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Gerade ist anders!: Evangelische Karteileiche, römisch-katholischer Priester, schwuler Mann
Gerade ist anders!: Evangelische Karteileiche, römisch-katholischer Priester, schwuler Mann
Gerade ist anders!: Evangelische Karteileiche, römisch-katholischer Priester, schwuler Mann
eBook282 Seiten4 Stunden

Gerade ist anders!: Evangelische Karteileiche, römisch-katholischer Priester, schwuler Mann

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Über dieses E-Book

Erinnerungen an ein bewegtes, nicht immer ganz geradliniges und spannendes Leben, das im Berliner Arbeiterbezirk Wedding begann, seine Fortsetzung in der römisch-katholischen Kirche fand und schließlich in einem Outing mündete, das der Startschuss zu einem neuen, freien Leben als schwuler Mann war. Erzählt wird von der Kindheit des Autors, von seinen Beweggründen, sich als Homosexueller der römisch-katholischen Kirche anzuschließen und sich als Priester ihren Regeln zu unterwerfen. Das Buch bietet eine mal heitere, mal nachdenkliche und zum Teil erotische Rückschau auf den bisherigen Lebensweg eines Mannes, der auf seiner Suche nach Glück und Liebe zwischen den verschiedenen Welten feststeckte und dem es nach fast 20 Jahren gelang, sich von den Fesseln einer Institution zu befreien, die ihm viele Möglichkeiten bot und ihn gleichzeitig zu ihrem Sklaven machte. Der Leser erfährt, wie die Sehnsucht nach tiefer, menschlicher Beziehung den Autor schließlich aufbegehren ließ und ihm die Kraft gab, sich für die Liebe zu entscheiden. Die hier aufgeschriebenen Erinnerungen gewähren auch einen Einblick in das, was das Leben nach der Zeit in der Institution Kirche für den Autor bereithielt, das Suchen nach Perspektiven, das Finden einer neuen Aufgabe in der LGBT-Community und die die Freude und das Leid, die Beziehungen hervorrufen können. Der Autor lässt die Leserinnen und Leser Anteil nehmen an den Höhen und Tiefen seines privaten und beruflichen Werdegangs und scheut sich nicht, seine tiefste Gefühlswelt mit denen zu teilen, die dieses Buch zur Hand nehmen.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum11. Nov. 2019
ISBN9783740702618
Gerade ist anders!: Evangelische Karteileiche, römisch-katholischer Priester, schwuler Mann
Autor

Christian Schultze

Christian Schultze wurde 1967 in Berlin geboren und verbrachte seine gesamte Kindheit und Jugend im damals freien Teil der Stadt. Nach dem Realschulabschluss absolvierte er eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Während dieser Zeit erhielt er Kontakt zum Glauben, konvertierte von der evangelischen zur römisch-katholischen Kirche und entschied sich, nach der Ausbildung Berlin zu verlassen, in Bayern das Abitur nachzuholen und katholische Theologie zu studieren, um Priester werden zu können. Nach dem erfolgreichen Abitur 1992 folgte der Eintritt ins Priesterseminar sowie das Studium der katholischen Theologie, das 1998 mit dem Diplom endete. Die Diakonenweihe erfolgte im Dezember 1998 und die Priesterweihe im Juni 1999. Bis zu seinem Coming-out im Jahre 2007 und der Entlassung aus dem priesterlichen und kirchlichen Dienst war er in verschiedenen Pfarreien als Kaplan beziehungsweise als Pfarradministrator tätig. Die Jahre 2005 und 2006 waren geprägt von dem Wunsch, sich einer Ordensgemeinschaft anzuschließen. Nach der Entlassung durch seinen Bischof folgten zwei Jahre Aufenthalt in der Heimat, bevor Christian Schultze zurück nach Bayern ging, Zugang zur LGBT-Community fand und beruflich für sie tätig war. Seit 2017 ist er mit seinem Partner glücklich verheiratet, freiberuflich als Texter, Autor und Ghostwriter tätig und hat bis jetzt fünf Werke veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    Gerade ist anders! - Christian Schultze

    Ganzes!

