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Die Harlans. Eine Großfamilie französisch-hugenottischer Herkunft
Die Harlans. Eine Großfamilie französisch-hugenottischer Herkunft
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eBook393 Seiten4 Stunden

Die Harlans. Eine Großfamilie französisch-hugenottischer Herkunft

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Über dieses E-Book

Der Hugenotte Jean Harlan flieht 1685 vor den "Dragonaden" Ludwigs XIV. nach Deutschland und legt mit der Gründung eines Tabakgewerbes den Grundstein für den Wohlstand seiner Nachkommen.

Diese leben lange Zeit in einer so genannten "französischen Kolonie", heiraten ausschließlich Hugenottinnen und pflegen französische Sprache und Lebensart. So gelingt ihre Integration in die deutsche Gesellschaft anfangs nur zögerlich.

Doch schon im 19. Jahrhundert sind die Nachkommen französischer Glaubensflüchtlinge so weit integriert, dass sie mit Begeisterung in den vom preußischen König ausgerufenen "Befreiungskrieg" gegen Napoleon ziehen und im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 für die Gründung eines deutschen Einheitsstaates kämpfen.

Die Ablehnung zeitgenössischer französischer Politik ändert jedoch nichts an ihrer Wertschätzung französischer Kultur. In den Familien sprechen sie weiterhin Französisch und erziehen die folgenden Generationen im Bewusstsein des französisch-kulturellen Ursprungs der Familie.

Im öffentlichen Leben sind sie derweil schon lange angekommen. Sie etablieren sich als erfolgreiche Kaufleute und Unternehmer, steigen als Beamte im Staatsdienst in die preußische "Funktionselite" auf und entdecken schließlich auch ihre künstlerischen Talente.

Einige bringen sich mit außergewöhnlichen Leistungen in die deutsche Gesellschaft ein. Louis Jacques Harlan gründet in Schwedt eine Tabakfabrik. David Hilbert, der "Einstein der Mathematik" macht Göttingen zum Zentrum der Mathematik. Otto und Erich Harlan ermöglichen die Industrialisierung einer sächsischen Region. Wolfgang leistet Pionierarbeit im Flugzeugbau und Walter spielt eine bedeutende Rolle im Theaterleben Berlins. Er gilt als der Gründer der "Künstlerfamilie" Harlan.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum4. Okt. 2017
ISBN9783744884587
Die Harlans. Eine Großfamilie französisch-hugenottischer Herkunft
Autor

Ingrid Buchloh

Ingrid Buchloh, geb. 1942, studierte Geschichte und Romanistik an der Universität Köln und wurde von Wolfgang J. Mommsen promoviert. Bis 2004 erteilte sie Unterricht am St. Hildegardis-Gymnasium in Duisburg und bildete am Studienseminar Referendare aus. Danach beschäftigte sie sich mit der Geschichte der Familie Harlan und veröffentlichte dazu folgende Bücher: Die Harlans - Eine hugenottische Familie (Verlag der Deutschen Hugenotten-Gesellschaft, 2007), Veit Harlan - Goebbels' Starregisseur (Ferdinand Schöningh-Verlag, 2010) und Hilde Körber - Berlin war ihre Bühne (Nicolai-Verlag, Berlin, 2013).

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    Buchvorschau

    Die Harlans. Eine Großfamilie französisch-hugenottischer Herkunft - Ingrid Buchloh

    INHALT

    Einführung

    Der Emigrant Jean Harlan

    Jeans Familie in Frankreich

    Flucht und Ansiedlung in Brandenburg

    Familiengründung und Lebensbedingungen in Fahrenwalde

    Gründung eines Tabakgewerbes in Schwedt

    Die Nachkommen in Schwedt und Stolp

    Im- und Export der Brüder Jacob und Isaac

    Wirtschaftliches und familiäres Netzwerk

    Gesellschaftlicher Aufstieg

    Engagement in kirchlichen und politischen Ämtern

    Die Tabakfabrikanten Louis-Jacques und Jacques-Abraham

    Jean jr. und sein Sohn Johann Ludwig

    Einstieg ins Bernsteingewerbe

    Die ostpreußischen Harlans

    Friedrich Bogislaw, Bernsteinfabrikant in Königsberg

    Gottlieb Ephraim, preußischer Offizier und Richter

    Auguste Steffen, geb. Harlan

    Eduard Gustav, preußischer Hauptmann und Polizeirat

    Alice Sebald, geb. Harlan

    Der Mathematiker David Hilbert

    Die Harlans in Dresden und Berlin

    Ludwig-Eduard, Tuchhandelskaufmann in Sachsen

    Otto, Bankier in Dresden

    Der Großindustrielle Erich

    Wolfgang, Flugzeugkonstrukteur in Berlin

    Gudrun Harlan und die Dichterin Nelly Sachs

    Walter, Schriftsteller und Dramaturg

    Peter, Gründer der Musikburg „Sternberg"

