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Die Lehrerin
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eBook350 Seiten4 Stunden

Die Lehrerin

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Über dieses E-Book

Eines Morgens betritt sie die Klasse. Ganz anders als alle anderen Lehrer. Die Kadenberg. Die Ferien sind vorbei, und das neue Schuljahr beginnt. Frank ahnt, alles wird sich ändern. Er will wissen, wer die Kadenberg wirklich ist.

Aber das Leben tut weh, und Hass ist eine Leidenschaft.

Genau wie die Liebe.

Eine Coming-of-Age-Geschichte über einen fünfzehnjährigen Schüler, dessen Welt aus den Fugen gerät, als eine neue Lehrerin an die Schule kommt. Leidenschaft steht nicht auf dem Lehrplan. Gefühle kann man nicht lernen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. Sept. 2019
ISBN9783749475902
Die Lehrerin
Autor

Michael Zorn

Michael Zorn wurde in Bochum im Ruhrgebiet geboren und wuchs zu einer Zeit auf, als die Stahlöfen noch kochten und es im Fernsehen Sendeschluss gab. Die elektrische Schreibmaschine auf der Arbeit seines Vaters machte immer komische Geräusche, und wenn man eine Taste gedrückt hielt, ratterte die Mechanik los wie das Maschinengewehr eines Kampfpiloten. Die bunten Comics in der Kinderzeit verdarben seinen Verstand genauso gründlich wie später die billigen Heftromane aus der Bahnhofsbuchhandlung. In der Schule lernte er, was Literatur sein sollte, aber Literatur war sehr langweilig, und es musste auch noch etwas anderes geben als langweilige Literatur. Ein paar amerikanische Schriftsteller zeigten ihm, dass man nicht mit dem Kopf schreibt, sondern aus dem Bauch heraus. Seine ersten Zeilen hackte der Autor mit einer kleinen Reiseschreibmaschine auf Papier. Hin und wieder gelang ihm ein guter Satz. DIE LEHRERIN ist sein erster Roman.

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    Buchvorschau

    Die Lehrerin - Michael Zorn

    30

    1

    Als sie zum ersten Mal die Klasse betrat, wusste er sofort, es würde eine besondere Stunde werden. Sie stellte die Tasche auf das Pult, schrieb mit großer Handschrift ihren Namen an die Tafel und wartete ab, bis es auf den Plätzen ruhig war.

    »Mein Name ist Kadenberg. Ich übernehme ab heute den Deutschunterricht.«

    Frank starrte sie an. Das weite Kleid mit dem hellen Muster leuchtete im Sonnenlicht. Sie musste neu auf die Schule gekommen sein. Er hatte sie noch nie gesehen.

    Sie hatte eine schlanke Figur und aufrechte Schultern, und als sie einen Schritt in den Schatten trat, machten die Brüste unter dem runden Ausschnitt eine sanfte Bewegung. Das dunkle Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden.

    Es war die dritte Stunde.

    Die Kadenberg stand an der Tafel und begann über den Unterrichtsplan der nächsten Wochen zu sprechen. Die Sonne schien durch die offenen Fenster und warf ein unwirkliches Licht über die Reihen der Bänke, die Luft war heiß und schwül, und nicht ein Windhauch drang von draußen über den Schulhof in die Klasse.

    Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ließ den Blick über ihre Köpfe schweben. Vielleicht war es das, was die meisten an ihr störte, die Lässigkeit und Ruhe, mit der sie ihnen entgegentrat, ohne eine Schwäche zu zeigen. Sie griff in ihre Tasche auf dem Pult und holte ein kleines gelbes Heft heraus.

    »Das besorgt ihr euch für die nächste Stunde!«

    Frank hasste Reclamhefte. Als sie den Autor und Titel an die Tafel schrieb, drehte sie ihnen den Rücken zu, und der Zopf fiel ihr über die Schulter. Frank musste dauernd hinsehen. Dann wandte sie sich wieder der Klasse zu und warf einen Blick zur Bank neben der Tür, wo der dicke Wiegand auf seinem Platz saß und mit offenem Mund in die Ecke starrte.

    »Wie wär´s, wenn du mir einen Sitzplan zeichnest?«

    Der dicke Wiegand zuckte zusammen.

