Spiritualität - moralische Werte - kulturelle Ressourcen: Worin besteht religiöse Erziehung heute?
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Über dieses E-Book
Wie sich vor allem an der Flüchtlings- und Asyldebatte deutlich zeigt, bilden religiöse Überzeugungen nicht etwa ein die Menschen Verbindendes, sondern etwas, das sie voneinander trennt, ja angesichts des Fremden sogar in Angst und Schrecken versetzt.
Andererseits haben praktisch alle Religionen nur ein Ziel, nämlich die Überwindung des Egoismus und die liebevolle Zuwendung zum anderen Menschen. Welche Rolle aber spielt bei diesem Thema der Mitmenschlichkeit die Religion? Oder anders gefragt: Was hat die Hinwendung zum Mitmenschen mit dem Göttlichen zu tun? Oder noch anders gefragt: Lebt nicht in jedem Menschen etwas vom Göttlichen? Worin aber bestünde dieses und wie ließe es sich finden? Und pädagogisch gefragt: Wie kann Erziehung heute, unter Umständen jenseits aller traditionellen religiösen Bindungen, auf dieses Göttliche aufmerksam machen bzw. eine Empfindsamkeit dafür entwickeln helfen?
Das sind die Fragen, die in diesem Band, der die Vorträge und Seminarinhalte des BildungsKongresses 2019 wiedergibt, beantwortet werden.
Inhaltsverzeichnis:
Andreas Neider: Einführung des Herausgebers
Elisabeth von Kügelgen: »Das Religiöse ist dem Menschen angeboren«. Was bedeutet das für die Erziehung heute?
Albert Schmelzer: Die Weltreligionen – Ursache von Konflikten oder Quelle des Friedens?
Johannes Greiner: Von den Weltreligionen zur Menschheits-Erden-Religion
Corina Gleide: Beziehung mit dem Engel
Stefan Grosse: Wie finden wir das Göttliche im anderen Menschen?
Michaela Glöckler: Religiosität und Virtualität – welchen Einfluss haben die Medien auf die religiöse Suche in Kindheit und Jugend?
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Buchvorschau
Spiritualität - moralische Werte - kulturelle Ressourcen - Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen e.V.
Inhalt
ANDREAS NEIDER
Einführung des Herausgebers
ELISABETH VON KÜGELGEN
»Das Religiöse ist dem Menschen angeboren«. Was bedeutet das für die Erziehung heute?
ALBERT SCHMELZER
Die Weltreligionen – Ursache von Konflikten oder Quelle des Friedens?
JOHANNES GREINER
Von den Weltreligionen zur Menschheits-Erden-Religion
CORINNA GLEIDE
Beziehung mit dem Engel
STEFAN GROSSE
Wie finden wir das Göttliche im anderen Menschen?
MICHAELA GLÖCKLER
Religiosität und Virtualität – welchen Einfluss haben die Medien auf die religiöse Suche in Kindheit und Jugend?
Über die Autoren
Einführung des Herausgebers
Unser heutiges Dasein, und das trifft inzwischen praktisch für die ganze Menschheit zu, ist geprägt durch die Digitalisierung. Was heißt das? Ich möchte mich, um auf unser Thema, unser Verhältnis und das unserer Kinder zum Religiösen, hinzublicken, eines Ausdruckes bedienen, den der bekannte Soziologe Hartmut Rosa in seinem jüngsten Werk »Verfügbarkeit« nennt.¹ Durch die Digitalisierung macht sich der Mensch die ganze Welt verfügbar. Sie können das am besten studieren, wenn sie sich einen der Hauptantreiber und Pioniere der Digitalisierung, nämlich die Konsumplattform amazon ansehen und benutzen. Dabei bemerken Sie sehr schnell, was durch die Digitalisierung geschieht: Sie machen sich die Welt, in diesem Falle die Welt der Konsumgüter verfügbar. Es gibt bei amazon nichts, was Sie sich nicht verfügbar machen könnten. Und indem Sie was auch immer bestellen, lassen Sie die Menschen, zumeist in China, das entsprechende Produkt herstellen, lassen Sie die Transportunternehmen für sich arbeiten, um die Ware am Ende zu retournieren, was erneute Transportarbeiten notwendig macht.