    Der Regisseur Veit

    Anhang

    Fotos

    Anmerkungen

    Quellen- und Literaturverzeichnis

    Stammtafel der Harlans

    Einführung

    Unmittelbar nachdem Ludwig XIV. im Oktober 1685 die seit hundert Jahren garantierte Glaubensfreiheit der Hugenotten aufgehoben hatte, floh der zwanzigjährige Hugenotte Jean Harlan nach Brandenburg. Zunächst arbeitete er in dem Dorf Fahrenwalde als Bauer und Handwerker, gründete dann aber in der Stadt Schwedt ein Tabakgewerbe.

    Einer seiner Söhne führte das Geschäft weiter, während zwei andere auf der Suche nach neuen Absatzmärkten nach Stolp in Pommern gingen. Deren Nachkommen wiederum ließen sich in Ostpreußen und Sachsen nieder. Auf diese Weise bildeten sich drei Familienzweige heraus, die Schwedter, die ostpreußischen und die Dresdner Harlans.

    Mit hugenottischem „Gewerbefleiß, Unternehmungsgeist und Anspruchslosigkeit im persönlichen Leben, aber auch mit Hilfe eines wirtschaftlichen und familiären Netzwerks, das sie mit bedeutenden hugenottischen Kaufmannsfamilien verband, gelangten die Schwedter Harlans zu Wohlstand und Ansehen. Lebten sie zunächst vor allem in der „französischen Kolonie und streng nach hugenottischer Tradition, so wurden sie durch ihren wirtschaftlichen Erfolg Teil der für diese Zeit charakteristischen Oberschicht aus Wirtschaftselite und Adel und übernahmen schließlich auch politische Verantwortung in der Stadt.

    In Königsberg gelang es dem in Stolp geborenen Friedrich Bogislaw Harlan, vom Gesellen zum erfolgreichen Bernsteinfabrikanten aufzusteigen. Als solcher gehörte er zu einer sich neu etablierenden bürgerlichen Oberschicht. Ein Sohn und ein Enkel waren bereits als preußische Offiziere und Juristen im Staatsdienst Teil der preußischen „Funktionselite".

    Trotz der gelungenen gesellschaftlichen Integration bewahrten die ostpreußischen Harlans ihre kulturelle französische Identität. Vor allem pflegten sie die französische Sprache. Diese war für sie auch ein Identifikationselement, das sie als Mitglieder einer gesellschaftlichen Gruppe auswies, die nicht unwesentlich zu Preußens wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung beigetragen hatte.

    In Sachsen etablierte sich der ebenfalls noch in Stolp geborene Ludwig Eduard Harlan erfolgreich als Leinwandkaufmann. Sein Sohn Otto war in Dresden als Eigentümer einer Bank an der Gründung und Leitung mehrerer Aktiengesellschaften und Handelsfirmen beteiligt und förderte als Konsul den Handel zwischen Sachsen und Kolumbien.

    Seine Ehe mit einer Tochter Theodor Bienerts, des reichsten Großindustriellen Sachsens, trug wesentlich zu seinem wirtschaftlichen Erfolg bei. Nicht unwichtig war dabei aber auch das immer noch funktionierende hugenottische Netzwerk.

    Ein neues Kapitel in der Kaufmannsfamilie Harlan schrieb Ottos Sohn Walter. Als Schriftsteller und Dramaturg spielte er eine bedeutende Rolle im Theaterleben Berlins der 20er Jahre und gilt als der Gründer der „Künstlerfamilie Harlan. Sein Sohn Peter machte sich einen Namen als Instrumentenbauer und gründete das Musikzentrum für alte Musik auf der „Burg Sternberg und Sohn Veit wurde ein berühmter, wenngleich umstrittener Regisseur.

    Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fühlten sich die Harlans verbunden durch ihren hugenottischen Glauben. Sie hielten an kirchlichen Traditionen fest, heirateten hugenottische Frauen und engagierten sich als Kirchenälteste in den Gemeinden. Länger als der hugenottische Glaube verband sie jedoch das Bewusstsein ihres französisch-kulturellen Ursprungs.

