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Die goldene Pforte
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eBook441 Seiten4 Stunden

Die goldene Pforte

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Über dieses E-Book

Ein Prophet, den es niemals gab Ein Unfall? Oder doch ein Attentat? Simon Lange rettet sich mit einem spektakulären Sprung aus einem Auto. Der Auftakt einer rasanten Verfolgungsjagd, die von Paris über Berlin in den Nahen Osten führt, nach Jerusalem, Beirut und in ein kleines Dorf in Syrien. Lange ist im Besitz von Schriften, die das Weltbild aller Religionen ins Wanken bringen könnten, insbesondere das des Islam: Eine christliche Sekte soll den Koran verfasst haben, nicht der heilige Prophet. Doch Langes Nachforschungen rufen finstere Mächte auf den Plan, die alles dransetzen, damit die Wahrheit niemals ans Licht kommt. »Ein Krimi, der zu sensationell wichtigen, tabuisierten Tatsachen über den Islam als Judenchristentum führt.« Michael Wolffsohn »Ein packender Thriller mit Sprengkraft, der den Da Vinci Code in den Schatten stellt.« L'Express
SpracheDeutsch
HerausgeberBenevento
Erscheinungsdatum15. März 2018
ISBN9783710950520
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    Buchvorschau

    Die goldene Pforte - Philip Le Roy

    später

    BUCH I

    »Dreißig Jahre musste ich warten, bis ich mir die Frage stellte: Wer bin ich? Manche Menschen sind bereit zu töten, um die Antwort herauszufinden.«

    1

    Simon warf ein paar Fünfzig-Schekel-Scheine zwischen die leeren Gläser. Um die düsteren Gedanken zu vertreiben, war ihm nichts Besseres eingefallen, als sich zu betrinken. Der gewaltsame Tod seiner Eltern, der erschütternde Brief, den sein Vater hinterlassen hatte, die nutzlose Reise nach Israel, das alles hatte ihn animiert, an mehreren Theken von Jerusalem Ablenkung zu suchen, immer in Begleitung seines neuen Freundes Markus, der ihm beim Trinken Gesellschaft leistete. Als Simon sich vom Tresen entfernen wollte, rempelte er ein junges Paar an. Entschuldigungen und seine offensichtliche Trunkenheit verhinderten einen Streit, und Markus lotste ihn ohne weitere Zwischenfälle aus der Hiero-Bar heraus.

    »Wenn du einen Typen in Begleitung seiner Frau beleidigt hast, musst du dich immer entschuldigen«, brabbelte Simon. »Vor allem, wenn die betreffende Frau hübsch ist.«

    »Sogar besoffen kannst du dich noch tadellos benehmen.«

    »Bei den Buddhisten habe ich Mitgefühl gelernt.«

    »Mitgefühl mit einem jungen Paar?«, staunte Markus.

    »Ein Paar, das sich bald hoffnungslos zerstreiten wird.«

    »Solche Sprüche zeigen, dass du nicht bereit bist, eine Familie zu gründen, mein Freund.«

    »Meine Ruhe habe ich in der Meditation gefunden und in einem Leben am Rand der Gesellschaft. Das müsste ich alles aufgeben, wenn ich eine Familie gründe.«

    »Und was, wenn du dich verliebst?«

    »Liebe ist ein destruktives Gefühl. Denk nur daran, wie Carmen diesen armen Don José verhext hat.«

    Simon stimmte Georges Bizets berühmte Habanera an:

    Die Liebe von Zigeunern stammet,

    fragt nach Rechten nicht, Gesetz und Macht …

    Markus fiel mit ein, und die beiden Männer setzten aus voller Kehle singend ihren Weg fort. Ihr Krakeelen hallte von Jerusalems uralten Mauern wider, die in ihrer zweitausendjährigen Geschichte schon manches dergleichen erlebt hatten. Beflügelt vom Alkohol brachten die beiden Männer ihr Duett vor einer Gruppe verwirrter Touristen dar, die vorsichtig den Rückzug antraten. Markus bog in eine Gasse ein, die geradewegs zum Tempelberg führte. Simon torkelte hinterher. Sie warfen sich in die Brust und schmetterten Bizets Worte gen Himmel.