    »Warum ich?«

    »Weil dich gerade alle anstarren …«

    Der dicke Wiegand machte den Mund zu und musste überlegen. Es dauerte immer sehr lange, wenn er überlegen musste. Endlich kapierte er, griff zu Stift und Papier und machte sich an die Arbeit.

    Die Kadenberg schritt durch die Reihen. Das Geräusch ihrer Absätze klang auf dem Boden. Frank ging neben seinem Nachbarn in Deckung und zog den Kopf ein. Fabio kaute wieder an den Nägeln.

    Ihr Vorgänger, der alte Höppner, hatte nicht den Ehrgeiz gehabt, die Klasse über die Klinge springen zu lassen, und auch wenn Frank meistens keine Ahnung hatte, worum es im Unterricht ging, war er in Deutsch am Ende immer durchgekommen. Mit der Kadenberg würde es nicht so einfach werden.

    Es war die erste Woche nach den Sommerferien, und schon jetzt hatte er wieder das Gefühl, langsam im Strom zu versinken.

    Ka-den-berg. Drei Silben waren der Name, drei Vokale die Melodie. Sie gehörte nicht zu den Lehrern, die nur noch in die Schule kamen, um ihre Zeit abzusitzen. Sie glaubte, eine Aufgabe erfüllen zu müssen und wollte in ihre Köpfe schauen, um bessere Menschen aus ihnen zu machen. Frank wollte kein besserer Mensch werden. Fabio sah auch nicht danach aus.

    Ihr Alter war schwer zu schätzen. Die Augenbrauen liefen in einem Winkel über die Stirn, die Lippen waren schmal und nicht ohne Leidenschaft, und am Kinn hatte sie ein Feuermal, das noch mehr auffiel, wenn sie lächelte.

    Die Kadenberg lächelte nicht oft. Dafür hörte sie sich gern reden. Ihre Stimme reichte ohne Anstrengung bis in die letzte Reihe. Frank konnte nicht aufhören sie anzustarren.

    Der schöne Fahrenholt meldete sich als Erster. Danach kam die magersüchtige Theresa an die Reihe. Es war wie immer. Alle hockten zusammen, um sich erneut ein Jahr durch die Räder der Mühle drehen zu lassen, die ganze Galerie des Schreckens, vereint in gnadenloser Langeweile.

    Als der Gong die Stunde beendete, atmeten alle auf. Die Kadenberg stand am Pult und machte den Eintrag ins Klassenbuch. Der dicke Wiegand kam nach vorne und überreichte ihr seinen Sitzplan. Sie sagte nicht mal danke, packte ihre Sachen zusammen und warf einen letzten Blick durch die Reihen. Auf dem Flur hörte Frank ihre Schritte leiser werden. An der Tafel stand noch immer ihr Name.

    Fabio griff zum Handy und schaute auf der Website der Schule nach.

    »Die ist neu«, sagte er und zog eine Grimasse. »Deutsch und Geschichte …«

    Jeden Morgen kam er mit dem Rennrad zur Schule gefahren, um in Form zu bleiben und steckte in seiner verschwitzten Sporthose wie in einer aufgepumpten Windel.

    Endlich war große Pause. Frank holte sich eine Cola und schlenderte über den Schulhof zur Sporthalle. Unter den Kastanienbaum setzte er sich in den Schatten und beobachtete die Mädchen in der Raucherecke gegenüber.

    Mit Daniel hatte er oft zusammen unter dem Kastanienbaum gesessen und die Mädchen in der Raucherecke beobachtet. Sie kamen sich immer sehr toll vor, tanzten mit ihren kleinen Ärschen über den Schulhof und machten sich über die Typen lustig, die gerade wieder eine Abfuhr gekriegt hatten.

    An manchen Tagen war die ganze Welt eine Möse.

    Frank kniff die Augen zusammen, und für einen Moment schien der ganze Schulhof im gleißenden Licht der Mittagshitze zu verbrennen. Die Welt stand in Flammen.