    Nur zögerlich vollzog sich ihre Integration in die deutsche Gesellschaft. Gefördert wurde sie vor allem durch Ehen mit deutschen Frauen anderer christlicher Konfessionen und die Eingliederung in die Berufswelt. Im 19. Jahrhundert war sie aber so weit gelungen, dass sie politische Verantwortung übernahmen, freiwillig in den „Freiheitskampf" gegen Napoleon zogen und im Krieg von 1870/71 für die Verwirklichung eines deutschen Einheitsstaats gegen Frankreich kämpften.

    Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldeten sich drei sehr junge Familienmitglieder an die Front, suchten aber in Frankreich, soweit irgend möglich, den Kontakt zur Zivilbevölkerung, um in die französische Sprache und Kultur einzutauchen.

    Die Affinität der Harlans zur französischen Kultur besteht bis heute. Im kollektiven Gedächtnis der Großfamilie ist aber auch die Erfahrung lebendig, die ihr Vorfahr Jean mit religiöser Intoleranz und staatlicher Unterdrückung im absolutistischen Frankreich Ludwigs XIV. gemacht hat. Toleranz gegen Andersgläubige und Freiheit der Person sind deshalb Werte, die im Bewusstsein der Familie tief verwurzelt sind.

    Tradiert wurden auch religiöses Engagement und Interesse an metaphysischen Fragen. Die meisten Familienmitglieder fanden ihre geistige Heimat im Christentum, einige aber entschieden sich für den jüdischen Glauben oder näherten sich dem Buddhismus. Ein Harlan wurde Guru in der Hare-Krishna-Bewegung.

    Trotz der Aufteilung in drei Familienzweige, der vielen Wirkungsorte, beruflicher Individualisierung und religiöser Vielfalt verstehen sich die Harlans auch heute noch als Großfamilie. Dieses Bewusstsein manifestiert sich allerdings in erster Linie im Interesse an der gemeinsamen Familiengeschichte.

    Duisburg, im Juni 2017

    Ingrid Buchloh

    DER EMIGRANT JEAN HARLAN

    Jeans Familie in Frankreich

    Jean Harlan, der Stammvater der deutschen Harlans, wurde im April 1665 in Houplines sur la Lys bei Armentières geboren. Seine Familie, die Harlans oder Herlands, wie sie sich damals überwiegend nannten, lebten seit Jahrhunderten als Ackerbauern in dem Ort Santes und waren seit dem 14. Jahrhundert auch Bürger von Lille. Der erste der Familie, der das Bürgerrecht käuflich erwerben konnte, war Jehan Hierlans.¹ Der entsprechende Vermerk in der Bürgerrolle lautet: „Bourgeois Lille achat 1348 Jehan Hierlans, de Santes".²

    Lille war die Hauptstadt des französischsprachigen Teils von Flandern und hatte große wirtschaftliche Bedeutung als Hansestadt. Als es im 15. Jahrhundert Residenzstadt der Herzöge von Burgund wurde, geriet es in die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich, Österreich und Spanien um das „Burgundische Erbe".

    In den bis Ende des 16. Jahrhunderts dauernden Kriegen, in denen Flandern immer wieder durch marodierende spanische Truppen und französische Rückeroberungsversuche verwüstet wurde, verlor Lille ein Drittel seiner Einwohner. Danach erlitt es im „Dreißigjährigen Krieg schwerste Schäden durch Beschießungen und Brände und war 1667/68 erneut Kriegsschauplatz im „Devolutionskrieg Ludwigs XIV. gegen Spanien und die spanischen Niederlande. Nach dem Sieg der Franzosen kam es im Frieden von Aachen (1668) endgültig zu Frankreich.

    Angesichts der wechselvollen Geschichte ihres Landes und ihrer Stadt zeigten die Bürger von Lille kein besonderes Interesse an Fragen der großen Politik. Vielmehr ging es ihnen darum, ihre teuer erkauften Bürger-Privilegien gegen Lehnsherren, Adel und die jeweils herrschende ausländische Macht zu verteidigen – notfalls auch mit Gewalt.³ Für ihre Einbürgerung hatten sie nicht nur eine hohe Geldsumme aufbringen müssen, sondern auch eine durch Haus- und Grundbesitz abgesicherte Kaution als Garantie für Steuerzahlungen.⁴

    Die Herlands gehörten zu den so genannten Ackerbürgern. Diese hatten keine Residenzpflicht in Lille,⁵ mussten aber wenigstens einige Jahre vor und nach ihrer Einbürgerung einen dauerhaften Wohnsitz in der Stadt nachweisen. Auch war das Zeugnis eines ehrenhaften Lebenswandels und familiärer Stabilität zu erbringen, zweier Faktoren, die zur Kraft der Bürgerschaft beitragen sollten.⁶