    Kapitel 1

    Kindheit und Jugend (1967-1985)

    Familie und so

    Am Beginn dieser Erinnerungen müssen Gedanken an meine Familie stehen, denn sie sind die Grundlage all dessen, was ich später erleben durfte. Den ersten Schrei meines Lebens tat ich am 30. Juli des Jahres 1967. Meine Mutter brachte mich im Rudolf-Virchow-Krankenhaus in Berlin zur Welt und nach ihren Aussagen war ich der kleinste ihrer drei Söhne. Tja, da war ich also, hineingeboren in eine Familie, die in einem typischen Arbeiterbezirk von Berlin wohnte. Die Mutter ungelernte Raumpflegerin in einem Kindergarten, der Vater gelernter Metzger und auf dem Bau als Kranführer tätig. Kein goldener Löffel im Mund, keine allgegenwärtige Nanny und kein großes Vermögen, auf dem man sich hätte getrost ausruhen können. Eine ganz normale Arbeiterfamilie war es, in die ich hineingeboren wurde. Eigentlich hatte sich meine Mutter nach zwei Söhnen ja endlich eine Tochter gewünscht. Als ich dann geboren wurde, sie mich das erste Mal in den Armen hielt und betrachtete, entfuhr ihr nach eigenen Aussagen die Bemerkung: „Oh je, da ist ja schon wieder ein Schniepel (eine wohlwollende Beschreibung für mein bestes Stück) dran. Na gut, dann streichen wir einfach den letzten Buchstaben vom geplanten Namen. So kam ich zu meinem Vornamen Christian, denn eigentlich sollte ich Christiane heißen. Letztlich hat sie ja dann doch eine „Tochter bekommen, denn man bescheinigt mir hin und wieder die Eigenschaften einer Prinzessin. Ein wichtiger Aspekt meines Lebensweges war sicher meine Kindheit und Jugend. Der Mensch wird ja vor allem von den Personen geprägt, die ihn in diesem Zeitraum umgeben. Bei mir waren das meine Mutter, ihre jeweiligen Partner und natürlich meine beiden größeren Brüder. Wenn ich mich an meine Kindheit und Jugend zurückerinnere, habe ich viele Bilder und Situationen vor Augen, die mir zeigen, dass ich von meinem familiären Werdegang berichten sollte, gerade, weil er mich geprägt und zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin.

    Die allererste, ganz bewusste Erinnerung habe ich an meine Oma. Ich sehe sie auf der Couch sitzen und lächeln. In ihrem Mund blitzt ein einziger Zahn, den meine Mutter immer Omas Kuchenzahn nannte. Ansonsten tauchen Bilder anderer Familienmitglieder erst aus späteren Zeiten auf. Das waren vor allem meine beiden Onkels und ihre Familien. Einer war von Beruf Dachdecker und hatte Frau und Kinder, der andere war Kohlenträger und meines Wissens nach mit verschiedenen Frauen liiert, nicht verheiratet und hatte keine Kinder. Zwischen den beiden hatte sich irgendwann ein vollkommen schwachsinniger Wettstreit darüber entwickelt, wer von ihnen denn nun mehr Geld besaß. Jedes Mal, wenn sie sich bei Familienfeiern trafen, dauerte es nicht lange und sie diskutierten über ihr Geld. Ich erinnere mich noch gut daran, wie nervig das war, weil sie regelmäßig die Stimmung bei den Familientreffen versauten. Soweit ich weiß, ist einer von beiden schon verstorben. Eine weitere Verwandte war Tante E., eine Schwester meiner Mutter, die ebenfalls einen Mann sowie zwei Kinder hatte. Sie besaßen ein kleines Gartengrundstück in einer sogenannten „Laubenpieper-Anlage", wo wir sie ab und zu besuchten. In diesem Garten habe ich mir übrigens meine bis heute anhaltende Spinnenphobie eingefangen. Eine weitere Schwester meiner Mutter lebte bis zur Wende in der ehemaligen DDR und wir hatten nur sehr wenig Kontakt. Von diesem Familienzweig weiß ich nur, dass eine der beiden Töchter nach dem Mauerfall eine Praxis für Physiotherapie eröffnet hat.

