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Das Science Fiction Jahr 2016
Das Science Fiction Jahr 2016
Das Science Fiction Jahr 2016
eBook1.166 Seiten11 Stunden

Das Science Fiction Jahr 2016

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Über dieses E-Book

Im Jahr 2015 erschien das Science Fiction Jahr, das informative Kompendium zum wichtigsten Genre der Zukunft, erstmals im Golkonda Verlag. Dass der Staffelwechsel, nach neunundzwanzig Ausgaben im Münchner Heyne Verlag, als gelungen bezeichnet werden kann, bestätigt eine Auszeichnung mit dem Kurd Laßwitz Preis in der Kategorie "Sonderpreis für einmalige herausragende Leistungen im Bereich der deutschsprachigen Science Fiction 2015".

Der nächste Band ist in Vorbereitung, und vorgesehen sind folgende Themen: David Brin erklärt, warum 2015 das beste Weltraumjahr aller Zeiten war; Michael Höffler und Ralph Sander werden über die Jubiläen der Fernsehserien Raumpatrouille Orion und Raumschiff Enterprise Wissenswertes beisteuern; Kai U. Jürgens hat Christopher Ecker interviewt und stellt dessen neuen Roman vor; von der Geschichte der SF handeln Beiträge über Olaf Stapledon und Isaac Asimov; Elisabeth Bösl interviewt Dmitry Glukhovsky zu seinem aktuellen Bestseller Metro 2035 und zu seiner Sicht auf die Verhältnisse in Russland; Uwe Neuhold und Sascha Mamczak machen uns mit dem aktuellen Stand der Dinge in Sachen "Künstliche Intelligenz" vertraut; und vieles mehr.

Darüber hinaus wird in einzelnen Rezensionsblöcken das ganze Spektrum der Science Fiction ausgeleuchtet: Literatur, Film, Comic, Games und Hörspiele. Eine Bibliographie der 2015 erschienenen SF (und nur dieser) sowie eine Übersicht der 2015 verliehenen SF-Preise und ein Nekrolog runden den Band ab.
SpracheDeutsch
HerausgeberGolkonda Verlag
Erscheinungsdatum15. Okt. 2016
ISBN9783944720982
Das Science Fiction Jahr 2016

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    Buchvorschau

    Das Science Fiction Jahr 2016 - Hannes Riffel

    Das Science Fiction Jahr 2016

    Originalausgabe

    Die einzelnen Rezensionssparten wurden verantwortet von:

    Hardy Kettlitz (Bücher)

    Andy Hahnemann (Film)

    Alexander »molosovsky« Müller (Games)

    Hannes Riffel (Comics)

    Martin Heindel (Hörspiele)

    © 2016 by Golkonda Verlag GmbH

    Die Rechte an den einzelnen Texten liegen bei den AutorInnen und ÜbersetzerInnen.

    The copyright to the individual texts is held by the authors and translators.

    Lektorat: Hannes Riffel

    Korrektur: Inger Banse

    Umschlaggestaltung: s.BENeš [http://benswerk.wordpress.com]

    Titelfotos: www.nasa.gov

    E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

    Golkonda Verlag

    Charlottenstraße 36

    12683 Berlin

    golkonda@gmx.de

    www.golkonda-verlag.de

    ISBN: 978-3-944720-97-5 (Buchausgabe)

    ISBN: 978-3-944720-98-2 (E-Book)

    Inhalt

    Titel

    Impressum

    Editorial

    David Brin: 2015 war das beste Weltraum-Jahr aller Zeiten

    John Rieder: Zur Definition von SF oder auch nicht

    Frank Weinreich: Ausbruch aus Wolkenkuckucksheim

    REVIEW | BUCH

    Michael K. Iwoleit: Rare Lichtblicke

    Udo Klotz: Deutschsprachige Science-Fiction-Romane 2015

    Simon Weinert: Die Perspektive der Fachbuchhändler – Science Fiction im Jahr 2015

    Christoph Jarosch: Hugogate

    Elisabeth Bösl: Ein Gespräch mit Dmitry Glukhovsky

    Kai U. Jürgens: Ein Gespräch mit Christopher Ecker

    Sascha Mamczak und Uwe Neuhold: Maschinen sehen uns an

    REVIEW | FILM

    Christian Endres: Von Akte X bis iZombie

    Ralph Sander: 50 Jahre Star Trek – Grund zur Freude, oder …?

    Michael-Lothar Höfler: Raumpatrouille

    REVIEW | GAME

    Karlheinz Steinmüller: Von Babel zum Babelfisch. Notizen zu Sprachutopien

    Matthias Schwartz: Wunderdinge und Glücksmaschinen: Fortschrittsvisionen in sowjetischer Science Fiction

    REVIEW | COMIC

    Wolfgang Neuhaus: Eine Lektion in Sachen Lebensphilosophie

    Klaus Neuhoff: Isaac Asimovs Foundation als Geschichtserzählung

    REVIEW | HÖRSPIEL

    TODESFÄLLE

    PREISE

    FACT | BIBLIOGRAPHIE

    FACT | AUTOREN UND MITARBEITER

    Science Fiction bei Golkonda

    Editorial

    Liebe Leserinnen und Leser,

    Sie werden es uns sicher nachsehen, wenn wir mit einer für uns sehr erfreulichen Nachricht beginnen: Das SCIENCE FICTION JAHR 2015 – und damit der erste Band des »Neustarts« im Golkonda Verlag – wurde in der Kategorie »Sonderpreis für einmalige herausragende Leistungen im Bereich der deutschsprachigen Science Fiction« mit dem ›Kurd Laßwitz Preis‹ ausgezeichnet. Diesen Preis haben sich natürlich vor allem die zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jahrbuchs verdient; was schon für die bei Heyne erschienenen Ausgaben galt, gilt nun umso mehr: Das SCIENCE FICTION JAHR ist ein Ergebnis der Anstrengung einer großen Gruppe von Enthusiasten. Ohne sie – ohne Euch! – wäre ein solches Projekt nicht einmal ansatzweise möglich.

    Eine weitere gute Nachricht ist, dass sich diese erste Golkonda-Ausgabe des SCIENCE FICTION JAHRS gerechnet hat. Wir haben uns um eine sehr zurückhaltende, seriöse Kalkulation bemüht, und schon Ende des Jahres 2015 zeichnete sich ab, dass die Kosten gedeckt werden können. Das stimmt uns für die Zukunft recht hoffnungsvoll, zumal noch immer Nachbestellungen eintreffen. Das Wichtigste aber ist, dass das Feedback zur letztjährigen Ausgabe, sowohl von Leserinnen und Lesern wie von der Kritik, insgesamt sehr positiv war: Die Neuerungen wurden gelobt, ebenso wie das Beharren auf Bewährtem. Vielen Dank dafür!

    Eine entsprechende Mischung lag uns daher auch bei der diesjährigen Ausgabe am Herzen. Eröffnet wird sie von dem großen David Brin, der uns erklärt, warum 2015 das beste Weltraum-Jahr aller Zeiten war. Das glauben Sie nicht? Dann lesen Sie selbst! Im Anschluss begibt sich John Rieder auf die Suche nach einer gültigen Definition der Science Fiction. Ein solches Unterfangen ist nicht neu und selten unumstritten. Aber Rieders Ansatz hat uns so überzeugt, dass wir diesen längeren, anspruchsvollen Text unbedingt aufnehmen wollten. Wer weiß, vielleicht setzen wir damit sogar eine Diskussion in Gang.

    In zwei aktuellen Beiträgen macht sich zum einen Frank Weinreich Gedanken über die Rolle der Phantastik in der Gesellschaft – angenehm unaufgeregt und am Praktischen orientiert –, während Christoph Jarosch die Vorgänge rund um den sogenannten »Hugogate« analysiert: den Versuch einer Gruppe reaktionärer SF-Autoren, den einflussreichsten aller SF-Preise zu kapern. Was ihnen, wie man ab Seite 543 sieht, leider auch gelungen ist.

    Ebenfalls sehr aktuell, um nicht zu sagen brisant, ist das Interview, das Elisabeth Bösl mit dem russischen Bestseller-Autor Dmitry Glukhovsky geführt hat. Hier lernen wir einen Künstler mit einem souveränen politischen Standpunkt kennen – und der geht weit über das hinaus, was wir aus den Medien für gewöhnlich über sein Heimatland erfahren. In einem zweiten Interview gibt Christopher Ecker Auskunft über seine Science-Fiction-Wurzeln und darüber, wo diese in seinem Werk Spuren hinterlassen haben. Gesprächspartner Kai U. Jürgens rezensiert Eckers neuesten Roman dazu passend auf Seite 86ff.