    Als Bürger von Lille gehörten die Herlands zu einer privilegierten geschlossenen Gesellschaft, die eine Minderheit in der Stadt darstellte.⁷ Ihr Status war durch drei grundlegende Privilegien gesichert, die sie vor Übergriffen von Lehnsherren, Adeligen und „Fremden" bewahrten, ihnen soziale Sicherheit gaben und ihr Eigentum und das der folgenden Generationen schützten.⁸ Das erste Privileg war das der Befreiung von jeglicher Gerichtsbarkeit außer der des Schöffengerichts (l’exemption de toute autre juridiction que le tribunal des échevins). Da die Schöffen aber selbst Bürger von Lille waren und überwiegend zur wohlhabenden Kaufmannsschicht gehörten, hatten die Bürger den Vorteil, nur von Standesgleichen abgeurteilt werden zu können.

    Das zweite Privileg beinhaltete das Recht des Bürgers auf den Beistand der Mitbürger (le droit d’arsin), sobald er mit dem Ruf „bourgeoisie um Hilfe gegen „Fremde nachsuchte. Der zu Hilfe eilende Mitbürger konnte für sein Eingreifen nicht bestraft werden, selbst wenn er den Angreifer tötete. Einen zusätzlichen Schutz bedeutete die Bestimmung, dass „Fremde, die einen Bürger von Lille angegriffen hatten und sich nicht dem Gericht der Schöffen stellten, härtesten Strafen ausgesetzt waren. Ihr Haus wurde angezündet und alles, was sich auf ihrem Grund und Boden befand, dem Erdboden gleichgemacht. Besaß der „Fremde kein Haus innerhalb der Schlossherrschaft, traf ihn die Verbannung unter Androhung des Todes durch Erhängen.

    Darüber hinaus gewährleistete das Privileg eine soziale Absicherung, denn im Fall der Verarmung hatte der Bürger ein Anrecht auf Unterstützung, im Fall einer Lepraerkrankung auf die Unterbringung im städtischen Hospiz.

    Das dritte Privileg schützte den Besitz des Bürgers (la non-confiscation). In keinem Fall konnte dessen Besitz konfisziert werden, nicht einmal im Fall der Majestätsbeleidigung. Hatte sich ein Bürger verschuldet, so konnte sein Gläubiger ihn zwar in Haft nehmen, hatte aber für erträgliche Haftbedingungen zu sorgen, die im Einzelnen festgelegt waren. Dazu gehörten zum Beispiel ein Federbett, ein Tisch mit Tischtuch und eine Serviette. Auch der Besuch der Ehefrau und der Freunde war erlaubt, wenn auch nur im Beisein des Gläubigers. Dabei war es schon recht schwer, überhaupt eine Inhaftierung vorzunehmen, da dies an nur wenigen Tagen im Jahr zulässig war.

    Zu den Pflichten der Bürger – wie aber auch der Nichtbürger (manants) – gehörte es, an bis zu 40 Tagen im Jahr Militärdienst zu leisten. Außerdem hatten sie Wache an den Stadttoren und den Schutzwällen zu halten, wobei sie sich aber durch einen Armbrustschützen oder einen Diener vertreten lassen konnten.

    Die Kinder der Bürger, auch die unehelichen, gehörten ebenfalls zur Bürgerschaft und besaßen deren Privilegien. Mit ihrer Volljährigkeit – im Alter von 18 Jahren bei Männern und 15 Jahren bei Frauen – verloren sie jedoch das Recht auf den Beistand der Mitbürger. Die Söhne hatten dann im Jahr ihrer Eheschließung die Möglichkeit, das Bürgerrecht zu einem kaum nennenswerten Preis zu erneuern. Geschah dies nicht termingerecht, wurden ihnen alle Rechte aberkannt.

    Über sieben Generationen machten die Herlands Gebrauch vom Recht des Rückkaufs. Der Letzte, der es nachweislich in Anspruch nahm, war Jehan Herland. Er wurde am 19. September 1625 Bürger von Lille.

    Als Bürger von Lille waren die Herlands nicht nur rechtlich und sozial abgesichert, sie hatten auch die Freiheit, Handel zu treiben. So konnten sie Kapital akkumulieren und zu Wohlstand und Ansehen gelangen. Bereits im 17. Jahrhundert gehörten sie zu den vier oder fünf wichtigsten der 300 Familien von Santes.¹⁰ Nicht nur hier, sondern auch in mehreren Nachbarorten besaßen sie ausgedehnte Felder und Weiden, die sie mit einer großen Zahl von Angestellten, Tagelöhnern, Wagen, Pferden und Vieh bewirtschafteten.