    Nach der Pause hatten sie Unterricht bei Frau Doktor Jankowski im Chemiesaal der Schule. Eine kaputte Hüfte machte der Frau mit dem grauen Haar und dem russischen Akzent das Gehen schwer. Oft zog die Jankowski ein Gesicht, als wäre die Chemie das Einzige im Leben, von dem sie noch nicht enttäuscht worden war.

    Danach hatten sie zwei Stunden Mathe bei Ewald Krone, einem gutmütigen alten Mann mit kahlem Schädel und großer Brille, der seine Klasse durch den Unterricht führte wie ein Großvater seine Enkel durch den Zoo. Ewald Krone schrieb die Tafel voll, wischte sie aus und schrieb sie wieder voll. Die Luft stand im Raum. Frank versuchte, wach zu bleiben. Die Mädchen schwitzten in der schwülen Hitze und hatten Glanz im Gesicht. Frank wusste, auch in diesem Jahr würde ihn keine ranlassen.

    »Kommst du noch mit was trinken?«, fragte Fabio nach dem Unterricht. Er grinste, als wäre er zu lange Karussell gefahren. Daniel hatte recht gehabt. Fabio war ein Idiot. Trotzdem saßen sie auch in diesem Jahr wieder nebeneinander und taten, als wenn sie Freunde wären.

    »Keine Zeit …«

    »Wichsen kannst du auch später. Komm mit und wir quatschen über die Ferien.«

    Frank hatte keine Lust über die Ferien zu quatschen. Es waren die miesesten Ferien gewesen, die er bisher erlebt hatte. Sie verabschiedeten sich bei den Fahrrädern, und Frank sah Fabio über den Schulhof davonkurven. Für einen Moment hatte er das Gefühl, alles könnte wieder so sein wie früher.

    Der Himmel war blau und ohne Wolken, die Baumkronen leuchteten in der Sonne, und aus dem Gebäude strömte die Menge über die Straße und brachte den Verkehr zum Erliegen. Autos hupten. Leute fluchten. Die Luft brannte in der Hitze des Nachmittags.

    Frank stand an der Haltestelle in der Menge und wartete auf den Bus. In seinem Schädel hämmerte das Blut. Irgendwer erzählte was von einer Arschfickparty. Alle lachten.

    Frank schaute sich die Leute an. Er schaute sich die Häuser, die Straße und die Bäume an und hatte keine Ahnung, was das alles mit ihm zu tun haben sollte.

    Als der Bus kam, setzte er sich ans Fenster, legte den Kopf an die Scheibe und fühlte seinen Schädel vibrieren. Plötzlich fürchtete er, es nicht mehr nach Hause zu schaffen.

    2

    Die Siedlung lag am Rande der Stadt zwischen den Feldern einer weiten Ebene und einem kleinen dunklen Wald, hinter dem das Rauschen der Züge zu hören war. Über dem Horizont lag der Himmel in einem endlosen Blau, und auf der Straße flimmerte die Luft in der Nachmittagshitze.

    Frank ging durch die Unterführung, in der Tag und Nacht das Neonlicht brannte und kam zu den Containern, wo der Sperrmüll bis auf die Straße lag. Aus der Tiefgarage stank es wieder nach Pisse. Auf dem Hof spielten die Kinder Fußball und schossen das Leder auf die Mauer mit den Graffiti. Frank betrat die Eingangshalle, spuckte das Kaugummi in den Kübel mit den Plastikpflanzen und nahm den Aufzug in den elften Stock.

    Seine Mutter stand in der Küche und machte Essen.

    »Da bist du ja …«

    Sie trug das graue Kostüm, das sie oft anhatte, wenn sie von der Arbeit in der Kanzlei nach Hause kam. Auf dem Herd standen zwei Töpfe, es gab Nudeln und Fleischsauce, und im Radio auf der Fensterbank spielten sie wieder den Sommerhit. Frank hasste den Sommerhit. Es war kein guter Sommer gewesen.

    »Hast du Hunger?«

    Frank schüttelte den Kopf.

    Seine Mutter hörte auf im Topf zu rühren und legte die Hand an die Hüfte, als wäre sie noch immer eine junge Frau.

    »Schlechte Laune?«

    Auf den Balkonreihen gegenüber leuchteten die Markisen im Sonnenlicht, und der Dampf über den Töpfen zog durch das offene Fenster nach draußen. Einen Moment standen sie beide nur da und wussten nicht, was sie sagen sollten. Dann nahm Frank seine Tasche und verschwand auf sein Zimmer.