    Unter dem vielsagenden Titel »Maschinen sehen uns an« gehen Sascha Mamczak und Uwe Neuhold der zentralen SF-Frage nach, ob es einmal eine »starke« künstliche Intelligenz geben wird. Sie kommen dabei zu einer etwas anderen Schlussfolgerung als unser Rezensent Wolfgang Neuhaus in seiner Besprechung des Sachbuchs Superintelligenz von Nick Bostrom, das in diesem Zusammenhang großes Aufsehen erregt hat und mit dem sich auch Mamczak und Neuhold auseinandersetzen.

    Zwei prägende Fernsehserien feiern dieses Jahr ihren 50. Geburtstag: Star Trek und Raumpatrouille Orion. Wir haben das zum Anlass genommen, zwei ausgewiesene Kenner der Materie um einen informativen Rückblick zu bitten. Ralph Sander und Michael-Lothar Höfler haben eine sehr dezidierte Meinung zu ihrem jeweiligen Objekt der Begierde – und die Frage, wie es denn damit weitergehen könnte oder sollte, spaltet offenbar noch die kleinste Fangruppierung.

    Historische Grundlagenforschung zum Thema Sprache und Science Fiction betreibt Karlheinz Steinmüller und liefert uns damit so manche Anregung, was es noch an verlorenen »Proto«-Klassikern der SF zu entdecken gibt. Matthias Schwartz wiederum verschafft uns, ausgehend von der recht ungewöhnlichen Heftroman-Serie Mess Mend oder die Yankees in Petrograd, einen Überblick über die unterschiedlichen Fortschrittsvisionen in der sowjetischen Science Fiction.

    Wolfgang Neuhaus nimmt die Neuausgabe von Olaf Stapledons Die Letzten und die Ersten Menschen zum Anlass, über die Lebensphilosophie dieses großen Schriftstellers zu spekulieren. Und Klaus Neuhoff stellt, vor dem Hintergrund von Isaac Asimovs klassischer FOUNDATION-Trilogie, weitreichende Überlegungen zur Zukunft der Menschheit an.

    Flankiert werden diese längeren Beiträge von den Rezensionsblöcken, in denen es das SCIENCE FICTION JAHR unternimmt, wenn nicht vollständig, dann doch einigermaßen repräsentativ über das Genre in den Medien Buch, Film, Computerspiel, Comic und Hörspiel zu berichten. Ebenso erstaunlich wie erfreulich ist dabei wieder einmal die Vielfalt der behandelten Themen und der eingesetzten Ausdrucksmittel – ein Zeugnis für die bleibende Vitalität der Science Fiction.

    Während diese Ausgabe in Druck geht, suchen wir bereits nach Anregungen für den nächsten Band. Und wünschen Ihnen bei der Lektüre der nun folgenden über 600 Seiten ebenso viel Vergnügen, wie wir bei der Zusammenstellung hatten.

    Hannes Riffel & Sascha Mamczak

    David Brin

    2015 war das beste Weltraum-Jahr aller Zeiten

    Ein NASA-Berater und Science-Fiction-Bestsellerautor über die Rückkehr einer großen Liebe: die Raumfahrt

    Was zeichnet das Jahr 2015 aus, jetzt, wo es hinter uns liegt? Abgesehen davon, dass es (leider) den Rekord für das bisher heißeste Jahr in der bekannten Geschichte hält? Inmitten guter, schlechter und verstörender Nachrichten erscheint es mir vor allem bemerkenswert, dass 2015 für die Menschen das mit Abstand beste Jahr in Sachen Weltraum war – also im Hinblick auf die Erforschung des uns umgebenden Universums.

    Wie ist das möglich? Selbst wenn man zufällig zu den Leuten gehört, denen es etwas bedeutet, mutig dorthin vorzudringen, wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen ist, muss man doch den Eindruck gewinnen, dass unsere glanzvollste Zeit, die Ära der Apollo-Mondlandungen, längst hinter uns liegt. Den jungen Leuten von heute entlockt es anscheinend nur ein Gähnen, wenn wir im Fernsehen das NASA-Programm einschalten oder anfangen, von der Besiedelung des Mars zu reden. Die Vereinigten Staaten wenden 0,5 Prozent ihres jährlichen Haushaltsbudgets von 3,8 Billionen Dollar für Raumfahrtprojekte aus (während es in der Apollo-Ära 5 Prozent waren). Die meisten unserer Mitbürger halten die Zahlen für höher, und viele finden, dass wir zu viel für die Raumfahrt ausgeben.

    Gleichzeitig müssen diejenigen, denen die Raumfahrt etwas bedeutet, feststellen, dass gerade ihr romantischer – nämlich der bemannte – Teil in anhaltendem Schlummer zu liegen scheint, obwohl man uns verspricht, dass sich das in drei bis vier Jahren ändern könnte. Sind also meine Begeisterungsstürme über ein bestes Weltraumjahr aller Zeiten voreingenommen – zugunsten von Robotern? Als Planetenastronom im Beraterstab der Innovative and Advanced Concepts Group der NASA weiß ich, wie viele erstaunliche Ideen aus kreativen Menschen hervorsprudeln. Und ja, mein anderer Hauptberuf als Science-Fiction-Autor heizt meine Begeisterung noch weiter an.

    Tatsächlich möchte ich später in diesem Essay aufzeigen, dass unser wissenschaftliches Programm zur Erforschung des Kosmos die wichtigsten visuellen Kunstwerke der Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat.

    Aber beginnen wir vorerst mit greifbaren und unbestreitbaren Argumenten dafür, dass einem die Raumfahrt wichtig sein sollte. Pragmatisch betrachtet haben Ablegertechnologien wie die gesamte Solarenergie, Mikrochips und die Computerindustrie ihren Anfang bei der NASA genommen, wie auch die Kommunikationssatelliten, durch die in armen Regionen, wo die Menschen von einem Festnetzanschluss nur träumen können, Mobiltelefone funktionieren. Wir nehmen das globale Ortungssystem GPS, das in der Erdumlaufbahn verankert ist, für selbstverständlich. Durch unsere Satelliten können wir brillante Modelle unserer Atmosphäre entwickeln, durch die die alten Vier-Stunden-Wetterberichte sich in erstaunlich detaillierte 14-Tage-Vorhersagen verwandelt haben. Die Jahresklimavorhersagen helfen Bauern bei der Ernte- und dem Normalbürger bei der Urlaubsplanung.

    Ach ja, dann gibt es da noch einen nur selten erwähnten »pragmatischen« Vorteil der Raumfahrt. Ohne Spionagesatelliten, mit denen sich die Einhaltung von Waffenkontrollabkommen überprüfen lässt, wären wir wahrscheinlich alle längst in irgendeiner nuklearen Katastrophe ums Leben gekommen. Auch nicht zu verachten.

    Aber all diese Vorteile resultieren aus langsamen, stetigen Entwicklungen. Was war so besonders am Jahre 2015?

    Der Mars, ganz aus der Nähe: Der Rover Curiosity nimmt bei der Big Sky-Bohrstelle, im Innern des Gale-Kraters, ein Selfie auf. Die Rover-Missionen der NASA tragen weiterhin erstaunliche Hinweise auf eine Zeit zusammen, als noch Meere auf dem Roten Planeten wogten. (Bild: NASA/JPL-Caltech/MSSS)

    Kunde von Überall

    Beinahe wöchentlich versorgen unsere treuen Robotersonden uns mit einem steten Strom epochaler Neuigkeiten. Allein in diesem einen Jahr haben wir ganz viel über den Merkur, die Venus und die Erde gelernt. Vor allem über die Erde, wo nach unverzeihlichen Verzögerungen eine Schar von Wissenschaftssatelliten wie das Orbiting Carbon Observatory endlich wertvolles Beweismaterial darüber sammeln, was mit unserer Heimatwelt-Oase geschieht.

    Aber weiter hinaus! Im letzten Jahr hat einer unserer kleinen Botschafter den Zwergplaneten Ceres mit seinen seltsamen weißen Flecken und möglichen unterirdischen Seen umkreist und kartiert.

