Venedig ist ein Fisch
Von Tiziano Scarpa
4.5/5
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Über dieses E-Book
Tiziano Scarpa lädt uns ein, diesen Wunderfisch mit allen Sinnen zu entdecken – deshalb schreibt er nicht über Venedig, sondern darüber was mit uns in Venedig passiert. Die Kapitel lauten: Füße, Beine, Herz, Gesicht, Ohren, Mund, Nase, Augen. Wir erfahren, warum man sich in Venedig unbedingt verirren sollte, weshalb die Stadt als Kulisse für Liebeserklärungen ungeeignet ist und wieso Venedigs Schönheit hochgradig gesundheitsgefährdend ist.
Scarpa wirft viel vom Bildungsballast, der auf Venedig lastet, ins Meer und sorgt dafür, dass man über diesen wunderlichen Venedig-Fisch auf ganz neue Art ins Staunen gerät.
Tiziano Scarpa
Tiziano Scarpa was born in Venice in 1963. He is a poet, novelist, playwright and essayist. He has written a number of acclaimed novels including Eyes On the Broiler and Western Kamikaze. Serpent's Tail have published his 'cultural guide to Venice', Venice is a Fish. His radio play Pop Corn received international critical acclaim and was aired by the BBC and other European radio stations. He regularly speaks at creative writing conferences and writes for Italian national newspapers. In 1997 he won the 49th Italia Prize for his writing. Stabat Mater won the 2009 Strega Prize, the Italian equivalent of the Booker. He lives in Venice.
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Rezensionen für Venedig ist ein Fisch
3 Bewertungen3 Rezensionen
- Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5An excellent way to revisit the city of the mind. On the surface, it looks like a smallish rip-off, but the contents are brilliantly illuminating. Both personal and universal at the same time, and a great read.
- Bewertung: 4 von 5 Sternen4/5This is no ordinary guidebook. If you think that everything that could be written about Venice has already been written, then this book will pleasantly surprise you. Scarpa takes you through his hometown using all his senses and focuses on the mundane instead of the touristy. Perhaps he purposely shuns Venice's surface beauty to avoid Stendahl's syndrome, an affliction that Venetians are particularly subject to. The book is short, but very well written. It made me want to revisit one of my favorite cities and attempt to experience it as Scarpa did.
- Bewertung: 5 von 5 Sternen5/5Tiziano Scarpa's "Venice Is a Fish: A Sensual Guide" provides a unique, almost magical, means of exploring the canals and alleyways of Venice. Be warned, this is not another guidebook that will lead you on a shopping excursion from Piazza San Marco to the Rialto Bridge, but instead Scarpa's volume is almost a book of spells that will enchant you and subsequently haunt you. Scarpa grew up in Venice and the ghosts of his past flicker in and out of our view as he leads us through the labyrinth of stories that is Venezia. We embody the feet, legs, hearts, hands, faces, ears, mouths, noses, and eyes of those who have come before us. Their senses conjured by Scarpa summon us to a dance of time. We meet Casanova and Vivaldi, Titian and Veronese, Ruskin and Maupassant. Scarpa reminds us that for centuries each viewpoint in Venice has been recorded in verse, paint, and song. The weight of beauty as much as the high water (alte acqua) threatens to sink this illustrious city. Scarpa's splendid volume acts as a literary life raft to lift us and carry us through the Venice of memory, dreams, and decay.
Buchvorschau
Venedig ist ein Fisch - Tiziano Scarpa
E-Book-Ausgabe 2019
© 2019 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie © Feltrinelli.
Das Karnickel zeichnete Horst Rudolph.
Die Photos stammen mit freundlicher Genehmigung von:
A. Riedmiller/Das Fotoarchiv, G. Molinari, M. Arzt, H. Arzt, S. Lubenow, G. Oberzill, G. Berengo Gardin, T. Henning, S. Wesche, J. Junker.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.
ISBN: 9783803142696
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 2433 3
www.wagenbach.de
Venedig ist ein Fisch. Schau es dir auf einer Landkarte an. Es ähnelt einer riesigen Seezunge, die platt auf dem Grund liegt. Wieso ist dieses Wundertier die Adria hinaufgeschwommen und hat sich ausgerechnet hier verkrochen? Es hätte ja noch ein wenig umherstreifen können, um mal hier, mal da einen Abstecher zu machen, ganz nach Lust und Laune. Reisen, durch die Gegend ziehen, sich die Zeit vertreiben, so wie es das immer gern getan hat: dieses Wochenende in Dalmatien, übermorgen in Istanbul, nächsten Sommer in Zypern. Wenn es nun hier vor Anker gegangen ist, so muß es dafür einen Grund geben. Die Lachse reiben sich die Bäuche auf, wenn sie gegen den Strom schwimmen, erklimmen Wasserfälle für ihr Liebesspiel in den Bergen. Wale, Sirenen und Galionsfiguren, alle sterben sie im Sargassomeer.