Diese Verfügbarkeit der Welt, die ja auch auf das soziale Leben übergegriffen hat, indem durch die sozialen Netzwerke die Menschen untereinander verfügbar werden, abgesehen von all den Daten, die dabei erzeugt und damit für die Internetunternehmen alias Facebook & Co. verfügbar gemacht werden, hat aber einen sehr hohen Preis, auf den eben Hartmut Rosa hinweist: Alles, was wir uns verfügbar machen und damit unserem Zugriff, unserer Macht und letztlich sogar unserer Kontrolle unterwerfen, hört auf, zu uns zu sprechen. Die Welt verstummt, indem wir sie uns verfügbar machen, sie erzeugt keine Resonanz mehr. Denn Resonanz bedeutet, dass wir zu etwas in Beziehung treten, über das wir nicht verfügen können. Rosa nennt diesen Bereich des Lebens den Bereich der Unverfügbarkeit.
Und damit wären wir bei unserem Thema angelangt. Denn alles Religiöse, ob wir es nun als Gott betrachten, als göttlich oder wie auch immer wir es benennen mögen, ist dadurch gekennzeichnet, dass es eben unverfügbar ist. Am deutlichsten wird das bei unserem Verhältnis zur Natur. Denn sobald wir uns die Natur verfügbar machen, und in der Regel bedeutet das, das wir sie dadurch zerstören, hört die Natur auf, in uns Resonanz zu erzeugen, sie verstummt. Rachel Carson hat ihr berühmtes Pionierwerk der Ökologie daher nicht umsonst Der stumme Frühling genannt.² Denn anhand der Zerstörungen, die die industrialisierte Landwirtschaft mit sich brachte, wurde deutlich, dass dadurch die Natur, in diesem Falle die Vögel, tatsächlich verstummen, das heißt, sterben.
Unverfügbarkeit aber heißt nicht, dass uns die Natur und eben auch das Göttliche, das Religiöse vollkommen unzugänglich wären. Nein, wir können das Unverfügbare, anstatt es verfügbar zu machen, auch erreichbar werden lassen. Unser Verhältnis zum Göttlichen und damit zum Religiösen besteht deshalb hauptsächlich darin, das Unverfügbare erreichbar werden zu lassen. Und das zeigt sich schon an den einfachsten Phänomenen unseres Lebens. Denn auch in unserem eigenen Leben, in unserer Biographie zeigt sich Vieles, das unverfügbar ist. Alles das, was wir das Schicksal nennen, das auf uns zukommt, auf welchen Wegen wissen wir oft nicht, das uns einfach so geschieht, das ist weder verfügbar noch berechenbar noch steuerbar, es geschieht eben einfach. Auch ohne dabei von einer göttlichen Führung zu sprechen, können wir daran jedoch erleben, was Unverfügbarkeit bedeutet. Rudolf Steiner hat in einer kleinen Schrift auf diese Wege, die das Unverfügbare im Leben des Menschen geht, aufmerksam gemacht.³ Denn oft bemerken wir gar nicht, wie wir, wie von unsichtbarer Hand geleitet, Menschen begegnen, die wir scheinbar nicht kannten, und die dann für uns von enormer Bedeutung werden. Erst später können wir im Rückblick erkennen, dass wir bei solchen schicksalhaften Begegnungen tatsächlich von einer höheren Weisheit geführt wurden und dass der menschlichen Begegnung im Hinblick auf das Religiöse damit eine besondere Bedeutung zukommt.
Zum Religiösen entwickeln wir also gerade dadurch eine Beziehung, dass wir die Welt nicht prinzipiell für verfügbar, das heißt heute vor allem, für digitalisierbar halten, sondern dass wir mit dem Unverfügbaren lernen, in richtiger Weise umzugehen, das heißt, es erreichbar werden zu lassen.
