Mit Laib & Seele: Christine Mühlberger, Käsefrau, Künstlerin
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Über dieses E-Book
Ihren Unterhalt verdient sie sich als Marktfrau. Seit mehr als zehn Jahren steht sie als Madame Fromage bei jedem Wetter auf dem Wochenmarkt an ihrem kleinen Käsestand, eine markante Gestalt mit hellen Augen und wilden Locken, freitags auf dem Helvetiaplatz, samstags auf dem Lindenplatz in Zürich.
Angefangen hat sie mit zwei Laiben Walliser Alpkäse und einer selbstgebackenen Nusstorte. Rasch erweitert sie das Sortiment. Ihre Lieferanten, die Käser und Käserinnen in meist kleinen Betrieben besucht sie auf einer langen Schweizerreise - zu Fuss.
Wie alles im Leben, was ihr wichtig ist, betreibt sie ihren Käsestand mit Leib und Seele. Oder eben mit Laib & Seele. Ihr Marktgeschäft ist weit mehr als Job und Broterwerb, schon eher ein Gesamtkunstwerk. Wie sie es aufbaut und entwickelt, den Stand konzipiert, den Transport organisiert - und was dabei alles schiefgehen kann -, gibt Stoff her für eine Fülle von Geschichten.
Dorothee Degen-Zimmermann
Dorothee Degen-Zimmermann, geboren 1946 in Olten, Primarlehrerin. Neben und nach der Familienphase als Redaktorin, Übersetzerin und freie Journalistin tätig. Lebt in Zürich. Von ihr erschienen: "Mich hat niemand gefragt. Die Lebensgeschichte der Gertrud Mosimann", "Euch zeig ich's! 15 Zürcherinnen erzählen", "Aus dir wird nie etwas! Paul Richener - vom Verdingbub zum Gemeindepräsidenten", alle im Limmat Verlag Zürich.
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Buchvorschau
Mit Laib & Seele - Dorothee Degen-Zimmermann
Inhalt
Intro
Helvetiaplatz
Malen wie atmen
Big Apple
Knochenarbeit
Deutschunterricht am Käsestand
Amtl. bewilligt
«Probier mal, Christine!»
Aussen klein, innen gross
Helfende Hände
Constanza, die Beständige
Emil und Elsa
Wie geht Käsen?
Im Käsekeller
Überfluss teilen
«Meine Füsse sind glücklich»
Appenzeller Bergkäse
Gommer Feen
Lächelnde Ziegen
«C’est joli la haut!»
Mont-Blanc
Wie man sich bettet, so liegt man
Monsieur Golay et ses bouchons
Vacherin extra vieux
Simmentaler Alpkäse
Luzerner Emmentaler
Daheim auf dem Markt
Constanza bockt
Marktgeschichten
Finale
INTRO
Die Käsefrau? Christine? Die sei leicht zu finden, sagen die Kenner. Freitagmorgen auf dem Markt am Helvetiaplatz in Zürich: Ihr Stand sei der kleinste von allen und der mit der längsten Warteschlange.
Da hast du Zeit, die Düfte und bunten Farben auf dich wirken zu lassen. Sagen wir, es sei Spätsommer, Sonnenblumen, Astern, Rosen dominieren das Bild. Beim Gemüse und den Salaten ist das Angebot so breit wie nie im Jahreslauf: Tomaten, Zucchetti, Bohnen, Krautstiele, etliches, was du noch nie gesehen hast, den strähniggrünen Mönchsbart etwa, Blattsalate in allen Variationen. Dir aber steht der Sinn nach Käse, darum stellst du dich in die Reihe hinter einen jungen Mann im handgestrickten Pullover, dessen kompliziertes Muster deine Aufmerksamkeit weckt. Davor warten schon ein älteres Paar, ein Herr mit Mappe, zwei Mütter, die Kinder kurven auf ihren dreirädrigen Mini-Scootern gefährlich um die Wartenden, eine junge Frau, die an ihrem Kaffeebecher nippt, ein junger Vater mit einem Zweijährigen im Huckepack, eine Grauhaarige, Typ Hausfrau.