    Fünf Mars-Orbitalsonden haben uns Hinweise darauf geliefert, was aus der einst so reichhaltigen Atmosphäre jener Welt geworden ist und uns so dabei geholfen, unsere immer besser werdenden Klimamodelle zu verfeinern. Unter anderem haben sie gezeigt, dass gelegentlich noch immer flüssiges Wasser über die Marsoberfläche strömt, so zum Beispiel auch im vergangenen Jahr. Und als wenn das nicht schon eine ganze Menge wäre, haben ebendiese Orbitalsonden zwischendurch einen Schwenk gemacht, um sich einen Kometen anzusehen, der am Roten Planeten in einem Abstand vorbeigezogen ist, der sehr viel kleiner war als der zwischen Erde und Mond.

    Auch nicht zu vergessen sind unsere tapferen Rover auf der Marsoberfläche, Curiosity und Opportunity, die für uns umhertuckern, auf Berge klettern und Hinweise über die Geschichte des Mars zutage fördern, die bis in die Zeiten zurückreichen, als Meere auf seiner Oberfläche wogten – und die Indizien darauf liefern, wo sich vielleicht immer noch etwas von diesen Wassermassen versteckt. Und dann gibt es nächstes Jahr noch eine Marslandung!

    Richten wir den Blick weiter nach draußen. Pläne für eine Mission zur Erforschung der eisbedeckten Meere Europas wurden angekündigt, und auf längere Sicht sollen U-Boote in die Methanseen entlang der wechselhaften Küsten Titans abtauchen. Dieses Jahr ist die Cassini-Sonde dicht am Saturnmond Enceladus vorbeigezogen und dabei in die Wolken eines Wasservulkans eingedrungen, wo sie nach organischen Stoffen gesucht hat.

    Dabei wollen wir auch nicht die großen Leistungen unserer Freunde von der European Space Agency (ESA) vergessen, die zum Beispiel eine Landung auf einem Kometen durchgeführt haben! Wir haben eine ganze Menge darüber erfahren, wie diese Himmelskörper sich in Asteroiden verwandeln können, auf denen kühne Unternehmer nach Rohstoffen schürfen könnten. Derweil hat die japanische Raumfahrtagentur JAXA am 7. Dezember 2015 endlich ihre vom Pech geplagte Akatsuki-Sonde in eine Umlaufbahn um die Venus gebracht. Herzlichen Glückwunsch!

    Plutos Herz: Vom 5. bis 7. September 2015 funkte die New Horizons-Sonde hochauflösende Fotos und Daten vom Zwergplaneten Pluto. Dieses Foto (in Falschfarben) wurde aus einer Entfernung von ca. 450.000 Kilometern aufgenommen und zeigt Details bis zu einer Größe von 2,2 Kilometern. (Bild: NASA/JHUAPL/SwRI)

    Die Krönung war natürlich die New Horizons – es kommt einem fast vor, als wäre sie in einem anderen Jahrtausend von unserer Erde losgeschickt worden, so lange ist es schon her, aber dieses Jahr ist sie endlich am Pluto vorbeigezogen. In abgrundtiefer Finsternis zeigten die Kameras der New Horizons Bilder von solcher Farbenpracht und Schönheit und wissenschaftlicher Faszinationskraft, dass selbst Zyniker in ihren Bann geschlagen wurden: detailreiche Schnappschüsse des Zwergplaneten, unter anderem zusammen mit seinem faszinierenden Mond Charon, vollgestopft mit Datenmaterial und durch gewaltige Teamwork-Leistungen ermöglicht, bei denen alle Beteiligten ihre unvergleichlichen (und dringend benötigten) Fähigkeiten unter Beweis stellten.

    Hinzu kommt, dass dabei alles so glatt lief und alle ihre Arbeit so gut machten, dass die NASA die New Horizons nun mit ihren noch immer beachtlichen Treibstoffreserven noch fast zwei Milliarden Kilometer weiter weg schickt, um ein besonders seltsames Objekt im Kuipergürtel zu studieren. Das ist schon fast eine interstellare Reise.

    Muss man da noch erwähnen, dass das Hubble-Weltraumteleskop und sein rundes Dutzend Partnergeräte die Astronomie jedes Jahr in großen Sprüngen voranbringen? 2015 ist die Erforschung riesiger, intergalaktischer Gravitationslinsen anscheinend richtig in Fahrt gekommen. Wenn wir nahe Haufen von Dunkler Materie kartieren, können wir beobachten, dass diese Haufen den Raum krümmen und Licht aus den entferntesten Regionen des Universums bündeln, was uns viel über seine Anfangszeiten verrät. Es gibt rasche Fortschritte bei der Entwicklung neuerer, weit besserer Weltraumobservatorien, darunter ein komplexes System, das Gravitationswellen auffangen und entschlüsseln soll. Die erste Testumgebung für diese Technologie wurde 2015 erstellt.

    Eine weitere wichtige Front sind, trotz einiger Rückschläge, die Bemühungen findiger Unternehmer, unseren Zugang zur Erdumlaufbahn zu verbessern. Bei Jeff Bezos’ Blue Origin-Projekt wurde eine Rakete an den Rand des Alls geschickt und kehrte dann zurück, um voll einsatzfähig mit dem Heck auf der ursprünglichen Startfläche zu landen.

    Elon Musks SpaceX wollte sich nicht lumpen lassen und hat am 21. Dezember 2015, zur Wintersonnenwende, eine noch schwierigere Rückkehr zum Landeplatz bewältigt. Damit ist der Weg für einen deutlich preiswerteren Zugang zu den Weiten des Alls geebnet.

    Derweil treiben Virgin Galactic und andere die Entwicklung eigener zukunftsweisender Startsysteme voran, darunter auch einige zum verbesserten Transport von Menschen. Amateure und semiprofessionelle Raumfahrtfreunde entwickeln und miniaturisieren sogenante Cube-Sat-Funktionen, was 2015 darin gipfelte, dass die Planetary Society einen vollausgewachsenen Test-Solarsegler in die Umlaufbahn schickte. Zusammengenommen könnten diese beiden Technologien bedeuten, dass das All eines Tages nicht mehr nur ein Spielplatz für Regierungen und Milliardäre sein wird.

    Ach ja, im Jahr 2015 haben sowohl Planetary Ressources als auch Deep Space Industries die Absicht erklärt, auf der Suche nach und bei der Verwertung von wertvollen Mineralien (insbesondere Wasser) auf Asteroiden mit der NASA zusammenzuarbeiten.

    War’s das? Ganz und gar nicht! Ich würde fortfahren, aber mir geht der Platz aus …

    Der Falke ist gelandet: Zum Erfolg der Mission, den Booster der Falcon-9-Rakete sicher zu landen, fügte Musk hinzu: »Das bringt uns dem Ziel der Errichtung einer Stadt auf dem Mars einen großen Schritt näher. Nur darum geht es.« (Bild: SpaceX)

    Für Profit, zum Vergnügen und um zu überleben?

    Ich erwähnte bereits Asteroidenbergbau-Startup-Unternehmen wie Planetary Ressources und Deep Space Industries. Andere wollen erneut zum Mond. Die Rohstoffe winken, und das Gewinnpotenzial ist gewaltig. So gewaltig, dass ein einziger Asteroid von der richtigen Sorte (wenn er mit Sonnenenergie aufgetaut und in der Umlaufbahn eingeschmolzen werden kann) einen Großteil des Gesamtbedarfs unserer Wirtschaft an Metallen decken könnte, sodass wir die Notwendigkeit, uns ins Fleisch unserer Mutter Erde zu graben, deutlich reduzieren könnten.

    Was einer Rückkehr zur bemannten Raumfahrt ebenfalls Auftrieb geben wird, ist der ungebundene Reichtum unserer wachsenden Kaste von Superreichen. Die ersten Tickets für Suborbital-Abstecher sind bereits über Firmen wie Virgin Galactic verkauft. In meinem Roman »Existenz« stelle ich dar, wie sich dieses Geschäft zu einer Freizeitindustrie verheißungsvollen Ausmaßes entwickelt.

    Aber noch etwas treibt unsere eifrigen Weltraum-Unternehmer an. Es muss zwar oberste Priorität bleiben, unseren Planeten zu retten, aber es ist auch nie falsch, sich einen Notfallplan zurechtzulegen. Kolonien auf dem Mars und auf den Asteroiden würden vielleicht nicht nur Wohlstand produzieren, sondern auch eine Notfallalternative für die menschliche Zivilisation darstellen, falls hier unten alles den Bach runtergeht.