    Neben den eigenen autonomen landwirtschaftlichen Betrieben gehörte ihnen auch gepachtetes Land. Gegenüber dem Eigenbesitz hatte die Pacht den Vorteil, dass im Fall der Plünderung oder der Zerstörung der Ernte durch Kriegseinwirkungen die Pächter abgesichert waren. Mit einem Lehnsherrn wurde dann ein Vergleich geschlossen, war der Staat der Lehnsherr, erhielten die Pächter eine Kostenerstattung beziehungsweise eine Kriegsentschädigung.¹¹

    Einen Einblick in die Besitzverhältnisse der Herlands erlauben die Notariatsakten und Steuerlisten aus den Jahren 1601 und 1602 von Santes, Wavrin und Hallennes.¹² Darin befindet sich unter anderem das Testament von Guillaume Herland, dem Ururgroßvater von Jean. Er hinterließ seinen fünf Kindern zu gleichen Teilen ein bedeutendes Erbe von 3.025 „livres und 15 „gros, das aus Renten und Geld, Ackerland, Weiden, Gärten, Baumbeständen und Herrenhäusern bestand.¹³

    Die meist schlossartigen Herrenhäuser waren geschätzt als sichere Geldanlage und als sichtbarer Beweis wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs.¹⁴ Auch sie wurden oftmals verpachtet. Jeans Großvater, Pierre Herland, zum Beispiel verpachtete 1672 ein Herrenhaus, das er in dem Nachbarort Marquillies besaß.¹⁵

    Um den Kauf oder die Pacht von Grundbesitz zu finanzieren, verkauften die Herlands Erbrenten, eine moderne Form der Geldbeschaffung, die damals in Flandern schon gebräuchlich war.¹⁶ Während der Käufer mit der Rente seinen Lebensunterhalt oder sein Alter absicherte, nutzte der Verkäufer die vom Käufer zu zahlende Gesamtsumme für Investitionen. Auf diese Weise konnte er mit einem relativ geringen Einsatz an Eigenkapital große Investitionen vornehmen, vor allem auch weil Geldgeschäft und Warenhandel zusammengingen.¹⁷ Meist wurden die Rentengeschäfte mit Verwandten oder Bekannten getätigt, liefen oft über mehrere Generationen und gehörten zur Erbmasse.¹⁸

    Jeans Vater, François Herland, verließ 1659 Santes, um in dem Ort Houplines sur la Lys Catherine Ghesquières zu heiraten¹⁹ und die Pacht „Neuve Court" ihrer Familie zu übernehmen.²⁰ Wie die Herlands waren die Ghesquières Bürger von Lille. Da sie ebenfalls katholisch waren,²¹ fand die Hochzeit in der katholischen Kirche von Houplines statt.²² Auch die Kinder, die aus der Ehe hervorgingen – Jeanne, Marie, Jean und François – wurden hier getauft.²³

    Nur ein Jahr nach der Geburt des jüngstens Kindes starb François im Alter von 39 Jahren und hinterließ seiner Frau vier Kinder im Alter von einem bis acht Jahren. Noch im selben Jahr übernahm Catherine die Pacht von Flencque, ebenfalls in Houplines, wo sie bis 1674 registriert war. Danach verliert sich ihre Spur.²⁴

    Jean war beim Tod des Vaters vier Jahre alt. Über seine Jugend und die seiner Geschwister ist nichts überliefert. Es steht nur fest, dass er und sein Bruder François in jungen Jahren zum Calvinismus konvertierten. Möglicherweise hatten sie ihre Mutter ebenfalls früh verloren und ein Vorbild in Pierre Herland, einem jüngeren Bruder ihres Vaters, gefunden. Dieser hatte sich zum Calvinismus bekannt und war 1664 mit seiner Familie in die Pfalz ausgewandert.

    Auch andere Hugenotten der Region emigrierten in den sechziger Jahren, aber erst nach dem Anschluss Lilles an Frankreich 1668 stieg die Zahl der Emigranten signifikant an. Dies war eine Folge der jetzt einsetzenden massiven Verfolgung der Hugenotten durch den französischen Staat, aber auch eine Reaktion auf die Annexion des Gebietes durch Frankreich, die bei der Liller Bevölkerung insgesamt auf Ablehnung gestoßen war.²⁵

    Der große Exodus begann allerdings erst in den achtziger Jahren, als Ludwig XIV. die Glaubensfreiheit durch das „Revokationsedikt von Fontainebleau aufhob und die Hugenotten mit grausamen „Dragonaden zwang, ihren Glauben zu leugnen. Drastische Einschränkungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich verschlimmerten ihre Lage zusätzlich.