    Liebst du mich nicht, bin ich entflahahahammet,

    Und wenn ich lieb, nimm dich in Acht.

    Ein kleiner korpulenter Mann mit schwarzem Hut bat sie, leiser zu sein und woanders weiterzugrölen.

    »Nimm dich in Acht!«, posaunte Simon und bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust.

    Markus besänftigte seinen Kumpel und erklärte dem wohlgenährten verärgerten Passanten:

    »Mit einem Betrunkenen streitet man nicht, mein Freund.«

    »Das ist mir egal, und Ihr Freund bin ich erst recht nicht. Ich rufe jetzt die Polizei.«

    Er griff nach seinem Handy. Simon schwankte vor und zurück und hauchte dem Dicken seinen Whisky-Atem ins Gesicht:

    »Na! Schon mal Drachenatem gespürt?«

    Er zog ein Feuerzeug aus der Tasche und drohte, es vor seinem Mund zu entzünden. Der Mann wich erschrocken zurück und beschimpfte die beiden als Verrückte. Sie krümmten sich vor Lachen und vor Übelkeit. Simon beugte sich noch weiter hinab zum Boden und hob ein Portemonnaie auf. Schwankend kam er wieder hoch und hielt den Mann mit dem schwarzen Hut fest.

    »Sie haben da was verloren!«, rief er.

    Der Mann nahm seinen Besitz entgegen, stammelte beschämt »Danke« und machte, dass er fortkam.

    »Der hatte aber Glück, dass er an dich geraten ist!«, rief Markus und ging zu Simon.

    »Ich habe das Portemonnaie fallen lassen, als ich es klauen wollte. Eigentlich bin ich ein guter Taschendieb … wenn ich nüchtern bin.«

    »Warum wolltest du den Kerl beklauen?«

    »Damit er sich bedankt, nachdem er mich beschimpft hat. Nur wegen der Harmonie.«

    »Du hast ihn total verblüfft, er hat wirklich geglaubt, du würdest Feuer spucken, wenn du auf dein Feuerzeug pustest.«

    »Wenn du zehn Jahre alten Talisker getrunken hast, geht das ohne Probleme!«

    »Quatsch, du verkohlst dir nur die Nasenhaare.«

    »Ich wette zwanzig Euro.«

    »Top!«

    Hände klatschten gegeneinander. Das Rädchen am Feuerzeug drehte sich. Funken sprühten. Feuerstoß. Die Flamme erleuchtete alles ringsum.

    Markus sah eher verschreckt als ungläubig aus und beglich zitternd seine Schuld.

    »Was hast du denn?«, fragte Simon.

    »Feuer. Das mag ich nicht.«

    Er zeigte ihm seine halb verbrannte rechte Hand.

    »Grillunfall«, sagte er.

    Simon hatte die schlimme Verbrennung schon vorher bemerkt, aber taktvoll jede Anspielung darauf vermieden.

    »Hab zu viel Flüssigkeit getrunken«, sagte Simon, um das Thema zu wechseln. »Ich muss pissen.«

    »Ich auch.«

    Die beiden Nachtschwärmer gingen aufs Geratewohl weiter, auf der Suche nach einem geeigneten stillen Örtchen. An einer Festungsmauer stellten sie sich in strammer Haltung nebeneinander auf, reckten das Kinn zu den Sternen und öffneten den Hosenschlitz.

    »Darf ich dir was anvertrauen?«, fragte Markus.

    »Na ja, aber vorsichtig. Ich mache gerade eine schwierige Phase durch.«

    »Du pisst auf einen Kadaver.«

    Simon schreckte zurück, bespritzte seine ausgetretenen Schuhe und starrte auf die Gestalt, die an der Festungsmauer lag.

    »Das ist ein Pekinese«, sagte Markus. »Ein Pekinese?«

    »Ein Hund.«

    »Besten Dank, ich weiß, was ein Pekinese ist. Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt!«

    Sie gingen weiter, immer schön gerade an den Festungsmauern entlang.

    »Was hast du sonst noch drauf, außer Taschendiebstahl, Feuerspucken und auf Köter pissen?«, spöttelte Markus.

    Sie schlenderten ziellos weiter und zählten dabei Simons viele Talente auf. Der prahlte, er könne die Herzdame unter zweiundfünfzig verdeckten Spielkarten erraten, einen Löffel auf der Nase balancieren und einen Kirschstiel mit der Zunge verknoten.

