kläglich und zwergenhaft vor dem Hintergrund der in unmittelbarer Nähe aufragenden Berge; aber die Dürftigkeit dieser Kulisse wird belanglos, wenn der Blick auf die Höhlung im flackernden Schein fällt, direkt unter der Basilika, ein Gewölbe in Flammen, eingegraben in den Felsen, an dessen Flanke es glüht: Dort ist das Herz von Lourdes.

    Gesamtansicht von Lourdes, 1914

    Die Grotte! Das nutzlose Standbild in der Felsnische, wo die Jungfrau erschienen ist, denke man sich weg, und die Entrückung beginnt. Hier meditiert man die vielen Gebete, mit denen man vor der Abreise aus Paris beauftragt wurde, eins ums andere, so gut man kann. Jedes bittet um die Heilung oder Bekehrung der Eltern oder Freunde, und jedes breitet vor ihr das mitgeschleppte traurige Bündel der physischen Leiden und moralischen Qualen aus. Es herrscht tiefe Stille, alles kniet in sich versunken; da jetzt die Grotte wieder zugänglich ist, scheint man es eilig zu haben, von der Madonna die gewünschten Gnaden zu erlangen. Noch hat man sie einige Stunden für sich. Morgen wird die Grotte überfüllt sein von den während der Nacht angekommenen Wallfahrtsgruppen. Dann wird es unmöglich sein, hineinzugelangen, und man wird sich auch auf den Bänken davor kaum im Gebet sammeln können, denn ununterbrochen wird lautstark gesungen und gepredigt werden.

    Nicht anders wird es dann bei der unsichtbaren Quelle sein, deren Wasser aus dem Dutzend kupferner Hähne eines Brunnens links davon fließt. Man wird Schlange stehen, um seine Feldflasche zu füllen oder ein Glas Wasser zu trinken.

    Auch jetzt eilt man dorthin, um zu trinken; man reicht sich Becher aus Weißblech; manche leeren sie in einem Zug, andere trinken sie nur halb leer, gießen den Rest in die Hände und reiben sich damit über ihr Gesicht, benetzen ihre Augen und Ohren. Die Frauen raffen ihre Kleider und klemmen sie zwischen die Knie, damit sie nicht nass werden. Man schimpft mit den Kindern, die die übervollen Flaschen schütteln und einander bespritzen. Jeder trifft seine Vorkehrungen, als wäre man in einer Stadt, der eine Belagerung bevorsteht.

    In Erwartung des angekündigten Pilgeransturms betört der Charme dieses intimen Lourdes ohne Gedränge und ohne Lärm. Man kostet die Annehmlichkeit einer Stadt aus, die ihrem Erwerbsstreben geschäftstüchtig folgt, und spürt doch auch ein Gefühl der geschwisterlichen Gemeinschaft mit all denen, die gleichen Sinnes sind und wie man selbst nach den Wohltaten der Jungfrau verlangen. Und ohne gefragt zu haben, erfährt man, warum dieser hier spaziert und warum jene sich dort aufhält, und teilt die Hoffnung auf ihre Heilung und die Erfüllung ihrer Anliegen. Es entsteht etwas von der Kameradschaft eines Biwaks bei dieser Begegnung der in einem Städtchen kampierenden Pilger. Man läuft sich ständig wieder über den Weg. Man trifft sich auf der Esplanade, man sieht sich in der Oberen Basilika, in der Krypta oder der Rosenkranz-Basilika und begegnet einander bei der Grotte, sodass man sich fast genötigt fühlt, sich zu grüßen, obwohl man sich nicht kennt.