    Als Anekdote wird zudem erzählt, dass die Töchter unserer „Osttante" mal im Westen zu Besuch waren und mit einer Bekannten das KaDeWe (Kaufhaus des Westens) besuchten. Die gigantische Fülle an kaufbaren Waren hat dann wohl so großen Eindruck auf sie gemacht, dass zumindest eine meiner Cousinen einen halben Nervenzusammenbruch erlitten haben und schreiend aus dem Kaufhaus gerannt sein soll. Ob das so stimmt, weiß ich nicht genau, könnte mir aber durchaus vorstellen, dass ein so reich gefülltes Kaufhaus für jemanden, der jedem Brot hinterherrennen musste, ein echtes Schockerlebnis war. Angeblich ist sie dann auch nach der Wiedervereinigung jahrelang nicht mehr ins KaDeWe gegangen. Ob das so stimmt, ist mir allerdings ebenfalls nicht bekannt. Was aus anderen Familienmitgliedern geworden ist, weiß ich nicht genau.

    Woran ich mich noch sehr gut und auch sehr gerne erinnere, ist unsere Wohnung, in der ich meine Kindheit verbrachte und in der ich bis zum Teenager-Alter aufgewachsen bin. Wir bewohnten erst eine von insgesamt drei Wohnungen im vierten Stock des Hinterhauses eines für meine Heimatstadt typischen Altbaus. Später mieteten meine Eltern noch die danebenliegende Wohnung dazu, brachen durch und machten aus zwei kleinen Wohneinheiten einfach eine große. Heute wäre so ein Durchbrechen in die Nachbarwohnung nicht mehr so problemlos möglich, früher funktionierte das ohne viel Aufwand. Unsere Wohnung bestand damals aus einer Küche mit angeschlossenem WC und einer Dusche, anschließend betrat man das Wohnzimmer. Bog man nach rechts ab und ging durch den besagten Wanddurchbruch, kam man in das Elternschlafzimmer, das zum Leidwesen aller ein Durchgangszimmer war. An dieses Zimmer schlossen sich zwei weitere Räume an, die als Kinderzimmer genutzt wurden. Da wir drei Jungs waren, hieß das, dass zwei Brüder sich das hinterste Zimmer teilen mussten. Da war Streit vorprogrammiert. Wir besaßen ein Etagenbett und da ich oben schlief, musste ich immer von oben herunterklettern. Einmal war mir das zu blöd und ich wollte mithilfe eines gekonnten Unterschwungs über das untere Bett runterspringen. Leider hatte ich übersehen, dass mein Bruder im Bett lag und erwischte ihn sehr schmerzhaft im Schritt. Natürlich war er außer sich, weil er dachte, ich hätte es mit Absicht getan, stürzte sich auf mich und würgte mich, bis ich blau anlief. Erst meine Mutter, oder war es mein großer Bruder, konnte ihn von mir wegziehen. Von dieser Geschichte erzählen wir heute noch, allerdings mit einem Lächeln im Gesicht. Als kleinster Sohn hatte ich meistens einen Bonus bei meiner Mutter. Wenn ich etwas angestellt hatte, bekamen oft die Brüder zu Unrecht den Ärger dafür. Einmal wollte ich meinem mittleren Bruder eins auswischen und fing an, nach meiner Mutter zu rufen, um mich darüber zu beschweren, dass mein Bruder mich mal wieder ärgerte. Leider hatte ich nicht mitbekommen, dass mein Bruder gar nicht im Zimmer war, sondern vorne bei im Wohnzimmer saß. Meine Mutter kam zwar nach hinten, aber statt einer Bestätigung gab es eine Standpauke. Man sollte immer aufpassen, was man zu welchem Zeitpunkt tut.