    »Alles sehr nützlich«, meinte Markus.

    »Ich bin ein Alleinunterhalter!«

    »Hast du noch mehr drauf?«

    »Ich kann die Beine hinter dem Nacken kreuzen und die Laterne über deinem Kopf austreten. Aber das ist eine Kampftechnik, die ich in einem chinesischen Kloster gelernt habe, und keine besondere Gabe.«

    »So blau, wie du bist, schlägst du lang hin, bevor du nur einen Zeh gerührt hast.«

    »Ich kann auch Tote wiederbeleben«, behauptete Simon und stolperte über ein Grab.

    Sie hatten den Friedhof vor der Goldenen Pforte erreicht. Unter Markus’ Gelächter rappelte sich Simon stoisch wieder auf, stützte sich auf eine Stele, brabbelte eine Beschwörungsformel und endete mit einem Hickser. Plötzlich lag der in Mondlicht getauchte Ort totenstill da. Nicht das kleinste Geräusch störte die Ruhe des Friedhofs.

    Dann tönte Markus’ Schrei bis zur Klagemauer hinüber.

    Ein Grabstein bewegte sich.

    Ein Tier von der Größe einer dicken Katze kam hinter einem Tonkrug hervor und huschte in Richtung eines zerfallenen Grabmals. Markus verstummte vor Schreck. Simon prustete los und mimte mit wedelnden Armen einen lebenden Toten. Markus wies ihn zurecht, er solle den Mund halten und die Ruhe der Verstorbenen, die unter ihren Füßen ruhten, respektieren. Sein Blick strich über die riesige Mauer, die sie vom Felsendom trennte, und blieb an der Goldenen Pforte hängen, wo einst ein Durchgang gewesen war.

    »Weißt du, dass durch diese Pforte der Messias zurückkehren wird?«, sagte er zu dem schwankenden Zombie an seiner Seite.

    »Jaaa, aber die Propheten haben nicht vorausgesehen, dass Süleyman die Tür zumauern würde, um genau das zu verhindern.«

    »Und wenn es jemand trotzdem schafft?«

    »Was? Durch diese meterdicke Mauer zu gehen?«

    »Dafür musst du mehr draufhaben als ein Alleinunterhalter.«

    »Ich hab’s noch nie ausprobiert.«

    »Lass es, das ist eine schlechte Idee.«

    »Wer wagt, gewinnt.«

    »Wir müssen zurück.«

    »Ich wette noch mal zwanzig Euro.«

    Simon hielt Markus die Hand hin, damit er einschlug.

    »Lass das, Simon.«

    »Solange du nicht einschlägst, kriegst du mich hier nicht weg.«

    »Du spinnst. Du bist total blau.«

    »Der blaue Spinner, mein neuer Spitzname.«

    »Bitte, wenn du dir unbedingt den Schädel einrennen willst … Dein Problem.«

    »Alkohol ist ein sehr gutes Betäubungsmittel.«

    »Das wird dich zwanzig Euro und eine Migräne kosten.«

    »Top!«

    Sie schlugen ein. Simon schloss die Augen. Während er sich allem Anschein nach in tiefste Konzentration versenkte, schaltete Markus sein Handy an und aktivierte die Video-Funktion. Simon stand völlig still. Er schnarchte! Markus rüttelte ihn, worauf beide Männer das Gleichgewicht verloren.

    »Bravo, du kannst im Stehen einschlafen. Aber darauf haben wir nicht gewettet.«

    »Ich bündele meine Energie.«

    Simon ließ die Arme sinken, hob das Kinn und eierte auf die vermauerte Pforte zu.

    Ein Soldat, der ihnen bisher nicht aufgefallen war, vielleicht weil er in einer Ecke gedöst hatte, sprach den Mann an, der sich dem Tor näherte. Simon hörte nicht auf die Warnungen, beschleunigte seinen Schritt, ging jetzt vollkommen gerade, ohne zu torkeln, ignorierte Ermahnungen, Befehle und schließlich den Schuss. Dann herrschte Stille.

    Markus hob den Blick vom Display seines Telefons und starrte auf die Pforte des Messias. Simon war verschwunden.