    Tatsächlich bleibt niemand auf seinem Zimmer, und jeder lebt draußen, ob es regnet oder nicht. Von morgens bis abends geht man immer dieselben Wege, und wohin sie auch führen, man sieht außer den bekannten Gesichtern nur noch die Statuen der Jungfrau aus Gips mit zum Himmel erhobenem Blick und im weißen Kleid mit blauer Gürtelschärpe; kein Geschäft, das nicht Medaillen, Kerzen, Rosenkränze, Skapuliere und Broschüren über die Wunder anbietet, das alte und das neue Lourdes sind voll davon, selbst die Hotels machen mit, und das erstreckt sich über Kilometer von Straße zu Straße. Es beginnt im alten Lourdes mit armseligem Ramsch: Rosenkranzkettchen mit einem Kreuz aus Stahl, übergroße Lourdes-Rosenkränze, im nahen Bétharram gefertigte karamellfarbene Rosenkränze aus Holz zu sechs Sous das Stück, grässliche Kitschbildchen von Bernadette in rotem Rock und blauer Schürze und mit einer Kerze in der Hand vor der Jungfrau kniend, Miniaturfiguren und in großen Mengen aus Kupferschrott fabrizierte Medaillen, die an Spielzeuggeld denken lassen. Und all diese Gegenstände nehmen an Feinheit, Ausstattung und Größe zu, je mehr man sich der Neustadt nähert. Die Statuen wachsen, bis sie schließlich enorme Dimensionen annehmen, bleiben aber genauso hässlich. Die Kitschbilder steigern sich, indem sie das Soubirous-Mädchen wie eine Kammerzofe ausstaffieren; die Prägung der Medaillen wird besser, und sie sind aus anderem Metall: Man sieht Silber und Gold. Und wenn man sich der Grotte nähert, stößt man auf eine wahrhaft überbordende Fülle an Luxusnippes! Die Rosenkränze hängen nicht mehr draußen in Bündeln zum Verkauf, sondern werden auf rosa Watte gebettet in Vitrinen ausgestellt, ihre Perlen aus Lapislazuli, Koralle und Amethyst sind in Silber oder Gold gefasst. Dazu gibt es Papeterie-Krimskrams, Bleistift- und Federhalter sowie Briefbeschwerer aus unterschiedlichem Pyrenäenmarmor, und als Höhepunkt Schmuck aus Paris, aus den Juweliergeschäften vom Palais-Royal, geheiligt durch ein angehängtes Kreuz oder eine Medaille.

    Und der Konkurrenzkampf ist hemmungslos: Überall in der Stadt wird man entlang der Geschäfte angehalten, es ist ein Kommen und Gehen, aber inmitten dieses Trubels gelangt man zuletzt immer auf dem einen oder anderen Weg zur Grotte.

    Diese unregelmäßig geformte Grotte – vorne ziemlich hoch, flacher nach hinten und an einer Seite sehr niedrig – ist mit Votivtafeln aller Art geschmückt. Verrußte Krücken, die an Drähten vom Gewölbe herabbaumeln, tanzen beim leisesten Wind. Es gibt einen tragbaren Altar für die Zelebration der bischöflichen Messen und einen Kippwagen auf Rollen für die Kerzenreste.

    Links, nahe der Quelle, gibt es einen gemauerten Unterstand für das Aufsichtspersonal und die Sakristei, etwas weiter eine Verkaufsbude für Devotionalien und Kerzen. Rechts, fast unter der mandelförmigen Nische, in der wie in einer Umrahmung die Jungfrau erschienen ist, ein fest installierter Stuhl, auf dem während der Wallfahrten die Missionare oder Priester Platz nehmen und Katapulten gleich die Gebete der Menge auf das Himmelstor lenken, damit wie aus geöffneten Schleusen die Gnaden herabströmen sollen.

    Durchglüht von den Kerzen und stets von noch warmem Ruß überzogen wie die Wand eines Kamins, ist diese Grotte von Massabielle mit ihrem niemals verlöschenden Feuerschein eine eingehendere Betrachtung wert.