    Erst nach dem Auszug meines großen Bruders entspannte sich die Wohnsituation, mein etwas älterer Bruder bekam das hintere Zimmer und ich das davor liegende, welches vor unserer Erweiterung die Küche der mittleren Wohnung war. Geheizt wurde, wie in Altbauwohnungen üblich, mit Kohlen. Einen Fahrstuhl gab es selbstverständlich nicht, die Treppenstufen knarrten noch richtig laut und die Wände des Hausflurs waren mit billiger Farbe gestrichen, unten Grün und oben Weiß. Einige Briefkästen wiesen Beschädigungen auf und man konnte sie nicht mehr benutzen. Man sah dem Haus sein Alter einfach an. Im Eingangsbereich unseres Hinterhauses bröckelte der Putz von den Wänden, immer wieder mal fiel die Flurbeleuchtung aus, sodass man abends die vier Stockwerke teilweise im Dunkeln hochlaufen musste. Davor habe ich mich immer gefürchtet, weil ich ein echter Angsthase war. Auch der Keller war richtig alt und unheimlich und wenn es sich nur irgendwie vermeiden ließ, ging ich da nicht runter. Alles im Haus wirkte ziemlich verlebt. In der Nachbarwohnung lebte damals ein Studentenpärchen, wenn ich mich recht entsinne. In der dritten Etage wohnte die Familie meines besten Kumpels Th. Und im Vorderhaus lebte mit B. ein weiterer meiner wenigen Freunde. Über verschiedene Erlebnisse mit beiden werde ich später noch berichten.

    Ich habe eine schwierige Kindheit und Jugend erlebt. Wenn ich es rückblickend bewerten müsste, würde ich meine Familie als ziemlich arm und mich selbst als Außenseiter bezeichnen. Ich war klein, dick und hatte kaum Freunde, die sich mit mir abgaben. Sport war mir damals einfach zuwider, was sich in meiner Figur und der Tatsache niederschlug, dass viele Aktivitäten von Schulkameraden ohne mich stattfanden. In der Schule wurde ich zudem oft gehänselt, weil ich die schon getragenen Klamotten meiner älteren Brüder auftragen musste und nur sehr selten mal was Neues bekam, das nur für mich gekauft wurde. So saß ich oft allein in meinem Kinderzimmer oder schaute im Wohnzimmer Fernsehen. Schuld an der oft schwierigen Situation unserer Familie war unter anderem mein Vater, der eines Tages ohne irgendeine Ankündigung verschwunden ist und in der Eile wohl „vergessen" hatte, eine finanzielle Basis für unsere Mutter und uns drei Söhne dazulassen. Genau einhundert Mark lagen auf dem Wohnzimmertisch und meine Mutter stand plötzlich ohne die Unterstützung ihres Ehegatten, aber dafür mit finanziellen Sorgen da. Alles, was sonst an Geld vorhanden war, hatte mein Erzeuger eingesteckt und ich kann heute nur vermuten, dass er es ziemlich schnell los war, denn er hat gern, oft und zu tief ins Glas geschaut.