    SpaceX und der Tesla-Pioneer Musk zitieren oft die alte Redensart: »Man sollte niemals alle Eier in einen Korb legen.« Auf kurze Sicht wären alle Kolonien jenseits der Erde natürlich ganz und gar auf Unterstützung von zu Hause angewiesen. Aber auf lange Sicht kann man sich ein Gedeihen der Zivilisation im Sonnensystem durchaus vorstellen – zumindest auf dem Papier. Wie wir nach dem Fukushima-Beben in Japan gesehen haben, braucht selbst eine Insel des Wohlstands manchmal Hilfe. Die Erde und ihre Nachkommen befinden sich vielleicht eines Tages in ähnlicher Abhängigkeit voneinander.

    Dieser Traum wird mit jedem Jahr greifbarer. Tatsächlich ist er kein bisschen weniger glaubwürdig, als wenn Commodore Perry (sinngemäß) zum Shogun gesagt hätte: »Lassen Sie uns Freunde sein. Es ist immer gut, Freunde zu haben.«

    Kompetenz

    Indem man die Errungenschaften der Raumfahrt im Jahre 2015 anpreist, schärft man auch den Blick dafür, wie atemberaubend sorgfältig und gut unsere heldenhaften Ingenieure und Weltraumroboter-Entwickler ihre Arbeit machen müssen, um all diese Wunder zu vollbringen. Winzigste Fehler – in der Größenordnung eines Zehntausendstelprozents – hätten dazu geführt, dass die Kameras der New Horizons in den leeren Raum gezeigt hätten, anstatt makellose Bilder einer schwach erleuchteten Welt zu schießen, die schneller als eine Pistolenkugel an ihr vorbeigesaust ist. Was einmal mehr die Frage aufwirft, die sich schon seit dem Beginn des Raumfahrtprogramms stellt:

    »Wenn wir all das können, können wir dann nicht auch andere Probleme lösen?«

    In unseren Zeiten des reflexartigen, selbstgefälligen Zynismus ist sie vielleicht außer Mode geraten, aber es gibt doch einiges, was für eine zupackende, optimistische Haltung spricht. Die Vorstellung, dass wir Probleme lösen können. Wie sonst lässt sich der spektakuläre Erfolg von Andy Weirs Roman Der Marsianer und seiner Verfilmung mit Matt Damon erklären? Nachdem wir jahrzehntelang Filme gesehen haben, in denen die Helden vor allen Dingen auf der Grundlage ihres rein emotionalen Bauchgefühls, ihres »Instinkts«, handeln, besteht vielleicht ein gewisser Hunger nach anderen Arten von Geschichten. Ein Rezensent beschrieb das Vergnügen, das manche aus Weirs Buch beziehen, als »Kompetenz-Porno«.

    Ja! Los, mach noch was Kompetentes. Ja!

    Vor langer Zeit, zum 45. Jubiläum der Mondlandung, habe ich einen Artikel aus dem Magazin SLATE empfohlen, verfasst vom Journalisten-Urgestein Joel Shurkin, der anno dazumal über die Apollo-Missionen berichtet hatte. Das vorgebliche Thema des Artikels – was Armstrong hatte zum Ausdruck bringen wollen, als er seine ersten Schritte auf dem Mond gemacht hat – ist eigentlich ziemlich banal. Aber Shurkin trägt ein bewegendes Argument vor:

    Wir sollten das All erforschen, weil wir Menschen das nun mal so machen … wir forschen. Wir sind nicht zufrieden mit dem Ort, an dem wir uns aufhalten, wir wollen wissen, was dort drüben ist. Das ist Teil unserer DNS. Als die großen Entdeckungsreisen auf der Erde begannen, gab es wahrscheinlich auch Leute, die Cook und Magellan und Hudson und Columbus und all den anderen erzählt haben, dass sie bloß Ressourcen verschwendeten oder dass Gott, wenn er gewollt hätte, dass wir eine Nordwest-Passage finden, Straßenschilder aufgestellt hätte oder so. Aber sie sind trotzdem losgefahren. So sind wir.

    Dazu nicke ich begeistert, habe aber auch einen kleinen zeitgemäßen Einwand. Zusätzlich zu Cook und Magellan und Columbus sollten wir ganz gewohnheitsmäßig auch die Namen anderer, nicht-westlicher Entdecker nennen. Wie den des arabischen Wanderers Ibn Battuta, des großen chinesischen Admirals Cheng-Ho und des polynesischen Pioniers Hotu Matua. Das ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit – und man kann damit ganz pragmatisch den reflexartigen Vorwurf des »männlich-weißen eurozentrischen Chauvinismus« kontern –, es zeigt auch, dass man selbst einer von denen ist, die den Horizont erweitern. Immer dazu bereit, beim Denken die engen Grenzen der eigenen Erfahrungswelt zu überschreiten.

    Damit erweist man sich als jemand, der es würdig ist, mit anderen darüber zu reden, wie man Grenzen, die weit entfernter liegen, durchbricht. Darüber, wie man den Horizont ein ganzes Stück mehr erweitert.

    Das All hat letztendlich nichts mit unseren faden politischen Metaphern von links und rechts zu tun. Es hat etwas damit zu tun, zu der Sorte Menschen zu werden, die wir sein wollen. Die Sorte Menschen, die forscht, die den Blick nach außen richtet, die glaubt, dass das Morgen etwas Neues bereithält. Dass es etwas Besseres bereithält. Die Sorte Menschen, die sich die Reise ins All verdient haben werden.

    Die Sorte Mensch, die sich vielleicht – irgendwann – als Erste in den interstellaren Raum hinauswagt und herausfindet, warum das Universum dort draußen anscheinend so still ist. Und die vielleicht in Erfahrung bringt, ob ander Spezies ein Problem haben, ob man ihnen helfen kann. Diese Sorte Mensch – von Selbstvertrauen, Neugier und Güte angetrieben – verdient es, die Probleme der Welt zu lösen. Sie kann die Probleme der Welt lösen.

    Wir sind die Nachkommen von Entdeckern. Von unseren Philosophen der Aufklärung, die mit 4000 Jahren pyramidenförmiger feudaler Oligarchien gebrochen haben, um zu sagen: Wir werden uns verändern. Wir werden dafür sorgen, dass die Zukunft anders ist als die Vergangenheit.

    Atompilz über Nagasaki

    Vielleicht hat Apollo uns gerettet

    Ich bin davon überzeugt, dass die Apollo-Missionen uns geholfen haben, einige der wichtigsten Kunstwerke der menschlichen Geschichte zu erschaffen.

    In diesem Zusammenhang möchte ich die gewagte Behauptung aufstellen, dass man »wirkungsvolle visuelle Kunst« als eine Arbeit oder eine Darstellung definieren kann, die einen Menschen allein durch ihren Anblick unmerklich verändert, die Verstand und Herz eine Wandlung durchlaufen lässt, ohne dass dafür ein verbales oder logisches Überzeugen notwendig wäre. Nach dieser Definition gab es im 20. Jahrhundert zwei ungeheuer wirkungsmächtige visuelle Kunstwerke – die uns beide von der Wissenschaft der Physik geschenkt wurden!

    Zum einen hat das entsetzliche Bild der Atombombe unsere jungenhaft-romantische Zuneigung zum Krieg für immer verändert und uns dazu veranlasst, im Umgang mit dieser neuen und ehrfurchtgebietenden Zerstörungskraft ein Stück weit erwachsen zu werden. Die Landesverteidigung wurde zur Angelegenheit vernünftiger Erwachsener. Selbst (und vor allem) bei Soldaten gilt Krieg heutzutage als Ausdruck eines Versagens – eine riskante Maßnahme, die nur aufgrund unzureichender diplomatischer Anstrengungen oder mangelnder Vorbereitung oder Abschreckung nötig wird. Natürlich gab es logische Gründe für diese Veränderung. Aber die Kunst hat sie mit angestoßen. Wir haben uns am Bild des Atompilzes verbrannt. Es hat uns ohne Worte, die daneben blass aussähen, überzeugt.

    Ah, aber dann ist da noch das zweite Bild, das uns für immer tief verändert hat.

    Dieses große Kunstwerk war ein Geschenk, das uns am Ende eines der schwierigsten Jahre, an die man sich erinnern kann, erreichte – 1968. Jene zwölf verrückten, hektischen Monate haben die meisten Amerikaner – und einen Großteil der Welt – an den Rand der völligen Erschöpfung und Verzweiflung getrieben. Ja, großartige neue Musik ist damals wie eine Flutwelle über uns hinweggebrandet, zusammen mit Tragödien, Kriegen, Invasionen, Mordanschlägen, Unruhen, Verrat und Forderungen nach einem längst überfälligen Wandel.