Damit kommen wir auch zu der pädagogischen Fragestellung, die uns in diesem Kongressband beschäftigen wird, nämlich: Wie bringen wir Kindern die Unverfügbarkeit der Welt so nahe, dass diese für sie erreichbar wird? Da fallen einem natürlich Dinge ein wie Staunen oder Ehrfurcht oder Andacht – Worte, die heute im Vokabular vieler Pädagogen gar nicht mehr vorkommen. Vor allem bedeutet das auch, anderen Menschen gegenüber ein solches Verhältnis der Erreichbarkeit zu entwickeln, der Resonanz und der Anerkennung, dass ich über den anderen nicht verfügen kann. Und für den Pädagogen bezieht sich das natürlich auch auf das Verhältnis, das er oder sie sich selbst gegenüber einnimmt. Denn in uns selbst gibt es einen Bereich, der unverfügbar ist, der sich uns entzieht, zu dem wir aber ein Verhältnis der Resonanz entwickeln können, um diesen »höheren« Bereich des eigenen Wesens erreichbar machen zu können.
Die Beiträge dieses Kongressbuches, in dem Vorträge und Seminarinhalte des BildungsKongresses 2019 wiedergegeben werden, möchten eine solche Resonanzfähigkeit gegenüber dem Göttlichen, dem Bereich des Religiösen anregen. Dabei geht Elisabeth von Kügelgen von der Aussage Rudolf Steiners, die Religiosität sei dem Kinde angeboren, aus und verfolgt dabei die Frage nach dem, was unabhängig von einzelnen Konfessionen mit dieser allgemein menschlichen Religiosität gemeint sein kann. Albert Schmelzer stellt demgegenüber die Weltreligionen in ihrer je eigenen Charakteristik vor und fragt nach dem, was in diesen Religionen das Verbindende, eben das Allgemeinmenschliche ausmacht, womit zugleich auch die Frieden stiftende Dimension der Weltreligionen gemeint ist. Johannes Greiner greift diesen Gedanken auf, indem er die unterschiedlichen Qualitäten der Weltreligionen mit den Qualitäten der Planeten in Beziehung setzt. Danach geht es ihm um die Frage nach der Würde der menschlichen Begegnung und wie diese im Alltag realisiert werden kann. An diese Frage schließen die Beiträge von Corinna Gleide mit Übungen zur Erfahrung des eigenen Engels und Stefan Grosse mit biografischen Beispielen zur Dimension des Religiösen in der menschlichen Begegnung an. Michaela Glöckler bildet den Abschluss mit einer Betrachtung zum menschlichen Ich und seiner Beziehung zur Religiosität und stellt die Gefährdungen der Ich-Entwicklung in Kindheit und Jugend durch digitale Medien dar.
Mögen die Beiträge dieses Kongressbandes für die vertiefte Beschäftigung mit dem Bereich des Religiösen zahlreiche Anregungen bieten, durch die wir das Unverfügbare als für uns erreichbar erleben können.
Andreas Neider, Herbstbeginn 2019
1 Vgl. Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Wien 2018.
2 Rachel Carson, Der stumme Frühling, München 2019
3 Vgl. dazu Rudolf Steiner, Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, Dornach 1987
ELISABETH VON KÜGELGEN
»Das Religiöse
ist dem Menschen angeboren«
Was bedeutet das für die Erziehung heute?
Diesem Beitrag ist die Äußerung Rudolf Steiners vorangestellt: »Das Religiöse ist dem Menschen angeboren.« Das klingt nach einer kühnen Behauptung! Ich möchte zunächst den Zusammenhang nennen, aus dem diese Aussage stammt, und sie dann genauer erläutern.