    Er ließ sich aufs Bett fallen, schloss die Augen, und nur die Radiomusik aus der Küche verband ihn noch mit einer Welt, die ihn nicht mehr interessierte. Regungslos lag er da und versuchte mit einem Atemzug tausend Jahre auszuhalten.

    Irgendwann rief ihn seine Mutter zum Essen, und Frank setzte sich an den Tisch und starrte auf den Teller.

    »Hab doch gesagt, ich hab keinen Hunger …«

    Seine Mutter schob sich die Brille auf der Nase zurecht. Sie sah aus wie ein Politiker auf einem Wahlplakat, der versuchte, das Volk zu belügen.

    »Die schönen Nudeln …«

    Frank hatte keine Ahnung, was an den Nudeln schön sein sollte. Seine Mutter fing an zu essen, und Fleischsauce klebte an ihrem Kinn. Es sah aus wie etwas, das man im Medizinstudium zu sehen bekam.

    Frank schob den Teller beiseite und machte den Jogurt auf. Kirschgeschmack. Andauernd kaufte seine Mutter Kirschgeschmack. Die Musik im Radio wurde unterbrochen von einer Meldung über einen Falschfahrer auf der Autobahn. Bald würde es krachen. Brennender Schrott auf blutigem Asphalt. Alles bedeckt mit Fleischsauce und Nudelgedärm. Dann spielte wieder Musik, und seine Mutter wischte sich die Fleischsauce vom Kinn.

    »Wie war´s in der Schule?«

    »Wie soll´s gewesen sein?«

    »Das frag ich dich …«

    Frank rührte mit dem Löffel im Kirschjogurt.

    »Wie immer …«

    »Habt ihr keine neuen Lehrer?«

    »In Deutsch …«

    »Und?«

    »Keine Ahnung.«

    »Mann oder Frau?«

    »Frau …«

    »Und der Name?«

    Frank zuckte mit den Schultern. Seine Mutter schüttelte den Kopf.

    »Ich weiß die Namen meiner Lehrer noch immer!«

    »Selbst schuld …«

    Frank dachte wieder an die Kadenberg. Plötzlich war sie einfach da gewesen.

    »Gehst du am Wochenende zu deinem Vater?«

    »Keine Ahnung …«

    »Wäre schön …«

    Seine Mutter griff zu den Vitamintabletten, und das Wasser im Glas verfärbte sich zu einer gelben Brause. Seine Mutter glaubte an die Macht von Vitamintabletten, achtete auf ihr Aussehen und ging regelmäßig zum Sport. Nur manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, wurden die Falten in ihren Augenwinkeln tiefer, und mit einem Blick, der müde und ratlos wirkte, schien sie nach etwas Ausschau zu halten, das sie vor langer Zeit verloren hatte.

    »In den Fabriken mischen sie Beruhigungsmittel ins Essen«, sagte Frank.

    Seine Mutter grinste.

    »Sicher eine Verschwörung …«

    »Die Politbonzen machen mit den Konzernen gemeinsame Sache. Die einen beherrschen das Volk und die anderen kassieren die Kohle.«

    »Wenn du meinst …«

    »Ich weiß, was da läuft. Bei mir wirkt das Zeug nicht.«

    Seine Mutter blickte ihn über den Rand der Brille an.

    »Vielleicht sollten sie mal die Dosis erhöhen?«

    Frank mochte es nicht, wenn seine Mutter versuchte witzig zu sein. Dann bekam sie eine Nachricht auf dem Handy und tippte gleich eine Antwort zurück.

    »Von Renate …«

    »Will ich nicht wissen«, sagte Frank.

    Parfumgestank hing in der Wohnung, wenn die Freundinnen seiner Mutter alle paar Wochen zu Besuch kamen, und aus dem Wohnzimmer klang das Lachen von vier Frauen, die zu viel Prosecco getrunken hatten. Dauernd beschwerten sie sich über ihre Männer, die keine Ahnung hatten oder über die Kinder, die ihnen das Leben schwermachten, sie jammerten über den Haushalt oder die Arbeit oder das Geld, das immer weniger wurde und beteuerten, wie nötig sie es hatten, endlich mal wieder aus allem rauszukommen. Dabei hatte Frank den Eindruck, es machte ihnen Spaß, unglücklich zu sein.