    Erst ganz am Ende dieses schrecklichen Jahres traf ein letztes bedeutungsvolles Zeichen ein – wie ein Schimmer der Hoffnung am Grunde von Pandoras Büchse –, als die Apollo-8-Astronauten das erste makellose Bild der Erde mit nach Hause brachten, die als blaue Murmel in der grenzenlosen Wüste des Alls schwebt. Ein Bild, das nur die zynischsten Herzen nicht bewegte und unsere Sichtweise auf diese zerbrechliche irdischen Oase für immer veränderte.

    Erdaufgang über dem Mond, gesehen von Apollo 8. (Bild: NASA)

    Dieses Bild – ein Kunstwerk, dass von der Neugier, der Kühnheit und dem Ehrgeiz des Menschen und von der keuschen, unschuldigen Wahrheitsliebe der Wissenschaft geschaffen wurde – hat uns mehr als alles andere verändert. Vielleicht hat es uns zu besseren, verantwortungsbewussteren Bürgern und Verwaltern der Welt gemacht.

    Erst jetzt ist die Schönheit dieses Bildes übertroffen worden. Noch prachtvoller ist das zusammengesetzte Bild, das die NASA am 19. Dezember veröffentlicht hat und das von dem Lunar Reconnaissance Orbiter aufgenommen wurde, als er etwa 134 Kilometer über einem Mondkrater vorbeiflog.

    Ich habe mich lange gefragt, wann wir wieder ein Bild zu sehen bekommen würden, das uns derart erschüttert und uns dazu veranlasst, uns zu verändern. Vielleicht ein deutlicher Ausschlag auf einem Bildschirm des SETI-Programms auf der Suche nach außerirdischer Intelligenz? Das Gesicht eines Roboters, der ein Selbstbewusstsein erlangt hat? Oder vielleicht ein veränderter Affe oder Delphin, der uns in die Augen sieht und Respekt fordert?

    Nachdem ich während des letzten Jahres zugeschaut habe, wie sich ein Wunder nach dem anderen vor unseren Augen entfaltet hat – übermittelt von verblüffend hochentwickelten Sonden, deren Kosten sich für den Durchschnittsbürger auf ein paar Cent beschränken –, wurde mir eines klar: Vielleicht wird es nie wieder bloß ein Bild sein. Inzwischen geht so viel auf einmal vor – Schreckliches, Hoffnungsvolles und eine wahre Flutwelle von Wundern –, dass wir lernen müssen, Herz und Verstand zu öffnen, um all das einzulassen. Wir dürfen uns weder im Pessimismus suhlen noch vor unkritischem Optimismus übersprudeln, sondern müssen die wahre Lektion lernen. Dass wir ehrgeizig sein und Probleme lösen können. Dass wir die Dinge anpacken können.

    Wir können viele Wege beschreiten, um einander zu helfen, um die Welt unserer Geburt zu retten und in den Himmel aufzusteigen. Nur, indem wir all das tun, können wir uns nach und nach als würdig erweisen, bis schließlich der Tag kommt, an dem die Kinder unserer Kinder den billigen, wütenden Zynismus für immer hinter sich lassen und selbstsicher und motiviert sagen:

    »Los geht’s!«

    Deutsch von Jakob Schmidt

    Mondsüchtig: Dieses Foto von der Erde, das der Lunar Reconnaisance Orbiter der NASA aufgenommen hat, als er über einen Krater hinweggeflogen ist, stellt die Sorte Bild dar, die uns »an Herz und Verstand« verändert, schreibt David Brin.

    John Rieder

    Zur Definition von SF oder auch nicht

    Genretheorie, Science Fiction und Geschichte

    »On Defining SF, or Not« ist im Original 2010 in der Zeitschrift SCIENCE FICTION STUDIES veröffentlicht worden und gewann 2011 den ›Pioneer Award‹ der Science Fiction Research Association als bester wissenschaftlicher Aufsatz des Jahres. John Rieder leistet eine wichtige Untersuchung der historischen Konstruktion der Science Fiction und ist hierbei zugleich auch selbst ein wichtiger Baustein davon; Professor Rieders aktuelles Buch Colonialism and the Emergence of Science Fiction (2008) kann als ein Praxisbeispiel der hier vorgestellten Methode angesehen werden.

    1. Einleitung

    In seinem wegweisenden Essay »A Semantic/Syntactic Approach to Film Genre« (1984) stellte Rick Altman zutreffend dar, dass »die Genretheorie bis zum heutigen Tage fast ausschließlich auf die Ausarbeitung eines synchronistischen Modells abzielte, das die syntaktischen Funktionsweisen eines spezifischen Genres möglichst genau zu beschreiben sucht«[1] (12). Nur wenige Jahre später, 1991, verkündete Ralph Cohen, dass ein Paradigmenwechsel in der Genretheorie stattgefunden habe, in dessen Zuge die dominierende Ausrichtung der Forschung sich von der Identifizierung und Klassifizierung fester, ahistorischer Einheiten weg und hin zu einer Untersuchung von Genres als historische Prozesse verlagert habe (85–87). Nichtsdestotrotz war die Auswirkung dieses Paradigmenwechsels auf die Forschung im Bereich der Science Fiction, obwohl er vornehmlich zu einer Konzentration auf eine historische anstatt auf eine formalistische Ausrichtung der meisten akademischen Projekte beigetragen hat, weder so unvermittelt noch so übermächtig, als dass seine Implikationen für die Konzeptualisierung des Genres sowie für das Verständnis seiner Geschichte eindeutig klar geworden wären. In diesem Aufsatz geht es mir entsprechend darum, die Auswirkungen einer historischen Genretheorie auf die SF-Forschung zu klären und zu stärken.

    Ich beginne mit dem Problem der Definition, weil trotz der wissenschaftlichen Notwendigkeit, Genredefinitionen auszuarbeiten, eine historische Herangehensweise an Genre eine feste Definition zu unterlaufen scheint. Die Tatsache, dass so viele Bücher zur SF mit einer mehr oder weniger umfangreichen Erörterung des Problems einer Definitionsfindung beginnen, zeigt ihre Wichtigkeit für die Bereitstellung eines Bezugssystems zur Erstellung einer Genregeschichte auf, zur Festlegung von Reichweite und Umfang, zur Identifikation zentraler Orte von Produktion und Rezeption, zur Auswahl eines Kanons von Meisterwerken, etc.[2] Die wissenschaftliche Arbeit, die die Wichtigkeit der Genredefinition am besten unterstreicht, dürfte wohl die Bibliographie sein, weil bei ihr die Entscheidung, welche Titel aufzunehmen sind und welche nicht, notwendigerweise von klar artikulierten Kriterien geleitet sein muss, denen solche Definitionen oftmals innewohnen.

    Und doch scheint der Akt des Definierens niemals der Idee von Genres als historischem Prozess gerecht zu werden. In seinem Buch Film/Genre (1990), eine der besten und umfassendsten Untersuchungen dieser Herangehensweise an Genre, argumentiert Altman, »Genres [seien] keine fixen, von allen konsensuell geteilten Kategorien, … sondern vielmehr diskursive Behauptungen, die von realen Sprechern aus bestimmten Gründen für spezifische Situationen aufgestellt [würden]« (101, zitiert nach Bould und Vint 50). Entsprechend argumentieren Mark Bould und Sherryl Vint in einem aktuellen Artikel, bezugnehmend auf Altmans Arbeiten: »So etwas wie Science Fiction gibt es nicht«, womit sie darauf verweisen, dass »Genres niemals, wie häufig angenommen, Objekte sind, die bereits in der Welt existieren und die daraufhin von Genretheoretikern untersucht werden, sondern fließende und unsichere Konstruktionen, die durch die Interaktionen verschiedenster Behauptungen und Praktiken von Autoren, Produzenten, Händlern, Vermarktern, Lesern, Fans, Kritikern und anderen diskursiven Akteuren« (48) erschaffen wurden. In dieser Auffassung von »Behauptungen und Praktiken«, die eine Geschichte des Genres bestimmen, erscheint der kritische, wissenschaftliche Akt des Definierens daher reduziert auf eine von vielen »fließenden und unsicheren Konstruktionen«. Genau genommen wäre die einzige generische Definition, die dem historischen Paradigma angemessen erschiene, so etwas wie eine Tautologie: eine Bestätigung, dass das Genre genau das ist, wofür es die verschiedenen diskursiven Akteure, die in Produktion, Distribution und Rezeption involviert sind, ausgeben. Und tatsächlich finden sich Aussagen wie diese beständig in Diskussionen um die Definition von SF wieder. Das bekannteste Beispiel hierfür dürfte Damon Knights Zurückweisung eines bloßen Versuchs einer Definition sein: »Science Fiction ist das, worauf wir zeigen, wenn wir den Begriff benutzen« (122, zitiert nach Clute und Nicholls 314).