    Am Gitterzaun vor dem Eingang stehen kranzartige Kupferständer, die große Platten mit spitzen Stiften tragen, auf denen aufgesteckte Kerzen brennen. Im Inneren der Grotte laufen entlang der Felswand dicht über dem Boden drei schwarze Eisenbänder mit Halterungsringen für Kerzen. Die unteren Halterungen sind am größten und gleichen eher Trichtern; sie sind bestimmt für die mächtigen Kerzen zu sechzig Francs, die wochenlang brennen. Dreieckige Kerzenhalter sind in den Stein getrieben, und hier und da hat man Erinnerungsbroschen in der Nähe einer Aushöhlung eingesetzt, die man mit einem Netz abgedeckt hat und in die, als eine allzu menschliche Post, Briefe an die Jungfrau eingeworfen werden können. Und entsprechend ihrer Größe und ihrem Preis zischeln all diese Kerzen verschieden und brennen unterschiedlich herunter. Die Kleinsten sinken um das Dochtende herum pilzförmig zusammen, erst kirschrot verfärbt, zuletzt schwarz. Die Größten verzehren sich sehr langsam in feinen Strömen reismilchartiger Tropfen, die nach und nach an den Seiten zu weißem Fett erstarren. Andere sind gerillt und wirken mit ihrer gefurchten Oberfläche und ihren Noppen wie die runzeligen Äste von Ulmen. Wieder andere wachsen gewissermaßen über ihren Docht und verzehren sich dabei wie Nachtlichter auf dem Boden eines Glases, das mit einem Schnurgeflecht versehen und mit Rankenmustern verziert ist, so wie die Andachtsbildchen mit ihrem papierenen Spitzenrand. Es gibt auch sehr alte, schon verblichene Kerzen, die gefleckt sind wie eine von Mitessern übersäte Nase, und es gibt die falschen, die unehrlichen Kerzen, die den Käufer betrügen und Gott bestehlen, Kerzen, die aus Stearin bestehen und nur von einer Hülle aus Wachs umgeben sind, die gelbe Tränen weint, während der Kern zu einer glasigen Flüssigkeit wird, in der der verkohlte Docht einer gewöhnlichen Kerze schwimmt.

    Hier ereignet sich die Umkehrung des Pfingstgeschehens: Die Feuerzungen steigen zum Himmel hinauf statt von ihm herab, aber sie beten zum Heiligen Geist in der Form, die er selbst angenommen hat, sie spielen ihre Rolle bei den liturgischen Anrufungen des Herrn buchstäblich so, wie es von ihm prophezeit wurde, und wenn man sich an die Pfingstliturgie erinnert, wo fast immer Wasser zusammen mit Feuer vorkommt, so erfasst man plötzlich die geheimnisvolle Verbindung dieser beiden Elemente, den Zusammenklang von Flamme und Welle in Lourdes.

    Dieses feurige Blühen versorgt ein alter Gärtner, der dort dauerhaft wohnt und braungebraten vor dem Glutofen der Grotte patrouilliert, ein richtiggehender Gärtner, frisch rasiert, mit blauer Kittelschürze und seinen Gartengeräten, seinem Rebmesser, seinem Rechen, seiner Schaufel und seiner Schubkarre, die hier zum Kippwagen geworden ist.

    Von morgens bis abends betreut er ohne Hast und schweigend den Haushalt der Jungfrau, entfernt die Wachsstalaktiten von den Aufsteckspitzen und den dreieckigen Kerzenhaltern, gräbt den mit Kerzenfett und schneeigem Puder gesättigten Boden auf, aus dem die feurigen Blumen wie von selbst hervorzutreiben scheinen, sich vermehrend mit dem Pollenflug der Funken, die der Wind im Rauch davonträgt. Er putzt diesen Blumen ihre Stempel aus Baumwolle, er beschneidet ihre Stängel, entfernt die herunterrinnenden weißen Würmer. Er gräbt die Wurzeln aus, die bald absterben werden, und wirft sie auf eines der Bleche beim Eingang, damit sie als brennende Stummel sich ganz verzehrend schließlich ihr Leben aushauchen können, denn hier brennt man alles ordentlich ab, im Gegensatz zu anderen Kirchen, wo eifrige Frauen die erst halb abgebrannten Kerzen ausblasen, um sie noch mal zu verkaufen.