«Wer hat dir den Pullover gestrickt?», fragst du neugierig den jungen Mann. «Je l’ai fait moi-même», antwortet er. «Oh!», sagst du bewundernd, aber auf Französisch fremdelst du und verstummst.
Die Reihe rückt langsam vor, die Hausfrau ist ausgeschert. Hinter dir schliessen sich zwei Mütter mit Kinderwagen an. Sie tauschen sich über die Schlafprobleme und Trotzanfälle ihrer Sprösslinge aus.
Der junge Vater ist an der Reihe. Der Kleine im Huckepack fängt an zu zappeln. Christine lacht. «Ich weiss schon, was du willst», sagt sie und schneidet eine schmale Scheibe von einem Käseviertel, teilt sie in Stängelchen, reicht dem Kleinen eins und verteilt die andern unter die wartenden Kinder. Mit sichtlichem Behagen kaut der Kleine seinen Käse und fordert «mehr!» «Was ist das für ein Käse?», will der Vater wissen. Schläckstängelichäs sei das, ein milder Bergkäse, den die Kinder mögen.
Den handgestrickten Pullover begrüsst Christine auf Französisch. Wie es ihm gehe? Und wo er gewesen sei so lange? So geht das eine gute Weile hin und her, während Christine vom gewünschten Appenzeller Bergkäse ein Stück abschneidet. Der junge Mann zieht ein mit Bienenwachs beschichtetes Tuch aus der Tasche, ökologisch tadelloses, mehrfach verwendbares Verpackungsmaterial, und reicht es Christine. «Super!», meint sie anerkennend und wickelt den Käse ein. «… und grüsse Geraldine von mir!»
Endlich bist auch du am Ziel, stehst du vor dem Tisch unter dem gelb-weiss gestreiften Schutzdach. Christine, Mitte fünfzig, wettergebräunt, sehr dünn, wirrer Lockenkopf, leuchtende Augen, grüner Pulli, bodenlange Schürze über der Trekkinghose. Sie begrüsst dich in elegantem Hochdeutsch, mit einem Akzent, den du nicht identifizieren kannst. «Was soll es denn sein?»
Ratlos betrachtest du die Fülle. Links die grossen Stücke, halbe Laibe und Viertel, den grosslöchrigen Emmentaler erkennst du sofort, aber die anderen? In der Mitte die dicken Mutschli zu Türmen aufgeschichtet, daneben kleine, flache, weisse Weichkäse. Ganz rechts die süsse Ecke, Nusstorte, Früchtecake, Birnbrot. Am Stand aufgehängt Trockenfleischstücke und Würste.
Eher mild oder räss? Eher hart oder weich? Kuh, Schaf oder Geiss? Sachte schneidet sie mit der Ecke des Käsemessers – breit wie ein Spaten, am Rücken der Griff für zwei Hände – ein schmales Stückchen vom Appenzeller Bergkäse und offeriert es dir auf der breiten Schneide. Zu rezent? Bietet dir ein Stückchen vom Geissenkäse an. «Der kommt aus dem Tessin, die Geissen sind den ganzen Sommer lang Tag und Nacht draussen und fressen Heidelbeeren, Wachholder und Tannenzapfen.»
Die Vielen, die hinter dir warten, kümmern sie nicht, jetzt sollst du den Käse bekommen, den du am liebsten magst. Du kannst dich nicht entscheiden – dann eben von beiden ein Stück. Mit ihren kräftigen Händen setzt sie das Messer auf den Laib, schaut dich fragend an – mehr? weniger? – drückt, wenn du nickst, mit Kraft und Körpereinsatz die Schneide wiegend durch den Käse. Mit einer eleganten Bewegung legt sie das Käsestück diagonal aufs Papier. Die vier Ecken eingeschlagen, zugeklebt, liegt das saubere Päckchen auf der Waage, Handgriffe, tausendfach geübt.
Du kommst wieder, die meisten kommen wieder. Vom dritten oder vierten Mal an nicht mehr nur, weil der Käse wirklich gut ist. Sie kommen, weil der Markt ein so sinnlicher Ort ist mit seiner Blumenfülle, dem frischen Obst und Gemüse, eine Augenweide und Gaumenfreude. Und sie kommen, weil es so gut tut, mit der Käsefrau ein paar Worte zu wechseln, das vor allem.