    In seinem 2003 erschienenen Essay »On the Origin of Genres« gelingt es Paul Kincaid, die tautologische Bekräftigung einer Genreidentifikation in eine wohlüberlegte Position zu verwandeln. Basierend auf Ludwig Wittgensteins »Familienähnlichkeiten« (aus den Philosophischen Untersuchungen) argumentiert Kincaid, dass wir weder »einen spezifischen, gemeinsamen Faden extrahieren« können, der alle Science-Fiction-Texte verbindet, noch in der Lage sind, einen »spezifischen, gemeinsamen Ursprung« des Genres zu identifizieren (415). Er kommt zu dem folgenden Schluss:

    Science Fiction ist nicht eine bestimmte Sache, sie ist eine Vielzahl von Sachen – ein zukünftiger Schauplatz, eine wunderbare Erfindung, eine ideale Gesellschaft, eine außerirdische Kreatur, eine Windung in der Zeit, eine interstellare Reise, eine satirische Perspektive, eine spezifische Herangehensweise an die Substanz einer Geschichte; all das, wonach wir suchen, wenn wir nach Science Fiction Ausschau halten, mal deutlicher, mal subtiler – zusammengewoben in einer unendlichen Vielfalt von Variationen. (416–417)

    Die Brauchbarkeit von Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeit für die Genretheorie bedarf noch weiterer Ausführungen, und ich werde zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurückkommen. Zunächst einmal ist der wesentliche theoretische Punkt in Bezug auf Kincaids Argumentation, nicht einfach nur zuzustimmen, dass im Sinne einer historischen Genretheorie die SF »eine Vielzahl von Sachen« ist, sondern ebenso zu bemerken und zu unterstreichen, dass diese Darstellung einer Genredefinition, wie es auch Altman und Bould und Vint tun, gleichermaßen Subjekte wie Objekte involviert. Somit ist eine Definition nicht allein eine Frage der Eigenschaften der textuellen Objekte, die als Science Fiction bezeichnet werden. Vielmehr beinhaltet sie auch die Subjekte, die eine solche Kategorie festschreiben, und entsprechend auch die Motive, die Kontexte und die Effekte ihrer mehr oder weniger bewussten und erfolgreich ausgeführten Projekte. Um es anders auszudrücken: Die Behauptung, dass SF »all das, wonach wir Ausschau halten, wenn wir nach Science Fiction Ausschau halten« sei, ist nicht sehr aussagekräftig, wenn »wir« nicht wissen, wer »wir« sind und warum »wir« nach Science Fiction Ausschau halten.

    Im Folgenden möchte ich daher einen Vorschlag zur Beschreibung des gegenwärtigen Zustands der Genretheorie vorlegen, mit einem Fokus auf ihren Beitrag zum Versuch der Beschreibung, was Science Fiction ist. Der erste Abschnitt dieses Aufsatzes konzentriert sich dabei auf die Entwicklung eines Konzepts dessen, um was es sich bei einem Genre eigentlich handelt und um was nicht. Der zweite Abschnitt wird dann auf die Frage zurückkommen, wie man die kollektiven Subjektpositionen zu verstehen hat, die eine Genrekonstruktion vornehmen. Im Verlauf des Textes stelle ich die Frage, welche Bedeutung die tautologische Behauptung – SF ist das, worauf »wir« zeigen, wenn »wir« den Begriff verwenden – hat, wenn wir sie als ernsthafte These über das Wesen nicht nur der SF, sondern des Konzepts Genre selbst verstehen. Wenn also die berüchtigte Vielgestaltigkeit der Definitionen des Genres nicht als Zeichen von Verwirrung zu werten ist und ebenso wenig als Fehlinterpretation einer Fülle von Genres, die als ein einzelnes wahrgenommen werden, sondern im Gegensatz hierzu als die Identität der SF, die gerade durch das Netz teilweise widersprüchlicher und konkurrierender Behauptungen konstituiert ist, welchen Einfluss sollte dieses Verständnis der Genreformierung dann auf die Darstellung einer Geschichte der SF haben?

    2. Genre als historischer Prozess

    Ich werde fünf Thesen über die SF aufstellen, die jeweils zu Aussagen über Genre als Konzept umformuliert werden könnten und die eine relativ unumstrittene, aber dennoch hoffentlich nützliche Zusammenfassung dessen darstellen, was dem aktuellen Paradigma der Genretheorie entspricht. Die Reihenfolge bewegt sich dabei von der grundlegenden Position, das Genres historische Prozesse sind, hin zu einem Punkt, an dem man effektiv die Fragen der Nutzung und Nutzer von SF verhandeln kann, was im letzten Abschnitt dieses Essays geschehen soll. Die fünf Thesen lauten:

    SF ist historisch und wandelbar.

    SF hat keinen essenziellen Wesenskern, kein einzelnes, sie vereinendes Merkmal, keinen Ausgangspunkt.

    SF bezeichnet keine Schnittmenge von Texten, sondern ist eine Art, Texte zu nutzen und Beziehungen zwischen ihnen herzustellen.

    Die Identität von SF ist eine differenziert ausgeprägte Position in einem historisch wandelbaren Feld von Genres.

    Die Zuschreibung eines Textes zur SF bedeutet eine aktive Intervention in dessen Distribution und Rezeption.

    Lassen Sie mich diese Thesen der Reihe nach erläutern und verteidigen.

    2.1 SF ist historisch und wandelbar

    Fast alle Genretheoretiker des 20. Jahrhunderts vor 1980 hätten der folgenden Aussage zugestimmt: »Genretheorie ist ein Ordnungsprinzip: Sie klassifiziert Literatur und Literaturgeschichte nicht nach Zeit oder Ort (Epoche oder Nationalsprache), sondern nach spezifischen literarischen Organisationsformen oder -strukturen« (Wellek und Warren 226). Das neuere Paradigma hingegen sieht generische Organisationsformen und -strukturen als durchaus ebenso chaotisch durch Zeit und Ort gebunden, wie es die anderen literarhistorischen Phänomene auch sind – auch wenn Verteilungsmuster und zeitliche Beschaffenheiten der Abfolge sich stark von denen nationaler Traditionen oder Epochen in Wellek und Warrens Sinne unterscheiden können. Ein neues Paradigma ist jedoch nicht notwendigerweise auch ein besseres, und die Entscheidung zwischen diesen beiden Alternativen ist eine Frage von Grundprinzipien, da beide Seiten eine logisch begründete Erklärung für sich geltend machen können. Wenn man die SF als formale Organisationsstruktur versteht – Darko Suvins »Literatur der kognitiven Verfremdung« ist die bis heute einflussreichste Definition dieser Art –, dann ergibt es einen Sinn, diese ebenso in antiken griechischen Erzählungen zu erkennen wie in zeitgenössischen US-amerikanischen Texten. Darüber hinaus erscheint es dann sinnvoll, wie Suvin zu schlussfolgern, dass ein Großteil dessen, was landläufig als SF bezeichnet wird, dieser Kategorie gar nicht entspricht. Das neuere Paradigma dagegen vertritt den Standpunkt, dass der Akt der Kategorisierung selbst bereits einen wesentlichen Bestandteil in der Konstruktion des Genres darstellt. Diesem Verständnis nach ist die »Literatur der kognitiven Verfremdung« als eine spezifische akademische Genrekategorie des späten 20. Jahrhunderts zu verstehen, die in Teilen durch den Kontext bestimmt wird, als Gegenentwurf zu einem von Suvin missbilligten kommerziellen Genre zu fungieren. Suvins Definition wird damit zu einem Teil der Geschichte der SF, nicht aber zu einem Schlüsselkonzept, mit dem sich die Verwechslungen von SF mit anderen Formen entwirren ließen. Die logische Überlegenheit der historischen gegenüber der formalistischen Herangehensweise an die Genretheorie wurde vornehmlich von Seiten der Linguistik mit überzeugenden Argumenten versorgt und durch die Fallstricke des Übersetzens[3] begründet. Zudem möchte ich hier einwenden, dass darüber hinaus das historische Paradigma zu bevorzugen ist, weil es seine Anhänger dazu herausfordert, Genre als etwas zu verstehen, das vielseitig und komplex sowie von Parametern bestimmt ist, die nicht nur literarischer Natur sind, sondern auch sozialer.[4] Konfrontiert man die formalistische Genretheorie beispielsweise mit der Kontroverse der Zuordnung von von der Kritik so gelobter Werke wie Pamela Zolines »The Heat Death of the Universe« (1967) oder Karen Joy Fowlers »What I Didn’t See« (2002) zur SF, kann diese nur untersuchen, ob der Text legitimes Mitglied des Genres ist oder nicht. Gelingt dem Text also die »Präsenz und Interaktion von Verfremdung und Erkenntnis … in einem imaginativen Rahmen, der eine Alternative zur empirischen Umgebung des Autors darstellt« (Suvin, »On the Poetics« 375)? Ist er eine »realistische Spekulation über mögliche, zukünftige Ereignisse, die solide auf einem angemessenen Wissen über die reale Welt, der Vergangenheit und Zukunft, und einem umfassenden Verständnis der Beschaffenheit und Signifikanz der wissenschaftlichen Methodik fußt« (Heinlein 9)? Ist er bestimmt durch das »Bewusstsein über das Universum als System der Systeme, eine Struktur der Strukturen« (Scholes 41)?[5] Ergründet der Text den Einfluss von Technologie oder wissenschaftlicher Erkenntnis auf die Lebenswelt? Und so weiter. Ein historischer Ansatz würde unterdessen die Frage danach stellen, wie und warum das Genre ausgedehnt wird, um diese Texte darin aufzunehmen, oder wie und warum eine solche Aufnahme verwehrt wird. Und er untersucht, wie die Identifikation dieser Texte als SF die bestehende Meinung zur Definition der SF angefochten und mitunter sogar modifiziert hat (sodass Fragen der Form weiterhin Bestandteil des Diskurses sind, nur eben nicht unter denselben Bedingungen). Er ermittelt auch, welche Spannungen und Strategien im Feld des Schreibens, Publizierens und Lesens von SF auf eine derart radikale Intervention vorbereiten. Und schließlich fragt er auch danach, welche Interessen bei dieser Kategorisierung eine Rolle spielen.