    2

    Simon schreckte hoch, lautes Schnarchen hatte ihn geweckt. Als er die Augen aufschlug, durchfuhr ein stechender Schmerz seinen Kopf. Er kniff die Augen zusammen und bemerkte, dass er auf einer Pritsche mit brettharter Matratze lag. Da er in dem kerkerartigen Raum ganz allein war, konnte ihn nur sein eigenes Schnarchen aus dem Schlaf gerissen haben. Im Zeitlupentempo, damit das Pulsieren hinter seiner Stirn nicht noch stärker wurde, richtete er sich auf und schleppte sich zur Tür. Versperrt. Er klopfte gegen eine verglaste Stelle der Wand, um die Aufmerksamkeit des Uniformierten auf der anderen Seite auf sich zu lenken. Der Polizist grunzte und griff nach dem Telefon. Simon nahm an, dass der Beamte seinen Vorgesetzten anrief. Sinnlos, sich aufzuregen, im Gegenteil. Man hatte ihn in eine Ausnüchterungszelle gesteckt, und der beste Weg, so schnell wie möglich hier rauszukommen, war, einen möglichst nüchternen Eindruck zu erwecken.

    Simon machte ein paar Atemübungen, um den Kopfschmerz, der ihn am Denken hinderte, zu lindern. Er musste sich erinnern. Wie war er in dieser Zelle gelandet? Wo war Markus?

    Er wusste noch, dass er mit seinem Freund trinkend durch mehrere Jerusalemer Bars gezogen war, dass sie dann durch die Gassen der Altstadt geirrt waren und eine Opernarie gesungen hatten. Der Rest der Nacht versank im Nebel. Markus wusste sicher mehr darüber.

    Ein Schatten huschte über die verglaste Trennwand. Das Schloss klapperte zweimal, dann erschien ein Polizist in der Türöffnung, der ihn auf Englisch anherrschte und ihn am Arm packte, für den Fall, dass er seiner Aufforderung nicht Folge leistete. Dann sagte er etwas zu seinem wachhabenden Kollegen, der ihm ein Formular zum Unterschreiben hinschob.

    Sie gingen den Gang der Polizeiwache entlang, in dem so viel Betrieb herrschte wie in einer amerikanischen Serie. Simon wurde in das Büro des Vorgesetzten geführt, der am Telefon hing. Über eine Wand aus Aktenordnern hinweg forderte der Beamte ihn wortlos auf, Platz zu nehmen. Rasiertes Haupthaar, schwarze Augen, Hemdsärmel über zwei kräftigen Unterarmen hochgekrempelt – der Polizist sah eher aus wie ein Soldat. Er beendete das Telefongespräch auf Hebräisch und sprach Simon auf Englisch an.

    »Hauptmann Ziv«, stellte er sich vor.

    »Simon Lange.«

    »Ich weiß, wie Sie heißen. Ich weiß auch, dass Sie Franzose sind, in Beirut geboren, dreißig Jahre alt, wohnhaft in Paris. Wir wissen auch, dass Sie bis morgen in Jerusalem bleiben.«

    Der Hauptmann zeigte mit dem Finger auf seine Informationsquelle, einen französischen Pass neben einem Handy, das er nicht zum Schweigen bringen konnte. Dann sagte er weiter:

    »Was wir allerdings nicht wissen, ist, wie Sie es geschafft haben, vergangene Nacht auf den Tempelberg zu kommen.«

    »Ganz ehrlich, das weiß ich auch nicht«, erwiderte der Angesprochene und massierte sich die schmerzenden Schläfen.

    »Sie wurden in unmittelbarer Nähe des Felsendoms im Zustand erheblicher Trunkenheit verhaftet. Ich frage Sie noch einmal: Wie sind Sie dorthin gelangt?«

    »Sie haben doch selbst gesagt, dass ich betrunken war. Ich kann mich an nichts erinnern. Was ist mit Markus passiert?«

    »Wer ist Markus?«

    »Mein Freund. Er war mit mir zusammen.«

    »Markus und weiter?«

    »Das weiß ich nicht.«

    »Sie wissen nicht, wie Ihr Freund heißt?«

    »Ich habe ihn erst vor ein paar Tagen kennengelernt, beim Begräbnis meiner Eltern. Wir mögen uns. Ich wohne bei ihm, hier in Jerusalem.«

    Ziv machte sich einige Notizen, darunter auch Markus’ Adresse, die Simon ihm mitteilte.