    Dann nimmt er eine Handvoll kleiner Kerzen wie ein Bündel Spargel und entzündet alle zusammen, um sie dann in einen der Halter hinten am Eisenband zu pressen. Die Kerzen türmen sich in riesigen Mengen. Es warten ganze Kippwagen mit Kerzen darauf, ausgeladen zu werden. Er sortiert die weißen Stäbe, trennt oder verbindet sie, klebt die gebrochenen, indem er sie erhitzt. Immerzu behält er alle brennenden im Auge, setzt Kerzen, die verkümmern und verglimmen wollen, an einen günstigeren Platz mit weniger Luftzug; eine Arbeit, die dauernd neu beginnt, denn sobald Kerzen sterben, werden andere geboren.

    Diese vestalische Priesterin in Hosen ist daher ebenso gut eine kurzbehoste Danaide,⁴ denn diese Grotte ist eine bodenlose Feuergrube; aus der Provinz, dem Ausland, aus allen Teilen der Welt strömen jeden Morgen die Kerzensendungen heran, und man muss die Anlieferungen eines Tages verbrauchen, um nicht am nächsten Tag von den neuen überhäuft zu werden. Sosehr man sich aber anstrengt, die Stapel türmen sich weiter auf. Hier lagert man Kerzen wie andernorts Holz. Alle Einheimischen verkaufen Wachskerzen, oder eher unechte Wachskerzen, denn das »köstliche Wachs der Bienen« verkaufen sie entgegen allen liturgischen Texten nicht, sondern alten Talg, der mit Schwefelsäure entfettet und gehärtet wurde.

    Aber diese Tricks, die durch den stets zunehmenden Verkaufserfolg zwangsläufig aufkommen, werden nichtig im flammenden Glanz der Feuerglut, die Paraffin und Bienenwachs gleichermaßen verschlingt, und betrachtet man diese Hecken auflodernder Gebete, so wird man an die Symbolik der Kerze erinnert, wie sie Pierre d’Esquilin und der heilige Ambrosius beschrieben haben.

    Die Kerze besteht aus drei Teilen: das Wachs, das das sehr weiße Fleisch Jesu darstellt, der in das Wachs eingelassene Docht, der seine sehr reine, unter der Hülle seines Leibes verborgene Seele ist, und das Feuer, das Zeichen seiner Göttlichkeit.

    Die Kerze ist also die Gestalt Christi; deswegen bringen wir sie der Jungfrau dar, damit sie wiederum als Mittlerin ihren Sohn dem Vater darbietet und er sich für uns verwendet.

    Diese Mittlerrolle können in weniger direkter Form auch die Heiligen übernehmen, aber man muss zugestehen, dass die in den meisten Kirchen praktizierte Heiligenverehrung absurd ist. Man opfert bestimmten Heiligen, und nur ihnen, eine Kerze, um sie mit dieser Gabe persönlich zu ehren, nur damit dann sie die Gebete zum Herrn senden, anstatt dass man sie selbst an den Herrn richtet, was allein Sinn ergibt.

    Außer man begnügt sich mit der mittelmäßigen Symbolik des heiligen Karl Borromäus⁶, der in der Kerze lediglich ein Bild für die drei christlichen Tugenden sieht, wobei das Licht für den Glauben, die Form für die Hoffnung und die Wärme für die Nächstenliebe steht.

    In diesem Fall entzündet man eine Kerze vor dem Abbild eines Heiligen, um durch dessen Vermittlung den Herrn zu veranlassen, in uns den Nährboden für diese Tugenden zu bereiten, die wegen der Keime des Bösen nur so langsam und schmerzhaft aufgehen können.

    Aber in Lourdes drängt sich eine andere Symbolik

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1