    2.2 SF hat keinen essenziellen Wesenskern, kein einzelnes, sie vereinendes Merkmal, keinen Ausgangspunkt

    Die Behauptung, die SF habe keinen Ausgangspunkt und kein einzelnes sie vereinendes Merkmal, ist die Wittgenstein’sche Position, die Kincaid in »On the Origin of Genre« einnimmt. Die Anwendung von Wittgensteins Idee auf das Konzept von Genre, also der Kernpunkt in Kincaids Argumentation, wurde bereits 1982 in Alistair Fowlers Kinds of Literature (41–44) vorgeschlagen, einem eindrucksvollen und höchst gelehrten Buch, dessen zentrale These lautet, dass Genres historisch und wandelbar seien. Fowler entdeckte, dass Wittgensteins Idee der »Familienähnlichkeiten« von großer Bedeutungskraft für die Genretheorie sei, weil sie die Zusammengehörigkeit nicht auf der Basis eines einzelnen gemeinsamen Elementes verstand. Im Sprachspiel, das die Kategorie des Spiels konstruiert, sagt Wittgenstein beispielsweise: »[E]s ist diesen Erscheinungen garnicht Eines gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, – sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. … Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.« Wir erweitern das Konzept, »wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgend eine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen« (Abschnitt 65–67, Hervorhebung im Original).

    Die Beschreibung eines Genres ohne einzelnes, es vereinendes Merkmal findet sich auch in einem weiteren konzeptuellen Modell, dem der »unscharfen Menge« (engl. fuzzy set; siehe Attebery, Strategies 12–13). Eine unscharfe Menge beschreibt in der Mathematik eine Menge, die nicht von einem einzelnen binären Prinzip der Zugehörigkeit und des Ausschlusses bestimmt ist, sondern die auf einer Vielzahl solcher die Menge bestimmender Vorgänge beruht. Die unscharfe Menge beinhaltet damit Elemente mit einigen Eigenschaften aus einer ganzen Reihe solcher Eigenschaften, sodass die Zugehörigkeit zur Menge unterschiedlicher Intensität entsprechen kann, da einige Elemente einen Großteil oder alle der die Menge bestimmenden Eigenschaften aufweisen, andere vielleicht nur eine davon. Zusätzlich kann es dazu kommen, dass zwei entsprechend weit auseinanderliegende periphere Elemente gar keine Eigenschaften miteinander gemeinsam haben, etwa wenn ein Element der Menge die Eigenschaften a, b und c aufweist, ein anderes aber die Eigenschaften d, e und f. Daraus resultiert ein dem Wittgenstein’schen Konzept der Familienähnlichkeit sehr ähnliches Konzept von einem Profil der SF. Beide Modelle lassen für die SF einen Umfang und eine Vielfalt zu, wie sie in John Clutes und Peter Nicholls’ Encyclopedia of Science Fiction zu finden sind.

    Es scheint jedoch sinnvoll, sich daran zu erinnern, dass so etwas wie eine unscharfe Menge auch Suvins einflussreichem Eingriff in die Geschichte der Definition der SF als Ziel zugrunde lag. Was Suvin der breiten Masse von Texten, die der Kategorie SF zugeschlagen wurden, entgegenhielt, war eine präzise Vorstellung von Genre, die von Roman Jakobsons Konzept einer »Dominante« bestimmt war: »der fokussierende Teil eines Kunstwerks …, [der] herrscht, bedeutet und die übrigen Teile transformiert« (Jakobson 82). Aus dieser Sicht erlaubt es die Kategorie, die durch eine unscharfe Menge oder eine Familienähnlichkeit entsteht, einer unbestimmten Anzahl an inkompatiblen Versionen der textlichen Dominante, stillschweigend und zeitgleich aktiv zu sein und so unter dem Deckmantel eines narrativen Genres ein buntes Gemenge an Texten zu vereinen, das keine eigentliche formalistische Integrität besitzt. Dies, so Suvin, sei der Status der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Science Fiction gewesen, als er seinen streng formalistischen Beitrag zur Definitionsdebatte einbrachte. Diese Definition richtete sich machtvoll gegen die Illusion einer Ganzheit in einem Genrebereich, der eine so ungenaue Abgrenzung zugelassen hatte.

    Ich denke, eine Konzeptualisierung der SF als unscharfe Menge, die noch immer einer Vielzahl von Definitionen zugrunde legt, bleibt angreifbar für diese Art der formalistischen Kritik – nämlich dass sie willkürlich disparate Subgenres unter einem Begriff vereint –, weil sie von der Logik einer textlichen Determiniertheit ausgeht, wenn auch in einer weitaus diffuseren Art und Weise, als es Jakobsons Begriff der Dominante vorschreibt. Anstatt sich gezwungen zu sehen, die über Zugehörigkeit und Ausschluss bestimmende Dominante einer Genre-Menge festzulegen, sähe sich ein sorgfältig arbeitender Theoretiker unscharfer Mengen mit der einschüchternden Aufgabe konfrontiert, die Bandbreite der Eigenschaften aufzulisten, die Zugehörigkeit ermöglichen, inklusive nicht nur der textuellen Eigenschaften, sondern auch der intertextuellen Beziehungen und paratextuellen Funktionen, wie etwa das Vergeben spezifischer Zuschreibungen (engl. labeling). Solch eine Aufgabe wäre geradezu enzyklopädisch im Umfang, und ich wage zu behaupten, dass sie auch zwecklos wäre, weil das aus der Mathematik entliehene Konzept der unscharfen Menge nicht ausreicht, um die fortlaufenden Prozesse zu beschreiben, in denen historisch betrachtet die Entstehung und das Neuschreiben von Genre kontinuierlich erfolgt. In dieser Hinsicht ist Wittgensteins Denken besser mit dem historischen Genretheorie-Ansatz zu vereinen als das Konzept der unscharfen Menge, weil der Begriff des »›Sprachspiel[s]‹ […] hier hervorheben [soll], dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform« (Wittgenstein, Abschnitt 23, Hervorhebung im Original). Aus dieser Sicht ist die Kategorisierung kein passives Registrieren der intrinsischen Eigenschaften dessen, was es zu kategorisieren gilt, sondern ein aktiver Eingriff in deren Anordnung. Dieses Beharren auf einer Form der Einwirkung ist das wesentliche Unterscheidungsmerkmal eines historischen Ansatzes an die SF im Gegensatz zu einem formalistischen.