    So standen wir also von einem Tag auf den nächsten alleine da! Ein leeres Konto und ein ebenso gearteter Kühlschrank waren keine besonders guten Voraussetzungen, um als vierköpfige Familie sorgenfrei durchs Leben zu kommen! Nachdem unser Vater abgehauen war, stand meine Mutter dann vor der schwierigen Aufgabe, uns allein zu erziehen und zu versorgen. Das erwies sich mit dem Lohn einer ungelernten Raumpflegerin oft als ziemlich problematisch. Der allwöchentliche Gang zum billigsten aller Discountmärkte wurde für sie zu einem wahren Spießrutenlauf, weil sie unsere kleineren oder auch größeren Wünsche allzu oft mit einem Kopfschütteln und der traurigen Bemerkung: „Ich würde ja gern, aber es geht nicht ablehnen musste. Ich habe noch gut in Erinnerung, wie bockig ich oft war, wenn ich nicht bekam, was ich wollte. Meine beiden Brüder waren ein bisschen älter als ich, sodass ihnen der Ernst unserer Lage schon stärker im Bewusstsein war als mir. Deshalb hatte unsere Mutter fast immer mit mir und meinen Wünschen zu kämpfen. Ab und zu habe ich mich aber doch durchgesetzt, hab solange gequengelt und gebockt, bis ich endlich bekam, wonach mir der Kindersinn stand. Vielleicht wurden durch solche Situationen damals schon die grundlegenden „Tugenden der Sturheit, der Zielstrebigkeit und des Durchsetzungsvermögens in mir geschult, die mir in späteren Jahren noch sehr nützlich werden sollten. Manchmal gab es in unserem ärmlichen Alltag aber doch echte Highlights, nämlich Schrippen mit Schoko-Kuss beim Bäcker um die Ecke. Diese Kreation, die es übrigens heute noch gibt, war ziemlich billig und von mir nicht nur deshalb heiß begehrt. Die waren so lecker, dass regelmäßig mein gesamtes Taschengeld dafür draufgegangen ist. Tja, damals hat man sich doch tatsächlich noch über kleine Dinge gefreut!

    Wir lebten also in diesem klassischen Arbeiterbezirk von Berlin, in der Nähe der Bornholmer Brücke und damit sozusagen direkt an der Grenze zur damaligen DDR. Die Miete für unsere Wohnung war zu dieser Zeit noch sehr günstig und nicht vergleichbar mit den horrenden Forderungen heutiger Vermieter. So konnten wir uns trotz wenig Geld eine größere Altbauwohnung leisten, deren Miete meine Mutter selbst als alleinstehende Reinigungsfrau aufzubringen vermochte. Unter uns wohnte das schon erwähnte, befreundete Ehepaar mit ihren Söhnen. Der jüngere der beiden war mein bester Freund. Leider gab es auch in seiner Familie ein ziemliches Problem mit Alkohol, sodass die Eltern meines Kumpels sich zwar heiß und innig liebten, sich aber ebenso intensiv stritten und prügelten, wenn sie mal wieder einen über den Durst getrunken hatten. Da flog schon mal der Kochtopf durch das Wohnzimmerfenster und landete im Innenhof, wenn es dem Hausherrn nicht schmeckte. Soweit ich weiß, starb die Mutter später an Leberzirrhose, der Vater trank sich aus lauter Kummer über ihren Tod ganz bewusst ebenfalls aus dem Leben. Mit Ihrem Sohn, meinem besten Freund, habe ich als Kind und Jugendlicher wirklich sehr viel Spaß gehabt. Einmal wollten wir ins Kino gehen, was meine Mutter aber verbot. Stinksauer verließ mein Kumpel unsere Wohnung Richtung Hausflur und hatte dabei vor lauter Wut so viel Power, dass er mit der Hand die Scheibe des Hausflurfensters zertrümmerte. Auweia, das gab Ärger. Ein anderes Mal wollten wir zusammen Rollschuh fahren. Noch im Hausflur gerieten wir miteinander in Streit und ich schubste ihn weg. Leider hatte ich nicht bemerkt, dass er direkt am Treppenabsatz stand. Er stürzte mit lautem Gepolter zwölf Stufen hinunter und ich dachte schon, seine letzte Stunde hätte geschlagen. Nachdem er unsanft unten angekommen war, stand er unverletzt auf, ich entschuldigte mich und wir brachen beide in lautes Gelächter aus. So war er eben, einfach unverwüstlich. Da soll nochmal jemand behaupten, Kinder hätten keinen Schutzengel.