    Etwa 180.000 Hugenotten flohen jetzt ins europäische Ausland und nach Amerika, unter ihnen der 20-jährige Jean und sein 17-jähriger Bruder François.²⁶ François zog, wie viele hugenottische Glaubensflüchtlinge, die so genannten „Réfugiés", in die Pfalz.²⁷ Zunächst ließ er sich in Mannheim nieder, zog aber 1689, nachdem Ludwig XIV. in die Pfalz eingedrungen war, zusammen mit der gesamten wallonisch-reformierten Gemeinde nach Magdeburg.

    Flucht und Ansiedlung in Brandenburg

    Jean folgte der Einladung des „Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelms I. von Brandenburg-Preußen. Dieser hatte unmittelbar auf das „Revokationsedikt Ludwigs XIV. mit dem Erlass des „Edikts von Potsdam" reagiert, in dem er den Hugenotten Glaubensfreiheit und großzügige wirtschaftliche Unterstützung zusicherte. Durch Geheimkuriere war das Edikt in kürzester Zeit in die entlegensten Winkel Frankreichs gelangt²⁸ und etwa 20.000 Hugenotten machten sich auf den Weg nach Brandenburg.

    Es waren nicht nur religiöse Erwägungen, die Friedrich Wilhelm I. veranlasst hatten, seine „reformierten Glaubensgenossen aufzunehmen. Er versprach sich von ihnen auch eine wirksame Unterstützung beim Wiederaufbau Brandenburgs, das durch den „Dreißigjährigen Krieg und den Einfall der Schweden 1675 verwüstet und weitgehend entvölkert war. Darüber hinaus sah er in den französischen Calvinisten eine Stütze gegen die überwiegend lutherischen Stände, die sich den absolutistischen Tendenzen des Staates widersetzten.²⁹

    Jean hatte zuletzt als Landwirt und Kaufmann in Calais gearbeitet, einem hugenottischen Zentrum der Region. Von hier trat er vermutlich auch seine Flucht an, denn die meisten der aus Nordfrankreich stammenden Réfugiés schifften sich in Calais ein, um nach Dover oder in die „Generalstaaten (die nördlichen Provinzen der Niederlande) zu gelangen. Der direkte Landweg durch die katholischen „Spanischen Niederlande wäre zu gefährlich gewesen. Aber selbst auf dem sichereren Seeweg starben viele von ihnen durch Hunger, Kälte, Schiffbruch oder die Kugeln von Soldaten.³⁰

    Um den französischen Emigranten die Flucht zu erleichtern, ließ der „Große Kurfürst in den „Generalstaaten mehrere Transitstationen einrichten. In welcher Verfassung die Réfugiés dort ankamen, berichtete der außerordentliche Gesandte von Diest im November 1685 dem „Großen Kurfürsten":

    Es kommen täglich viele miserable geflüchtete allhier an, und wissen nicht genugsam von den grausamen proceduren zu erzählen, welche in Frankreich wider diejenigen zur Hand genommen werden, so sich weigern, sich zu der Römischen Katholischen Religion zu begeben.³¹

    In den Transitstationen erhielten die Réfugiés einen persönlichen Schutzbrief, der sie als Asylanten des „Großen Kurfürsten" auswies und sie berechtigte, ohne Durchgangs- und Einfuhrzölle zu reisen und in den Städten ihrer Durchreise materielle Hilfe anzufordern. In Amsterdam wurden sie dann von den Gesandten von Diest und Romswinkel in Empfang genommen und per Schiff nach Hamburg gebracht. Dort organisierte man ihre Weiterreise nach Brandenburg-Preußen.³² Aber auch diese verlief nicht ohne Probleme. Fluchthelfer führten sie in die Irre oder betrogen sie und die einheimische Bevölkerung begegnete ihnen oft feindselig:³³

    Der Weg von Minden bis Berlin war mit hülflosen Hugenotten gezeichnet, die siech, krank und sterbend liegen blieben, weil niemand sie fortschaffen wollte. Auch die Amtsleute von Wanzleben und Dreileben waren weder durch Güte noch durch Drohung zu bewegen, für die Irrgläubigen die kurfürstlich befohlenen Wagen zu stellen.³⁴

    Jeans Ankunft in Brandenburg ist vermerkt in der „französischen Kolonieliste von Schwedt: „Harlan, depuis 1687 au pays du Roy ³⁵ (Harlan, seit 1687 im Land des Königs). Wie alle Réfugiés musste er sich zunächst in Berlin melden und konnte erst nach genauer Überprüfung seiner Verhältnisse in die Region seiner Wahl übersiedeln. Jean entschied sich für die Uckermark. Sie wurde von vielen Hugenotten wegen des guten Bodens sehr geschätzt, obgleich sie durch die Kriege besonders stark verwüstet und entvölkert war.