    »Aus welchem Grund sind Sie in Jerusalem?«

    Simon zog es vor, ihm den wahren Grund seiner Anwesenheit in der Heiligen Stadt zu verschweigen.

    »Ich reise immer herum, habe keinen festen Wohnsitz. Die Adresse im Pass ist die Adresse meiner Eltern.«

    »Wovon leben Sie?«

    »Dies und das, manchmal arbeite ich in den Communitys, die mich aufnehmen. Gelegentlich unterrichte ich Sprachen, Kampfsport …«

    »Mit Alkoholkonsum lässt sich das aber schlecht vereinbaren.«

    »Ich musste in letzter Zeit ein paar schlechte Nachrichten verkraften. Auch den Tod meiner Eltern.«

    »Sind Sie ein Aktivist?«

    »Nein, ich bin in Trauer, Herr Hauptmann. Bloß in Trauer.«

    »Meinen Sie nicht auch, dass wir im Augenblick genug zu tun haben, mit den vielen Attentaten, der neuen Intifada, den Erdbeben hier in der Region?«

    »Was hat das mit mir zu tun?«

    »Dass ich auch so schon genug Sorgen habe und keinen Ärger mit der französischen Botschaft brauchen kann.«

    Der Polizist hielt ihm den Pass hin, gab ihn aber nicht aus der Hand, bevor er mit seiner Moralpredigt fertig war:

    »Für die Zukunft kann ich Ihnen nur raten, sich vom Tempelberg fernzuhalten und Ihren Alkoholkonsum einzuschränken.«

    »Keine Sorge.«

    »Wenn ich mir keine Sorgen machen würde, wäre ich nicht Bulle geworden, sondern Rabbi. Bei der kleinsten Verfehlung werde ich Sie einlochen, ob Sie nun Franzose sind oder nicht.«

    Endlich ließ der Hauptmann Simons Pass los.

    »Und verpassen Sie morgen Abend auf keinen Fall Ihr Flugzeug.«

    3

    Simon verließ Ostjerusalem und begab sich zur Altstadt unterhalb des Tempelbergs, der auch als Edles Heiligtum bekannt ist, weil sich dort der Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee befinden. Dort hatte man ihn mitten in der Nacht aufgegriffen. Durch welchen Taschenspielertrick war es ihm gelungen, in dieses lückenlos überwachte Heiligtum des Islam einzudringen, dessen Zutritt streng beschränkt wurde?

    Simon hoffte auf Erklärungen von Markus, der sich seit ihrer Sauftour vom Vorabend nicht mehr gemeldet hatte. Er betrat die Altstadt durch das Löwentor und hatte dabei das unangenehme Gefühl, dass ihm jemand folgte. Einige Male sah er sich um und bemerkte einen grauhaarigen Mann, der offenbar Abstand hielt. Um den Verfolger abzuschütteln, mied Simon den direkten Weg in das christliche Viertel, wo sein Freund wohnte. Die Jerusalemer Altstadt war unterteilt in ein muslimisches, ein christliches, ein armenisches und ein jüdisches Viertel und von einer Steinmauer mit acht riesigen Toren umgeben. Das einzige Tor, das direkt auf den Tempelberg führte, war seit mehr als fünf Jahrhunderten zugemauert. Nicht-Muslime durften den heiligen Bezirk nur über eine hölzerne Brücke betreten, die derzeit renoviert wurde.

    Den Kopf voller Fragen, tauchte Simon in den Souk ein, der seine Sinne mit Farben, Gerüchen und Klängen bezauberte. Einer Beduinenfrau, die in einer Wolke aus arabischer Musik und duftenden Gewürzen hockte, kaufte er drei Granatäpfel ab. Er musste seinen Kater und den üblen Nachgeschmack des Whiskys bekämpfen. Er brach eine Frucht mit den Fingern auf, ließ einige der leuchtend roten Samen herausspringen und biss auf die saftigen Kerne, die auf seiner Zunge zerplatzten. Eine Dosis Vitamin C würde ihm helfen, seine Gedanken zu ordnen.