Die anderen Bücher würden lächeln über das, was ich dir da erzähle. Sie berichten von der Entstehung der Stadt aus dem Nichts, dem glänzenden Aufstieg zur Handels- und Militärmacht, dem Niedergang: Märchen. So ist es nicht, glaub mir. Venedig hat es schon immer in der Form gegeben, die du siehst, oder fast. Seit Anbeginn der Zeiten schwimmt es herum; in allen Häfen hat es Station gemacht, kennt alle Flüsse, alle Quais und Molen. An seinen Schuppen blieben orientalische Perlen haften, durchsichtiger phönizischer Sand, griechische Mollusken, byzantinische Algen. Eines Tages spürte es jedoch die Last jener Splitter und Körnchen, die es so nach und nach auf der Haut angesammelt hatte; es bemerkte, welche Kruste es mit sich herumschleppte. Seine Flossen wurden zu schwer, um sich durch die Strömung zu schlängeln. Daher beschloß es, ein für alle Mal in eine der Buchten weiter oben am Mittelmeer hinaufzuschwimmen, in die ruhigste, die entlegenste, und sich dort auszuruhen.
Auf der Landkarte gleicht die Brücke, die es mit dem Festland verbindet, einer Angelschnur: es sieht aus, als hätte Venedig angebissen. Es hängt an einer doppelten Schnur: einem Stahlgleis und einem Asphaltband; doch das kam später, erst vor hundert Jahren. Wir bekamen nämlich Angst, Venedig könne es sich eines Tages anders überlegen und weiterziehen; und so haben wir es in der Lagune festgebunden, damit ihm nicht plötzlich einfiele, den Anker zu lichten und in die Ferne zu driften, und zwar für immer. Den anderen sagen wir, es sei zum Schutze Venedigs geschehen, denn nach all den Jahren vor Anker hat es das Schwimmen verlernt: es würde sofort gefangen werden, auf irgendeinem japanischen Walfangboot landen und in einem Aquarium in Disneyland gezeigt werden. In Wahrheit aber kommen wir nicht mehr ohne Venedig aus. Wir sind eifersüchtig. Auch sadistisch und grausam, wie alle, die das Liebste bei sich behalten wollen. Wir haben noch Schlimmeres getan, als es ans Festland anzubinden: wir haben es buchstäblich am Grund festgenagelt.
In einem Roman von Bohumil Hrabal gibt es ein Kind, das von Nägeln besessen ist. Es schlägt sie nur in Fußböden ein: zu Hause, im Hotel, bei Gästen. Alle Parkettböden, die ihm unter die Finger geraten, werden von morgens bis abends behämmert. Als wolle das Kind die Häuser am Boden befestigen, um sich sicherer zu fühlen. Mit Venedig ist es genauso, nur sind die Nägel nicht aus Eisen, sondern aus Holz, und sie sind riesig, zwei bis zehn Meter lang und haben einen Durchmesser von zwanzig, dreißig Zentimetern. Sie wurden in den Schlamm auf dem Meeresboden gerammt.
Die Paläste, die du siehst, die Marmorarchitektur, die Backsteinhäuser, sie alle konnte man nicht auf Wasser errichten, sie wären im Schlick versunken. Wie aber erbaut man ein solides Fundament auf Schlamm? Die Venezianer rammten -zigtausend, -zig Millionen Pfähle in den Boden. Unter der Basilica della Salute sind es mindestens hunderttausend; auch zu Füßen der Rialtobrücke, denn sie müssen dem Druck des steinernen Bogens standhalten. Die Basilica von San Marco ruht auf einem Gitter aus Eichenholz, das von einem Pfahlwerk aus Ulmenholz getragen wird. Die Stämme besorgte man sich in den Wäldern von Cadore, in den venetischen Alpen. Man brachte sie bis zur Lagune und ließ sie dazu auf den Flüssen treiben, auf dem Piave. Es sind Lärchen, Ulmen, Erlen, Eichen, Kiefern, Stieleichen. Die Serenissima war sehr umsichtig; immer hatte sie ein Auge auf dieses hölzerne Vermögen; äußerst strenge Gesetze schützten die Wälder.
Kopfüber wurden die Bäume mit einer Art Amboß, der an einem Flaschenzug hing, in den Boden gerammt. Ich habe sie noch gesehen, als Kind, habe die Lieder der Pfahlbauer gehört, die langsamen und gewichtigen Taktschläge jener in der Luft hängenden, zylinderförmigen Hämmer, die auf vertikalen Schienen hin und her glitten, langsam hinauffuhren und dann wie der Blitz herabsausten. Daß die Stämme versteinerten, bewirkte eben jener Schlamm, der sie mit seiner Schutzschicht umgeben und so verhindert hat, daß sie beim Kontakt mit Sauerstoff verfaulten. Nach Jahrhunderten im luftleeren Raum, hat sich das Holz beinahe in Stein verwandelt. Du gehst über ausgerottete, umgedrehte Bäume, spazierst über einen beispiellosen, auf dem Kopf stehenden Wald. Was die Erfindung eines mittelmäßigen Science-Fiction-Schriftstellers zu sein scheint, ist tatsächlich wahr. Ich beschreibe dir nun, was mit deinem Körper in Venedig passiert, und fange bei den Füßen an.
Füße
Venedig ist eine Schildkröte: ihr steinerner Panzer besteht aus grauen Trachytblöcken (maségni, wie die Venezianer sagen), mit denen die Straßen gepflastert sind. Die Steine stammen allesamt von außerhalb: fast alles, was man in Venedig sieht, hat Paolo Barbaro