    Ein anderes Hobby von uns waren Wurfpfeile, heute würde man sie wohl Dartpfeile nennen. Mit solchen Pfeilen begaben wir regelmäßig auf einen nahen Spielplatz und zielten auf die Baumstämme. Einmal warf mein Kumpel seine Pfeile, obwohl ich noch nicht aus dem Weg gegangen war, traf mich aber nicht, soweit ich es noch im Kopf habe. Ich war ziemlich wütend und entschloss mich, es ihm gleichzutun. Schon der erste Pfeil traf ins Schwarze oder anders gesagt, er blieb genau in seiner Stirn stecken. Es war zum Glück keine tiefe Wunde und er konnte das Teil einfach rausziehen. Wieder brachen wir in lautes Gelächter aus und die Sache war vergessen. Ich erinnere mich noch, dass er und sein größerer Bruder damals immer beteuert haben, dass sie mal nicht so enden wollten, wie ihre Eltern. Beide hatten, zumindest nach meinen Informationen, später trotzdem einige Probleme mit dem Alkohol. Die Oma der beiden lebte damals im Seitenflügel unseres Hauses und war für ihn und seinen Bruder oft ein Zufluchtsort, wenn sich ihre Eltern wieder mal stritten.

    Die linke Wohnung im zweiten Stockwerk wurde von einer sehr netten, alten Dame bewohnt, für die ich öfter einkaufen ging. Sie konnte nicht mehr so gut laufen und deshalb bat sie mich darum, was ich gerne tat, weil ich sie mochte. Für mich war sie so eine Art Oma-Ersatz, weil ich meine leiblichen Großmütter ja nicht wirklich erlebt hatte. Natürlich fiel immer auch die eine oder andere Mark für mich ab, aber das war nicht das Wichtigste. Ich erinnere mich noch, dass sie in ihrer Küche eine große Zitronenpflanze zu stehen hatte, die sie immer mit Eierschalen und dem Inhalt ihrer benutzten Kaffeefilter düngte. Im Vorderhaus lebte ein berühmter Künstler mit seiner Familie. Sein Markenzeichen war das Jonglieren mit Zigarrenkisten. Mit dieser Nummer war er tatsächlich weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt und demzufolge viel auf Reisen. Seine Mama blieb zurück und wir besuchten sie manchmal. Ebenfalls im Vorderhaus wohnte, wie schon berichtet, mein zweitbester Freund, mit dessen Familie meine Mutter gut befreundet war. Er war ein echt harter Kerl, den so schnell nichts umzuhauen vermochte. Er wurde beispielsweise mal beim Spielen vor dem Haus von einem Auto angefahren, stand einfach auf, schüttelte sich kurz und spielte munter weiter. Kinder scheinen tatsächlich einen Schutzengel zu haben. Ein anderes Ereignis ist mir ebenfalls gut in Erinnerung. Gegenüber von unserem Haus gab es einen Platz, auf dem eine Familie lebte, die eine Spedition besaß. Sie wohnte in einem aus Containern zusammengefügten Haus mit Flachdach. Dieses Dach musste immer wieder mit Bitumen (also heißem, flüssigem Pech) gestrichen werden, damit es wetterfest blieb. Einmal half mein Kumpel aus dem Vorderhaus dem Sohn der Familie bei dieser Arbeit. Vermutlich beim Herumalbern kippte das Gefäß mit dem fast kochenden Pech um und ergoss sich über seinen ganzen Arm. Aber er schrie oder weinte nicht etwa, sondern ließ sich ganz ruhig in eine Klinik fahren, wo man das Zeug entfernte. Als sie zurückkamen, bestand er darauf, die Arbeit am Dach zu Ende zu bringen. Wie habe ich diesen Kerl damals für seine Zähigkeit bewundert. Sein Vater war Kohlenträger, wie auch einer meiner Onkel. Das war damals eine überaus harte Arbeit, denn die Kohlen mussten in großen Kisten auf dem Rücken bis in die gewünschte Etage oder in den Keller geschleppt werden. Dieser Umstand wurde ihm letztlich zum Verhängnis.