Während einer Vortragsreihe über Pädagogik in der Schweiz wurde Rudolf Steiner in einer Aussprache nach religiöser Erziehung gefragt und auch, warum er für alle nicht konfessionell gebundenen Schüler der Freien Waldorfschule einen sogenannten »freien Religionsunterricht« eingerichtet habe und nicht Ethik. Steiner schildert daraufhin die Methodik für einen Religionsunterricht auf rein menschenkundlicher Grundlage und bemerkt dazu: »Wir müssen uns klar sein, dass wirklich das religiöse Element dem Menschen angeboren ist, zur Menschennatur gehört.« Und eine Anlage, die wir als Menschen mit in die Welt bringen, muss – und das ist Erziehung – altersstufengemäß aufgegriffen, gepflegt und zur Fähigkeit gebildet werden. Denn »das weglassen zu wollen, was zum Menschen gehört, das kann entspringen einem Fanatismus, aber niemals einer Pädagogik.«⁴
Ethik beschreibt moralisches Verhalten, was wir das Gute, das Wahre, die Grundideale des Menschseins nennen. Ethik beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen und kulturellen Werten, Konventionen oder Verabredungen – was ja nichts Negatives ist. Blicken wir so auf die Ideale unseres menschlichen Zusammenlebens, fehlt aber etwas Wesentliches: Dass diese »Werte« geistige Realitäten sind, wesenhafte Kräfte, mit denen wir uns verbinden können. Wenn ethische Ideale nur auf menschengemachter Übereinkunft beruhten, hätten sie Bedeutung nur in der physischen Welt, es fehlte ihnen die im Geistig-Göttlichen gründende Verbindlichkeit. »Die göttlich-geistigen Wesen sind es, die diesen ethischen Impulsen, diesen sittlichen Kräften Realität geben. (...) Aber indem er (der Mensch) nicht mehr aufschauen kann zu der lebendig-göttlichen Geistigkeit, die den sittlichen Impulsen ihre Realität gibt", ersterben diese Kräfte in Dogmen, Traditionen, Gewohnheiten und ihre Bedeutung endet mit dem Tod des Menschen.⁵
Das, was wir als Religiosität, als Moralität, als Gewissensbildung in uns tragen, was wir empfinden, wenn wir einem anderen Wesen gegenübertreten, einem Menschen, einem Tier, einer Pflanze, ruht tief in unserem (unbewussten) Willenswesen. Das müssen wir pflegen – und beim Kinde sicher nicht über den Verstand. Psychologen sagen z. B.: Das, was eine gewisse Tötungs- oder Aggressionshemmung im Menschen ist, ist fertig ausgebildet mit dem 9., 10. Lebensjahr. Das ist keine Frage der Intelligenz. Und insofern verwundert es auch nicht, wenn Rudolf Steiner darauf hinweist, dass in allem Unterricht immer »der ganze Mensch«, sein Denken, Fühlen und Wollen angesprochen und ergriffen werden soll. Steiners kürzeste Definition von Erziehung und Unterricht gibt er bei der Eröffnung der Waldorfschule 1919 vor 100 Jahren: »Lebendig werdende Wissenschaft! Lebendig werdende Kunst! Lebendig werdende Religion! Das ist schließlich Erziehung, das ist schließlich Unterricht!«⁶; also in lebendiger Weise das Denken, Fühlen und Wollen im Menschen anzuregen. Dass wir dem Denken das wissenschaftliche Element, dem Künstlerisch-Kreativen das Fühlen zuordnen, leuchtet meist spontan ein – aber das Lebendig-Religiöse dem Willensmenschen?
Unser Wille ist tätig, wo wir handeln, und wo ganz tief in uns verankert das Bedürfnis nach Beziehung lebt, der Impuls, Beziehung aufzunehmen zu anderen Menschen, zur Welt um uns. Noch schlafend für das Bewusstsein, lebt unser Ich in uns. Es ist willenshafter Natur, der Impulsgeber in uns. Beim Kinde wird immer der ganze Leib mitgenommen, es ist immer in Bewegung. Diese geistige Wesenheit erwacht erst langsam zu ihrem irdischen Ich-Bewusstsein. Erwacht ist wörtlich zu nehmen: denn der Säugling, der geboren wird, ist selbstverständlich eine Individualität.