    Etwa 2.900 Bauern- und Kossätenhöfe standen hier leer und wurden jetzt den hauptsächlich aus Nordfrankreich stammenden französischen Bauern übereignet.³⁶ Dass auch Jean einen dieser Bauernhöfe besaß, wird später in der „Kolonieliste vom 31. Dezember 1699 bestätigt. Dort wird er genannt als einer von 91 Einwohnern des Ortes Fahrenwalde: „Jean Harleng, Laboureur, du Pays Bas, sa femme et trois enfans.³⁷ (Jean Harleng, Ackerbauer aus den Niederlanden, seine Frau und drei Kinder.)

    Wie alle Réfugiés erhielt Jean für die Instandsetzung des Hofes kostenlos Baumaterial, Saatgut, fünfzig Taler für die Anschaffung von Arbeitsgeräten, zwei Pferde und eine Kuh. Das dazugehörige Wirtschaftsland wurde ihm in freier Erbpacht für drei Generationen überlassen.³⁸ Statt des Frondienstes, wie er für die noch in Leibeigenschaft lebenden deutschen Bauern üblich war, hatte er lediglich eine jährliche Abgabe von 8-12 Talern zu entrichten.³⁹ Es wäre undenkbar gewesen, einen an Freiheit gewöhnten nordfranzösischen Bauern zu Frondiensten heranzuziehen.⁴⁰

    Finanzielle Starthilfe kam zusätzlich aus Geldern einer Landeskollekte, die der „Große Kurfürst" auf Bitten der Französischen Kirche in Berlin hatte ausschreiben lassen.⁴¹ Und die vermögenden hugenottischen Emigranten unterstützten ihre Landsleute durch Staatsobligationen im Wert von 90.000 Talern.⁴²

    Jean arbeitete anfangs auch als Wagenbauer (charron).⁴³ Das war für ihn nicht nur eine zusätzliche Existenzsicherung, es hatte auch den Vorteil, dass er als hugenottischer Handwerker Anspruch auf ein Existenzgründungsdarlehen erhielt und ihm die Niederlassungsfreiheit als Manufakturist in Aussicht gestellt wurde.⁴⁴ Möglicherweise hatte er damals schon entsprechende Zukunftspläne. Vermutlich war er auch nicht völlig mittellos nach Deutschland gekommen oder hatte später mit Hilfe seiner in Frankreich verbliebenen Familie Geldtransfers vornehmen können. Dafür spricht sowohl der schnelle berufliche Aufstieg der Familie als auch die Tatsache, dass es vielen Hugenotten gelungen war, mindestens einen Teil ihres Vermögens in Sicherheit zu bringen. Nicht wenige Réfugiés kamen später selbst nach Lille, um finanzielle Transaktionen vorzunehmen.⁴⁵

    Familiengründung und Lebensbedingungen in Fahrenwalde

    Am 2. Februar 1689 heiratete Jean die ebenfalls emigrierte Hugenottin Marie le Jeune. Maries Eltern waren der Ackerbauer Abraham Le Jeune und dessen Ehefrau Marie Trinson (Pinchon) aus der Gemeinde Guînes bei Calais. Die Eheschließung fand in der lutherischen Kirche zu Bergholz statt.⁴⁶ In ihr durften die Hugenotten aus Fahrenwalde sonntags ihre in französischer Sprache gehaltenen Gottesdienste abhalten. Häufig machten ihnen allerdings die lutherischen Geistlichen Schwierigkeiten, so dass es wiederholt zu Beschwerden der hugenottischen Kirchenältesten (anciens) kam.⁴⁷

    Jean und Marie bekamen 8 Kinder. Sohn Jean wurde 1689 geboren. Es folgten Marie, Abraham, Jacob, Marie, Isaac, Pierre und Françoise. Wie man sich ihr Leben in Fahrenwalde vorstellen kann, zeigt folgende Beschreibung einer Familie von Réfugiés: „Ihre Sitten waren streng, ihre Kleidung sehr schlicht, die Wohnungen selbst bei den Wohlhabenden einfach. Sie arbeiteten hart und wussten sich mit Wenigem zu begnügen."⁴⁸

    Jean und Maries Kinder besuchten die französische Schule in Fahrenwalde, denn auch hier gab es, wie in allen Dörfern der „Kolonien", eine Schule für die Kinder der Réfugiés.⁴⁹ Die hugenottische Kirche legte Wert auf die Bildung der Kinder im Zufluchtsland (Refuge) und investierte viel Geld in ihre Schulen, auch in der Absicht, allen das Lesen der Bibel zu ermöglichen.⁵⁰ So konnten selbst die Ärmsten lesen und schreiben, während 50 Prozent der einheimischen Bevölkerung zur Zeit des „Großen Kurfürsten" noch Analphabeten waren.⁵¹