    Bei einer seiner Touren hatte er sich mit der Aufhängung für die Kästen wohl irgendwie den Rücken aufgekratzt und entschied, wegen einer solchen Kleinigkeit nicht zum Arzt zu gehen. Leider hat sich aus dieser kleinen Verletzung ganz schleichend ein bösartiger Streukrebs entwickelt, der ihn langsam auffraß und das im wahrsten Sinne. Kurz vor seinem Tod waren er und seine Frau noch bei uns zu Besuch und es war schockierend, ihn so zu sehen. Obwohl es schon Jahrzehnte her ist, habe ich die Situation immer noch genau im Kopf. Überall Abszesse und eiternde Wunden. Es war so schrecklich, dass meine Mutter nach dem Besuch sogar das Glas weggeworfen hat, aus dem er getrunken hatte. Heute würde man das Glas einfach gut abwaschen und wieder in den Schrank stellen. Aber zu dieser Zeit wusste meine Mutter es halt nicht besser. Vielleicht hatte sie auch bemerkt, wie entsetzt und angeekelt wir Kinder damals waren, B.‘s Vater so zu sehen. Kurz nach diesem Besuch hat er dann den Kampf verloren und ist gestorben. Zu seiner Familie gehörte auch noch eine Großmutter, um die sich alle rührend kümmerten. Irgendwann nach dem Tod des Vaters zogen sie aus unserem Haus weg. Bei einem unserer immer seltener werdenden Treffen berichtete er dann, dass seine Oma so dement war, dass es daheim einfach nicht mehr ging. Er erzählte, dass sie sich beispielsweise ein Brot schmierte, dabei allerdings statt der Scheibe Brot das Brett mit Butter beschmierte, Wurst drauflegte und das Ganze essen wollte. Was aus der Familie und meinem Kumpel geworden ist, weiß ich leider nicht, wünsche ihnen aber, dass sie einen guten Weg gegangen sind. Direkt neben uns wohnte zunächst ein altes Ehepaar und später ein nettes Studentenpaar, auf dessen Grünzeug ich aufpasste, wenn sie mal längere Zeit unterwegs waren. Ich fand das sehr spannend, denn der Student war ziemlich attraktiv. Noch heute habe ich manchmal den Geruch der Wohnung in der Nase. Ich fand ihn extrem sexy und wenn sich die Gelegenheit ergab, habe ich mich so manches Mal in seinem Hochbett selbst befriedigt und dabei an ihn gedacht. Alles Jugendfantasien eben. Die beiden haben ab und zu Partys veranstaltet, zu denen wir auch eingeladen waren. Bei solchen Gelegenheiten zeigte sich, wie alt das Haus war, denn der Boden des Wohnzimmers bog sich echt gefährlich durch, wenn viele Leute da waren.

    Wir waren zwar nicht reich, die berühmten Klimmzüge am Brotkasten mussten wir aber nie oder zumindest nur sehr selten vollführen. Bei aller finanziellen Not, in die wir durch das Verschwinden unseres Erzeugers und den dadurch fehlenden Lohn hineinrutschten, hat unsere Mutter dennoch immer dafür gesorgt, dass wir Kinder genug zu essen hatten. Zwar gab es als Pausenbrot oft nur Senfstullen, aber das war besser als nichts. Außerdem hat uns die in der Schule wenigstens keiner geklaut.