    Renate war keine Ausnahme. Im Flur vor dem Bad hatte sie eines Abends aus Versehen mit den Brüsten seinen Arm gestreift und gelächelt. Seitdem hoffte Frank auf ihr Einverständnis, wenn er beim Wichsen an sie dachte.

    Seine Mutter schwieg und aß weiter. Frank schob den Jogurtbecher über den Tisch und verschwand wieder auf sein Zimmer. Er warf sich aufs Bett und schloss die Augen. Noch bis zum Abend hörte er seine Mutter durch die Wohnung laufen, beschäftigt mit den unzähligen Kleinigkeiten, die ihr ganzes Leben ausmachten.

    »Wir sollten den Scheißladen abbrennen«, hatte Daniel an ihrem letzten gemeinsamen Abend vor den Ferien gesagt. »Alles abfackeln und drauf geschissen …«

    Er langte unter das Bett, das sie noch nicht auseinandergebaut hatten und holte eine Flasche Jägermeister hervor. Frank ließ es bleiben. An ihrem letzten gemeinsamen Abend wollte er einen klaren Kopf behalten. Daniel nahm einen großen Schluck und ließ die Flasche wieder unter dem Bett verschwinden.

    »Jetzt mach nicht auf trocken …«

    Der ganze Umzug kam ihnen vor wie ein großes Missverständnis. Frank blickte auf die fertig gepackten Kartons in der Ecke und hörte von nebenan, wie Daniels Eltern dabei waren, das Wohnzimmer abzubauen. Daniel drehte die Musik lauter.

    »Und denk dran, ich will dich morgen hier nicht mehr sehen!«

    »Aber die anderen kommen«, sagte Frank. »Die haben zum Abschied noch eine Überraschung besorgt.«

    »Scheiß auf die Überraschung! Hauptsache du bist nicht da und ziehst eine Fresse.«

    Sie hörten Musik und erzählten von früher, und nach einer Weile wollte Daniel wissen, welche Filme im Kino liefen. Frank griff zum Handy, um nachzuschauen. Plötzlich wurde ihnen klar, dass sie nicht mehr zusammen gehen würden. Daniel machte die Musik aus und warf einen Blick aus dem Fenster. Frank griff doch noch nach dem Jägermeister unter dem Bett und nahm einen großen Schluck.

    »Brenn dir einen«, sagte Daniel. »Hau weg!«

    Als es Zeit war zu gehen, stand Daniels Mutter auf dem Flur und hatte ganz rote Augen. Sie nahm Frank in die Arme, was sie noch nie getan hatte, und Daniels Vater schüttelte ihm lange die Hand und erzählte von einem neuen Kapitel, das nun für sie alle beginnen würde. Frank verstand kein Wort.

    Daniel begleitete ihn nach unten. Im Aufzug standen sie beide in der Ecke und wussten nicht, was sie sagen sollten. Daniel sah blass aus. Seine Augen funkelten vom Jägermeister in einem irren Glanz.

    Frank konnte nicht glauben, dass es ihr letzter gemeinsamer Abend war. Am Himmel leuchteten die Sterne in einem magischen Licht, und von den Feldern wehte ein lauer Wind zur Siedlung herüber. Es war genau die richtige Nacht, um sich mit ein paar Bier ins Gras zu legen und den Beginn der großen Ferien zu feiern.

    Von früher gab es noch genug zu erzählen – von den Mutproben an den Bahngleisen, die sie als Kinder gemacht hatten, der Prügelei mit den Kanaken und dem ersten Besäufnis auf Wodka und Bier. Ärger hatte es genug gegeben! Immer waren sie davongekommen. Abgetaucht und weggeduckt. Bis zu diesem Abend. Und einer musste als Erster gehen. Daniel reichte ihm die Hand.