    Er fand die steile Gasse wieder, die zu Markus’ Haus führte. Sein Freund wohnte im zweiten Stock eines kleinen Steinhauses, an das hinten ein gepflasterter Hof angrenzte.

    Simon klopfte an Markus’ Wohnungstür. Sie war offen, das Schloss aufgebrochen. Er stieß die Tür auf und sah das verwüstete Zimmer. Die Möbel waren umgestoßen, das Sofa aufgeschlitzt, Bücher lagen, vermischt mit dem Inhalt der Schubladen, über den ganzen Boden verstreut. Simon überzeugte sich rasch, dass Markus nicht in irgendeiner Ecke der kleinen Zweizimmerwohnung lag. Vergeblich rief er nach seinem Freund und bemerkte erst dann, dass dessen Reisetasche und Toilettensachen fehlten.

    Unter den auf dem Parkett verstreuten Papieren entdeckte er eine Buchungsbestätigung der Lufthansa. Markus hatte den Morgenflug nach Berlin genommen. Simon steckte den Zettel ein und bemerkte plötzlich, dass er beobachtet wurde. Eine dicke Frau in Kittelschürze und Pantoffeln stand auf der Türschwelle, vor Schreck legte sie die Hände über den Mund. Er ging auf die Nachbarin zu, die weglief und um Hilfe schrie.

    Er sah zwei Möglichkeiten. Entweder er wartete auf die Bullen, verstrickte sich in erneute Rechtfertigungen und riskierte, in Hauptmann Zivs Augen endgültig als Unruhestifter dazustehen. Oder er machte sich so schnell wie möglich aus dem Staub, um mit etwas Abstand die Abfolge unerklärlicher Ereignisse zu betrachten, mit denen er es zu tun bekam, seit er israelischen Boden betreten hatte.

    Simon schnappte sich seinen aufgerissenen Rucksack, überprüfte, ob sich sein libanesischer Pass, seine Travellerschecks und sein Flugticket immer noch unter dem Bodenfutter befanden, raffte hastig seine überall verteilten Sachen zusammen und warf einen Blick in den Hausflur. Die Nachbarin hatte sich Verstärkung geholt, in Gestalt eines breitschultrigen jungen Mannes und eines Alten, der sicher schon viele Kriege hinter sich hatte. Simon trat den Rückzug an und steckte den Kopf aus dem Fenster. Zu hoch zum Springen. Zwei Männer in hellen Anzügen sahen zu ihm hoch. Als sie ihn bemerkten, eilten sie über den Hof und ins Haus. Simon verließ die Wohnung und stieß gegen den jungen Stämmigen, der ihn auf Hebräisch ansprach.

    »Wo ist Markus?«, fragte Simon ihn.

    »Du, bleib stehen!«, befahl der Alte hinter dem Rücken des Jungen hervor.

    Simon blickte nach links. Schritte im Treppenhaus kündigten das Erscheinen der beiden Männer im hellen Anzug an. Er musste schnell denken, noch schneller handeln. Er wich zurück, schlug die Tür zu, warf seinen Rucksack in den Hof. Die Nachbarn drückten die Tür auf und stürzten in Richtung des geöffneten Fensters. Einer zeigte auf den Rucksack. Hinter ihnen schlüpfte Simon hinter der Tür hervor, floh in den Flur und stieg zum dritten Stock hoch. Dort gab es eine Dachterrasse, Markus hatte ihn einmal mit dort hinaufgenommen, um ihm den Ausblick auf die Kuppeln der Grabeskirche zu zeigen. Simon kletterte über die Brüstung, landete krachend auf dem Ziegeldach darunter, sprang auf einen Mauerbogen, der die Gasse überbrückte, und hielt sich an den Kabeln fest, die über der Mauer verlegt waren. Er schwang sich an der elektrischen Liane hinunter, landete auf einer mit Einkäufen beladenen Frau, rappelte sich, auf einer Obst- und Gemüsekaskade ausrutschend, hoch, hastete zu seinem Rucksack und verschwand unter den lauten Beschimpfungen der Hausfrau.

    4

    Simon rannte durch labyrinthische, von Buden gesäumte Gassen, in denen eine bunt gemischte, aus allen vier Ecken der Welt stammende Menschenmenge auf den Beinen war. Er lief unter einer Arkade hindurch und gelangte auf einen quadratischen Platz, auf dem sich entschieden zu viele Menschen befanden.