    Als Familie Urlaub zu machen und gemeinsam irgendwo in den Süden zu fahren, war bei unserer mehr als angespannten Haushaltslage eigentlich nie drin. Sicher, es gab Klassenfahrten, an denen ich teilnahm, aber ansonsten konnte ich von einem Strandurlaub in fernen Ländern nur träumen. Ich erinnere mich an eine Klassenfahrt in der Grundschule. Wohin wir damals fuhren, weiß ich leider nicht mehr, aber mit meinem besten Kumpel hatte ich dort extrem viel Spaß. Unsere Klassenlehrerin hat mit uns viele Exkursionen unternommen und ich erinnere mich noch daran, dass einer meiner Kameraden einen nervösen Magen hatte und ständig aufs Klo musste. Irgendwann waren wir anderen so genervt, dass wir ihm rieten, es doch einfach laufen zu lassen, was er nach längerem Zureden doch tatsächlich tat. Leider litt er unter Durchfall und das Ergebnis war nicht sehr schön anzuschauen und stank erbärmlich. Unsere Lehrerin war verständlicherweise ziemlich sauer, denn es gab keine Ersatzkleidung. So mussten wir dann notgedrungen mit dem Unglücklichen und nur sporadisch Gesäuberten im Reisebus noch bis in unsere Unterkunft zurückfahren. Leider wurde ich während der Fahrt krank und landete für ein paar Tage auf dem Krankenlager, was mich natürlich endlos aufregte. Eines Tages wollte mein bester Freund meine Schuhe für mich putzen und rannte mit einer riesigen Dose schwarzer Schuhcreme durch die Gegend. Das Unglück ließ nicht auf sich warten, denn er stolperte und der Inhalt der Dose landete ausgerechnet auf dem hellen Kleid unserer Lehrerin, die ihm dummerweise gerade entgegenkam. Auch ihre teure goldene Uhr wurde dabei in Mitleidenschaft gezogen, was sie noch wütender machte. Tja, mit meinem Freund war immer was los.

    Die jeweils lang ersehnten Schulferien konnte ich nicht, wie viele meiner Klassenkameraden, irgendwo in Italien oder Spanien am Strand verbringen. Für mich bestanden Ferien meist aus zahlreichen Besuchen im Freibad oder Unternehmungen mit meinen beiden besten Kumpels, mit denen ich sehr oft unterwegs war. Nur einmal, soweit ich mich erinnere, waren wir als Familie im Urlaub, in irgendeinem deutschen Kaff, wo es nichts außer Wiesen, Heidschnucken und Wäldern gab. Das einzige, wirklich lustige Ereignis in diesem Urlaub war eine Hochzeit in unserem Hotel, bei der ich die tolle Figur der Braut in ihrem wunderbaren Kleid bewunderte. Allerdings sah ich sie am nächsten Tag noch mal wieder und fragte mich danach tagelang, wie sie es wohl geschafft hatte, mit ihren gefühlten 110 kg in ihr Hochzeitskleid zu passen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass diese Wuchtbrumme dieselbe Frau war, die am Tag zuvor mit einer Wespentaille vor mir stand. Was ein Korsett alles ausmacht. Ansonsten verlief dieser einzige Urlaub ohne besondere Höhepunkte, mal abgesehen davon, dass wir bei einem Spaziergang extrem heftiges Gewitter gerieten und fast vom Blitz erschlagen wurden. Wenn ich mich richtig erinnere, warfen wir uns bei jedem krachen vor lauter Angst auf den Boden, immer in der Hoffnung, dass wir nicht vom Blitz getroffen werden. Irgendwie schafften wir es bis ins Hotel, waren zwar völlig durchnässt, aber ansonsten wohlauf.

    Klar hätte ich mich gefreut, wenn meine Mutter mehr Geld für ihre Arbeit bekommen hätte, aber das war nun mal nicht der Fall. Nicht im Geld zu schwimmen, hat aber nicht nur Nachteile, sondern kann auch von Vorteil sein. Durch den chronischen Geldmangel, unter dem meine Familie litt, habe ich nämlich schon sehr früh gelernt, mit Geld umzugehen und

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