    Die primär bildungspolitische Maßnahme der Kirche wirkte sich auch gesellschaftspolitisch aus, denn die in der Schule benutzte französische Hochsprache der Bibel fand Eingang in die Familien.⁵² Dadurch gab es zwischen den französischen Emigranten, die in der Regel sehr unterschiedliche „Patois sprachen, keine Kommunikationsprobleme. Hochfranzösisch wurde auf diese Weise neben der Religion zum einigenden Band im „Refuge.⁵³

    In der Zeit zwischen 1701 und 1703 kam Jeans Cousine Marie Herlan⁵⁴ mit ihrem Ehemann Michel Salingre nach Fahrenwalde. Marie war die Tochter des 1664 von Santes nach Billigheim in der Pfalz emigrierten Pierre Herlan, Michel ein Bruder des Jacques Salingre, der bereits 1686 von der Pfalz in die Uckermarck gezogen war.⁵⁵

    So kam es sowohl bei den Harlans als auch bei den Salingres zu einer Familienzusammenführung. Ihre Vorfahren müssen sich schon in Flandern gekannt haben, zumindest aber hatten sie sich als Réfugiés gemeinsam in Billigheim niedergelassen. Auch in den folgenden Generationen gab es enge private und geschäftliche Verbindungen zwischen den Harlans und den Salingres, wie noch zu zeigen sein wird.

    Trotz der relativ günstigen Lebensbedingungen in Fahrenwalde kam es in der Zeit zwischen 1701 und 1703 zu einer starken Abwanderung der Hugenotten, so dass die Einwohnerzahl in zwei Jahren von 91 auf 18 sank.⁵⁶ Hauptgrund war, dass die Franzosen hier nicht, wie in anderen „Kolonien", eigene Richter hatten, sondern der Gerichtsbarkeit deutscher Ämter unterstanden.⁵⁷ Die deutschen Richter aber verweigerten ihnen oft das, was ihnen rechtlich zustand, stellten unerfüllbare Bedingungen und halfen ihnen nicht, wenn sie beschimpft und tätlich angegriffen wurden.⁵⁸ Getragen fühlten sie sich dabei von der Stimmung der ansässigen Bevölkerung, die ihre Lebensbedingungen infolge der Privilegien der Hugenotten verschlechtert sah, etwa bei der Vergabe von Ackerland oder dadurch, dass sie für die Franzosen zusätzliche Dienstleistungen übernehmen mussten.⁵⁹

    Um 1704 verließen auch Jean und Marie Fahrenwalde. Zunächst zogen sie nach Gramzow, wo 1708 ihr 6. Kind geboren wurde. Ein Jahr später⁶⁰ ließen sie sich in der Residenzstadt Schwedt nieder in der berechtigten Hoffnung, dort bessere soziale und auch berufliche Bedingungen vorzufinden: „Die Familien Harleng (Herlan, Erlan) [...] verlassen die Parochie um 1704, heißt es in der „Kolonieliste.⁶¹

    Gründung eines Tabakgewerbes in Schwedt

    Schwedt hatte ebenfalls unter den Zerstörungen und vielfachen Plünderungen im „Dreißigjährigen Krieg gelitten. Von den 202 Häusern im Jahre 1636 waren 1642 nur noch 31 bewohnt, die restlichen zerstört oder abgebrannt. Erst unter Kurfürstin Dorothea, der zweiten Gemahlin des „Großen Kurfürsten, an die 1670 die Herrschaft gefallen war, setzte ein Aufschwung ein, der unter ihren Nachfolgern, den Markgrafen von Brandenburg-Schwedt, fortgesetzt werden konnte. Dorothea baute die Stadt wieder auf, ließ auf den Grundmauern des alten Schlosses ein neues im Spätrenaissancestil errichten und siedelte 1686 Hugenotten an.⁶² Deren Zahl war bereits auf über 300 gestiegen, als die Harlans nach Schwedt zogen.⁶³

    In Schwedt waren die beruflichen Möglichkeiten für Jean wesentlich besser als in Fahrenwalde, aber auch hier bedeutete es ein Wagnis, inmitten der verarmten und konsumschwachen Uckermark ein Gewerbe zu betreiben. Aussicht auf Erfolg versprach nur ein Gewerbe, mit dem man nicht ausschließlich auf den Absatz in der unmittelbaren Umgebung angewiesen war.⁶⁴ Es bot sich

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