    Hinten stand die Grabeskirche.

    Er tauchte in die Menge ein und mischte sich unter eine Pilgergruppe, die in dieselbe Richtung unterwegs war wie er selbst, trennte sich von ihr direkt am Kircheneingang, stieg über einen Bettler und verschwand durch einen im Vergleich zu den Proportionen des Gebäudes erstaunlich schmalen Durchgang im südlichen Querschiff. Nachdem er sich versichert hatte, dass niemand ihm folgte, bog er nach links ab, in Richtung der Rotunde.

    Über der Rotunde wölbte sich die größte der beiden Kuppeln. In ihrer Mitte stand eine Ädikula, eine Art massiver Sarkophag, in dem sich das Grab Jesu befand.

    In diesem Heiligtum des Glaubens und der Hoffnung fühlte Simon sich in Sicherheit. Er hatte auf mythischem Boden Zuflucht gefunden, im Allerheiligsten der gesamten Christenheit. Die übergroße Kirche barg sowohl Golgatha, die Kreuzigungsstätte, als auch Jesu Grab. Auf den Steinen des Heiligen Grabes waren die letzten Stationen des Leidens Christi dargestellt: Kreuzigung, Grablegung und Auferstehung. Das christliche Flämmchen, das in der riesigen Leere, die Simon mit Mühe in seinem Inneren geschaffen hatte, nur noch müde flackerte, flammte wieder auf. Der Instinkt hatte ihn in diese Kirche geführt, weil Markus mit ihr besonders verbunden war. Sechs religiöse Gemeinschaften teilten sich diesen heiligen Ort. Zu welcher gehörte Markus, zu den armenischen Apostolikern, den römischen Katholiken, den Kopten, den griechischen, äthiopischen oder syrischen Orthodoxen?

    Simon machte sich auf die Suche nach dem Vertreter einer Glaubensgemeinschaft, der seinen Freund kennen konnte. Aus der koptischen Kapelle kehrte er unverrichteter Dinge zurück, hatte aber bei den Syrisch-Orthodoxen hinter der Rotunde mehr Glück. Ein Priester war dort mit dem Sortieren der Gebetbücher beschäftigt. Simon sprach ihn an und beschrieb Markus: älter als er selbst, groß, kräftig, gesprächig, schwarzer Bart und schwarzes Haar, rechte Hand halb verbrannt.

    Zwar erklärte Vater Clemens ihm zunächst, seine Glaubensgemeinschaft zähle weltweit zweieinhalb Millionen Gläubige, wie solle er da die Namen und Gesichter aller seiner Schäfchen im Kopf behalten?

    »Aber Markus ist ein sehr auffälliges Schaf, das in Jerusalem wohnt«, brachte Simon vor, der die Späße seines Freundes nicht vergessen hatte.

    »Und deshalb erinnere ich mich auch an ihn.«

    »Also kennen Sie ihn!«

    »Ich sagte, ich erinnere mich an ihn. Das heißt nicht, dass ich ihn kenne.«

    »Was wissen Sie über ihn?«, fragte Simon ungeduldig.

    »Einmal hat Markus sich mit einem Araber angelegt, der in unserer Kapelle randalierte. So habe ich ihn kennengelernt. Ein charismatischer und impulsiver Mann. Unberechenbar. Mal kommt er regelmäßig zum Sonntagsgottesdienst, dann wieder ist er für mehrere Monate verschwunden. Ich habe ihn seit drei Wochen nicht gesehen.«

    »Wo kann man ihn finden, wenn er ›verschwindet‹?«

    »Das habe ich mich auch schon gefragt.«

    »Und haben Sie eine Antwort gefunden?«

    »Merkwürdig, dass Sie nicht mehr über ihn wissen, wo Sie doch befreundet sind.«

    »Wir kennen uns erst seit einer Woche. Markus hatte noch keine Zeit, mir sein ganzes Leben zu erzählen. Aber ich mache mir Sorgen, weil er so plötzlich verschwunden ist. Gestern Abend war ich noch mit ihm zusammen.«

    »Hören Sie mal, Herr …?«

    »Simon Lange.«

    »Ich weiß nicht«, der Priester zögerte. »Markus ist ein Dickschädel, er macht sich viele Feinde. Zu seiner Sicherheit will ich lieber nicht zu viel sagen.«

    »Sie verstehen mich nicht. Ich suche ihn, um ihm zu helfen.«

    »Sie sollten es in Berlin versuchen.«

    Simon dachte an die Buchungsbestätigung der Lufthansa, die er in Markus’ Wohnung gefunden hatte. Er war auf der richtigen Fährte.