HELVETIAPLATZ
Seit mehr als zehn Jahren steht die Käsefrau jeden Freitag an ihrem kleinen Käsestand auf dem Markt am Helvetiaplatz und fast ebenso lang samstags am Lindenplatz in Altstetten. Bei Wind und Wetter, ob Sonnenschein, Regen oder Schnee. Nur im Juli und August macht sie ein paar Wochen Pause, in denen sie auf Wanderschaft geht.
Christine Mühlberger ist Künstlerin. Mit dem Käsestand verdient sie sich ihren Lebensunterhalt, finanziert die Miete von Wohnung und Atelier. Und die Farben und das Papier. Aber er ist weit mehr als Broterwerb, er ist ein sinnvolles Werk, ein Projekt von materiellem und immateriellem Wert, dem sie sich mit ganzer Hingabe und Leidenschaft widmet. Welche Logistik und wie viel Knochenarbeit darin steckt, ist für Kunden gewöhnlich nicht zu sehen.
Die beiden Märkte unterscheiden sich in vielem, wie auch die Quartiere, in denen sie stattfinden. Der Helvetiaplatz liegt im Kreis 4, Zürichs buntestem Multikulti-Quartier. In der Nähe gibt es viele Bürohäuser, das Sozialamt grenzt direkt an den Platz, auf dem an Wochenenden oft politische Kundgebungen stattfinden.
Der Markt hat lange Tradition, er strotzt vor Leben. Das Publikum ist durchmischt, international. Junge und Alte, Mütter, auch Väter, mit Baby im Tragtuch, Berufstätige, Typ Sozialarbeiter, Hipster mit dem Singlespeed-Velo, weil Einkaufen auf dem Markt angesagt ist, biedere Hausfrauen mit Einkaufswägeli, Touristinnen, Banker mit Aktenkoffer, türkische Mamas, ältere Männer in Trainingshosen, die Setzlinge für den Schrebergarten einkaufen.
Der Lindenplatz im Zentrum von Altstetten in Zürich-West dagegen – vom einstigen Dorfkern ist nichts übriggeblieben – wirkt gesichtslos, bieder, verschlafen. Das Wohnquartier Altstetten wird derzeit gerade im grossen Stil umgebaut. Genossenschaftssiedlungen aus den 1950er- und 60er-Jahren prägen noch das Bild, aber viele von ihnen wurden in den letzten Jahren abgerissen und durch Neubauten ersetzt.
Das Angebot auf dem Lindenplatz-Markt ist wesentlich kleiner. Es geht später los, am Samstagmorgen nimmt man sich mehr Zeit zum Frühstücken. Auch hier sieht man alle Generationen, oft Eltern mit Kindern und, mehr als auf dem Helvetiaplatz, alte Menschen am Stock und mit dem obligaten Einkaufswägeli.
Die Atmosphäre der beiden Märkte unterscheidet sich stark. Christine jedenfalls könnte mit verbundenen Augen sagen, auf welchem der Märkte sie sich befindet. «Auf dem Helvetiaplatz ist es lauter, da sind mehr Energien, das spürt man.» Und vor allem ist der Kontakt unter den Marktfahrern lebendiger. Immer gibt es etwas zu scherzen und zu lachen, mit Gian Carlo, der am Nachbarstand seine Feigen und Oliven feilbietet, mit den Appenzellerinnen von Mansers Brotstand gegenüber.
Längst hat sie sich einen Namen gemacht, hat ihre Stammkunden, von denen viele Freunde geworden sind. Diese wiederum haben den Tipp weitergegeben, und auch Passantinnen gesellen sich immer wieder dazu. Und so bildet sich fast immer eine Warteschlange vor dem kleinen Stand, mal kürzer, mal länger. Unberechenbar. Das gilt für beide Märkte. «Gestern war ich auf dem Helvetiaplatz, da mochte ich nicht so lange warten», bekennt Marco, ein regelmässiger Kunde. «Ich dachte, ich probier’s heute auf dem Lindenplatz, aber hier ist es nicht