    »Und lass dich nicht ficken!«

    Frank kriegte kein Wort raus. Daniel blickte ihn an. Frank erschrak. Daniel war schon längst woanders. Frank drehte sich um und lief über die Straße. Als er stehenblieb und sich umsah, war Daniel bereits verschwunden. Der Hauseingang lag verlassen im Neonlicht.

    Frank rannte los und stürmte über den Parkplatz. Er stolperte an den Autos vorbei und jagte von einer Hausnummer zur nächsten. Vor seinen Augen drehte sich alles. Auf einer Wiese hinter den Häusern konnte er nicht mehr weiter und fiel in der Dunkelheit auf die Knie. Seine Lunge brannte. Sein Herz raste. Dann kotzte er den Jägermeister aus.

    Seine Mutter lag schon im Bett und schlief. Sie hatte ihm erlaubt, länger wegzubleiben. Frank schlich ins Bad, setzte sich auf den Rand der Wanne und suchte im großen leeren Auge der Waschmaschine nach einer Antwort …

    Frank stand vom Bett auf und schaltete den Fernseher ein. Die Meldungen in den Nachrichten kamen ihm so lächerlich vor wie die Trickfilme auf dem Kinderkanal – Bomben explodierten, Flugzeuge stürzten ab, Städte fielen in Trümmer. Egal, was passierte, immer gab es einen, der wieder aufstand und weitermachte.

    Auf dem Balkon gegenüber stand ein alter Mann in Unterhemd mit Bierdose in der Hand. Er starrte in den Hof und sah aus, als wollte er springen. Seine blasse Haut schien sich im Abendlicht aufzulösen. Sonst war es in der Siedlung ruhig.

    Der Himmel war weit und klar, der flirrende Dunst der Hitze hatte sich verzogen, und irgendwo hinter dem Horizont lebte Daniel sein neues Leben und ließ nichts mehr von sich hören. Die Ferien waren vergangen wie der Traum einer Nacht. Die letzten Tage des Sommers hatten begonnen, und Frank stand am Fenster, blickte in die Ferne und wusste, dass alles keinen Sinn mehr hatte.

    3

    Die Kadenberg betrat die Klasse, legte die Tasche auf das Pult und blickte auf den Schulhof hinaus. Draußen fuhr der Wind durch die Bäume, und die Wolken zogen in langen Bahnen über den Himmel.

    Einen Moment schloss sie die Augen und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Es sah aus, als ob sie schwebte. Dann wandte sie sich wieder der Klasse zu, und mit einem Blick, der wohl eine Begrüßung sein sollte, suchte sie die Reihen ab, als wäre sie schon immer ihre Lehrerin gewesen.

    An diesem Vormittag trug sie eine weiße Bluse mit weitem Kragen und kurzen Ärmeln und hatte das Haar zu einem Knoten gebunden, die hohe Stirn und der schwarze Lidstrich betonten den strengen Ausdruck ihres Gesichts. Ihre Augen leuchteten. Grüne Augen.

    »Worüber haben wir das letzte Mal gesprochen?«

    In der Klasse war es still. Sie stand an der Tafel und legte den Finger auf das Feuermal am Kinn.

    »Nicht einer, der sich erinnert?«

    Niemand meldete sich.

    »Oder sich erinnern will?«

    Frank zog den Kopf ein und schaute sich um. Er hatte sich schon lange nicht mehr gemeldet. In keinem Fach. Die Kadenberg warf einen Blick auf den Sitzplan und rief einen Namen auf. Fabio biss sich vor Schreck auf die Lippen und fing an zu stottern. Weit kam er nicht. Frank musste sich das Grinsen verkneifen. Mitleid war für die Sonderschule.

    Die Kadenberg rief einen anderen Namen auf. Diesmal erwischte es Francesca in der letzten Reihe. Francesca gähnte. Was sie an Oberweite zu bieten hatte, fuhr sie aus wie ein Fahrwerk vor der Notlandung. Bei den meisten Lehrern funktionierte der Trick. Doch die Kadenberg stand nicht auf kleine Mädchen.

    »Wie war die Frage?«

    Die Kadenberg schaute böse. Zwei Blindgänger gleich zu Beginn der Stunde, das war nicht sehr ermutigend. Das Feuermal an ihrem Kinn glühte.