    »Das liegt nicht gerade um die Ecke«, sagte er.

    »Wie Sie sicher wissen, stammt Markus aus Deutschland. Einen Teil des Jahres wohnt er in Berlin. Deshalb glaube ich, dass er nach Berlin gereist ist, wenn er jetzt plötzlich verschwunden ist; wie immer, wenn er sich Feinde gemacht hat.«

    »Berlin ist groß.«

    »Ich fürchte, jetzt begehe ich eine große Dummheit.«

    »Das tun Sie eher, wenn Sie mir nicht helfen.«

    »Ich habe keine Ahnung, wo er in Deutschland wohnt, aber …«

    »Aber?«

    »Er hält sich nicht nur in Kirchen auf. Er geht auch gerne in Bars …«

    »Allerdings!«

    »Einmal hat er mir gegenüber ein Lokal namens White Trash erwähnt.«

    5

    Simon tauchte im Labyrinth der Gassen des alten Jerusalem unter, um die Männer, die sich an seine Fersen geheftet hatten, abzuschütteln. Nach einigen Irrwegen kam er zu dem Schluss, dass er den Grauhaarigen und die beiden im hellen Anzug losgeworden war. Sein Besuch in der Grabeskirche hatte ihn gerettet. Beruhigt verließ er die Altstadt durch das Damaskustor, bog in eine weniger belebte Hauptverkehrsstraße von Westjerusalem ein und machte sich auf die Suche nach einem Hotel für seine letzte Nacht in Israel.

    Das Quietschen von Reifen ließ ihn zusammenschrecken.

    Er fuhr herum, heiße Luft blies ihm entgegen, und er klebte mit den Knien an der Stoßstange einer deutschen Limousine, die auf dem Bürgersteig nichts zu suchen hatte. Zwei Türen schwangen auf, die beiden Anzugträger sprangen heraus, packten ihn unter den Achseln und warfen ihn auf den Rücksitz. Sie setzten sich links und rechts neben ihn, während der Fahrer die Reifen erneut aufkreischen ließ.

    Simon leistete keinerlei Widerstand, denn er wollte diese Geschichte endlich abschließen und Klarheit in die Sache bringen. Schließlich hatte er sich nichts vorzuwerfen. »Was wollen Sie von mir?«, war daher seine erste Frage.

    Die Antwort folgte postwendend, in Form eines Handrückenschlags durch einen der beiden Anzugträger.

    »Wir stellen hier die Fragen«, sagte sein Kollege, »nicht du.«

    »Wer … du … bist?«, stammelte der andere.

    Wieder kreischten die Reifen. Simon fiel gegen den Schläger, der automatisch erneut ausholte.

    »Wer du bist?«, fragte er.

    »Simon Lange.«

    Noch eine Ohrfeige. Neues Kreischen. Bei diesem Tempo würden weder Simon noch die Reifen das Rennen überstehen.

    »Aber so heiße ich!«

    »Letzte Nacht hast du was gemacht, das hättest du nicht machen dürfen«, sagte der Entführer zu seiner Rechten, der die Fremdsprache etwas besser beherrschte und daher redseliger war.

    »Warum, ist Trinken in Israel verboten?«

    Wieder ein Schlag, noch heftiger. Simon spürte einen Siegelring an seinen Schneidezähnen. Blut lief ihm in den Mund. Er musste seine Worte abwägen. Ein paar Zugeständnisse machen, damit die Typen sich beruhigten.

    »Fragen Sie Markus, ich kann mich an nichts erinnern.«

    »Wo ist Markus?«

    Sie kannten ihn also, denn sie hatten »Wo« gefragt, nicht »Wer«.

    »Ich suche ihn auch. Lasst mich ihn finden, dann kann ich auch eure Fragen beantworten.«

    Ein plötzlicher

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