    Francesca wurde rot. Plötzlich schienen ihre Brüste in dem engen Oberteil kleiner zu werden. Die Kadenberg stand am Pult und erledigte Francesca mit einem Blick. Frank hatte keine Ahnung, wie sie das mit den Augen machte. Francesca sank auf ihrem Platz zusammen und hielt den Mund.

    Die Kadenberg trat ans Pult, legte den Sitzplan beiseite und holte ihr Notebook aus der Tasche. Auf die Rückseite des Bildschirms hatte sie einen kleinen grinsenden Totenkopf geklebt. Damit war klar, sie wurden von einer Verrückten unterrichtet.

    »Ich habe den Eindruck, es fällt euch schwer, meine Arbeitsweise zu akzeptieren. Ich weiß nicht, was mein Vorgänger mit euch gemacht hat, aber ich mache es anders!«

    Frank glaubte ihr jedes Wort.

    »Schlechte Vorbereitung, vergessene Hausaufgaben und andere Schlampigkeiten bewerte ich in Zukunft mit einem Minus.«

    Aus ihrem Mund klang der drohende Untergang wie eine geheimnisvolle Prophezeiung. Erschreckend und verführerisch zugleich.

    »Wenn die Klasse sich weigert mitzuarbeiten, werde ich die Klausuren in Zukunft nicht ankündigen. Dementsprechend dürfte der Notenspiegel ausfallen …«

    Sie ging durch die Reihen und versuchte in ihren Gesichtern zu lesen. Es gab nicht viele Lehrer, die das konnten. Die Kadenberg kannte alle Tricks und Ausreden. Frank hing an ihren Lippen.

    Irgendwann trat sie einen Schritt zur Seite, und mit einer Bewegung, die Frank noch bei keiner Lehrerin gesehen hatte, hob sie den Po über die Tischkante, setzte sich auf das Pult und lehnte sich mit der Schulter ins Sonnenlicht. Ihre Augen strahlten.

    Während sie redete, zog sie mit dem Schuh kleine Kreise durch die Luft. Frank konnte nicht aufhören hinzuschauen. Immer wieder zog sie mit dem Schuh kleine Kreise durch die Luft. Hin und her und auf und ab. Ein schwarzer Lederschuh in der Sonne. Frank starrte auf den Saum ihrer Hose und den nackten Fußknöchel darunter. Bisher hatte er in der Deutschstunde noch nie einen Ständer gekriegt.

    Die Kadenberg redete weiter.

    »Fontane war auch ein großer Schriftsteller dieser Zeit …«

    Hörte nicht auf zu reden.

    »Aber zu Fontane kommen wir später …«

    Frank verstand kein Wort. Die ganze Zeit sah er die Kadenberg auf dem Pult in der Sonne sitzen und mit dem Schuh kleine Kreise in die Luft zeichnen. Erst der Gong riss ihn aus seinen Gedanken.

    Nach dem Unterricht kamen alle zusammen und kriegten sich nicht mehr ein. Vor allem die Mädchen konnten nicht aufhören, sich das Maul zu zerreißen. Francesca kramte in ihrem Täschchen und frischte das Make-up wieder auf. Ihre Hand zitterte.

    »Die Alte will uns ficken«, sagte Fabio und zog ein dummes Gesicht, das gut zu ihm passte. Frank hatte nichts dagegen. Wenn es eine Klasse verdient hatte, mal wieder richtig gefickt zu werden, dann ihre.

    In der Pause saßen sie draußen vor der Halle und rauchten. Frank spuckte auf die Straße. Ohne Daniel machte selbst das Qualmen keinen Spaß mehr.

    Elena kaute einen Apfel und machte Geräusche, als würde sie mit der Nase essen. Sie war kein Mädchen, für das sich die Jungs interessierten. Mit dem kurzen Haar und der flachen Brust sah sie selbst aus wie ein Junge, der sich nicht für Mädchen interessierte.

    »Was macht Daniel?«

    Frank blies den Rauch in die Luft und nickte. Auf dem Parkplatz gegenüber standen die Autos der Lehrer und glänzten in der Sonne. Einer der Wagen gehörte sicher der Kadenberg.

    »Wenn er in der neuen Schule das Maul auch so weit aufreißt, kriegt

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