    Der Begriff der »Familienähnlichkeiten« weist hingegen Mängel auf, wenn man über den Ursprung des Genres nachdenkt. Historiker der SF neigen zur frohen Verkündung eines Momentes der Geburt, sei er nun in Mary Shelleys Frankenstein (1818), H. G. Wells’ The Time Machine (1895), Hugo Gernsbacks AMAZING STORIES (1926) oder sonst irgendwo, entsprechend des jeweiligen geografischen und historischen Empfindens, zu finden. Es liegt im Begriff der Familienähnlichkeiten begründet, dass der Versuch unternommen wird, die Geschichte der SF einem Familienstammbaum nachzuempfinden, der von einem solchen Stammesgründer ausgeht.[6] Es ist also nicht ausreichend zu argumentieren, so wie es Kincaid tut, dass für das Genre kein »spezifischer, gemeinsamer Ursprung« (415) existiert; die kollektiven und sich anlagernden sozialen Prozesse, durch die SF entstanden ist, liefern keine alles bindende Form oder Kausalität, die es überhaupt zulassen würde, von Ursprüngen zu sprechen. Selbst ohne die Referenz zu Wittgensteins Anti-Essentialismus deckt der historische Genretheorie-Ansatz von Hans-Robert Jauss’ Rezeptionstheorie das logische Problem der Identifikation eines Genreursprungs insofern auf, als für Jauss die Idee von Genre auf der Wiederholung basiert und eindeutig der Idee von Originalität entgegensteht. In Jauss’ Rezeptionstheorie kann es einen ersten Genretext nicht geben, weil das wiederholende und den Konventionen entsprechende Element des Textes ihn überhaupt erst generisch macht. Ein Text kann durch Genre vorgegebene Erwartungen unterlaufen, aber er kann erst als etablierender Text angesehen werden, wenn andere Texte durch die Nachahmung seiner Strategien diese als Bestandteile des Genres gefestigt haben. Um die generischen Eigenschaften eines Textes identifizieren zu können, muss dieser sich auf eine Reihe von Strategien, Bildern oder Themen rückbeziehen, die zuvor bereits in Form einer konventionellen oder zumindest wiederholbaren Geste sichtbar geworden sind. Genre findet sich entsprechend immer mitten im Geschehen, niemals am Anfang.[7]

    Ein Modell zum besseren Verständnis eines Fehlens von Originalen im historischen Genretheorie-Ansatz findet sich in der Idee der rhizomatischen Ansammlung von Gilles Deleuze und Félix Guattari.[8] Was Deleuze und Guattari ein »kollektives Gefüge der Äußerung« (22) nennen, wird vor allem durch »gliedernde oder segmentierende Linien, Schichten und Territorien; aber auch Fluchtlinien, Bewegungen, die die Territorialisierung und Schichtung auflösen« (3) konstituiert. Es hat kein Zentrum, keine »hierarchische Kommunikation und feststehenden Beziehungen, [sondern] das Rhizom [ist] ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General. Es hat kein organisierendes Gedächtnis und keinen zentralen Automaten und wird einzig und allein durch Zirkulation von Zuständen definiert.« (21)

    Das wichtigsten Merkmal der rhizomatischen Ansammlung in Bezug auf die Genretheorie ist, dass es sich bei ihr um eine »Anti-Genealogie« handelt, und deren Verfahren »besteht in der Variation, Expansion und Eroberung, im Einfangen und im Zustechen … Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus es wächst und sich ausbreitet« (21). Die Bewegungen von Texten und Motiven in und durch die SF setzen sie nicht in ein Ahnenverhältnis wie in einem Stammbaum, sondern verknüpfen sich vielmehr wie unterschiedliche Routen zu einem Straßennetz. Die Pfade, die einzelne Etappenpunkte miteinander verbinden, sind in der »azentrische[n], nicht hierarchische[n] und asignifikante[n]« Struktur des Genres nicht verzeichnet, sondern mussten und müssen von Autoren, Publizisten und Lesern aus den Umständen und materiellen Bedingungen erschaffen werden, die für sie gelten.

    Die Auffassung, dass die Geschichte der SF eine »Expansion und Eroberung, [ein] Einfangen und Zustechen« sei und nicht eine Ahnenlinie mit Vorfahren und Nachkommen ist nirgendwo wichtiger als in der Untersuchung dessen, was ich in Anlehnung an Everett Bleilers unverzichtbare Bibliographie, Science Fiction: The Early Years, als die frühen Jahre der SF bezeichnen möchte. Die Untersuchung des Anfangs des Genres ist nämlich nicht eine Frage der Suche nach einem Ursprung, sondern vielmehr eine Beobachtung der Ansammlung von Wiederholungen, Echos, Nachahmungen, Anspielungen, Identifikationen und Unterscheidungen, die Ausdruck eines wachsenden Verständnisses dafür sind, dass hier ein Netz der Konventionen und Ähnlichkeiten entsteht. Es ist diese allmähliche Ausformung eines Genres, nicht das Erscheinen eines formalen Typus, das die Geschichte der frühen SF ausmacht. Entsprechend kann es nicht darum gehen, die wahre SF von den sie umgebenden Genres abzugrenzen oder einen Urahn zu finden. Es ist weit nützlicher, kritisch zu prüfen, wie die SF schrittweise im Milieu der Literatur des späten 19. Jahrhunderts sichtbar wird – umgeben von früher Fantasy, imperialen Abenteuergeschichten, dem Wiederaufkommen der Liebesgeschichte [engl. romance] im England der 1880er und 90er Jahre, den Jungwissenschaftlern der US-amerikanischen Groschenromane, utopischer Literatur, dem Motiv des zukünftigen Kriegs und dergleichen mehr.[9] Man ist nicht auf der Suche nach einer positiven Instanz, sondern nach einer Praxis, die auf Ähnlichkeiten und Unterschiede in Texten verweist, was im Abschnitt zur dritten Behauptung ausgeführt werden soll.

    2.3 Die SF bezeichnet keine feste Schnittmenge von Texten, sondern ist eine Art, Texte zu nutzen und Beziehungen zwischen ihnen herzustellen.

    Alle, die an der Produktion, dem Vertrieb und dem Konsum von SF beteiligt sind – also Autoren, Lektoren, Marketingspezialisten, Gelegenheitsleser, Fans, Wissenschaftler, Studierende –, konstruieren das Genre nicht nur durch den Akt des Definierens, der Kategorisierung, des Aufnehmens und Ausschließens (alles wichtige Handlungen), sondern auch durch ihre Nutzung der Bezugssysteme und rhetorischen Strategien, die das Genre von anderen Formen des Schreibens und Lesens abgrenzen. John Frow schreibt zu Beginn seiner exzellenten und präzisen Zusammenfassung zum aktuellen Stand der Genretheorie: »Ich verstehe Genre als eine Art der symbolischen Handlung: Die Organisation von Sprache, Bildern, Gesten und Tönen in Genres lässt Dinge geschehen, indem sie aktiv die Art und Weise beeinflusst, wie wir die Welt verstehen. … Texte – selbst die einfachsten und formelhaftesten – gehören Genres nicht an, sondern sind Anwendungen von diesen« (Genre 2). Genre bedarf also einer »symbolischen Handlung« und ist nicht inhärenter Bestandteil von Form oder Inhalt des Textes. Dies lässt sich am Beispiel der sprachlichen Ausdeutung nachweisen, die generische Unterschiede in sich trägt. Nehmen wir Samuel R. Delanys Beispiel, in dem er realistische und SF-Lesarten des Satzes »He turned on his left side« einander gegenüberstellt[10]. Die realistische Lesart erkennt hier jemanden, der seine Körperhaltung verändert (»Er drehte sich auf die linke Seite«), während die SF-Lesart des Satzes bedeuten könnte, dass jemand einen Schalter bedient, der die Nutzung der linken Hälfte des Körpers ermöglicht (»Er schaltete seine linke Hälfte an«; Delany 103). Der springende Punkt ist hierbei nicht, dass die SF-Lesart die grammatischen und semantischen Möglichkeiten der Sprache auf eine ergiebige und andersartige Weise ausnutzt, wie Delany hier behauptet, sondern dass die zweite Lesart auf der Vertrautheit des Lesers mit den Konventionen der SF beruht – insbesondere, in diesem Fall, mit der Erwartungshaltung gegenüber einer möglichen Verwischung oder Verletzung der Grenze zwischen Organischem und Mechanischem. Sowohl der Autor als auch der Leser des Satzes in seiner SF-Lesart nutzen das Genre dazu, aktiv ihr Verständnis von Welt zu beeinflussen – also die Welt des fraglichen Textes und dessen Relation zur empirischen Umwelt und zu anderen generisch konstruierten Welten (der Welt der Fantasy, der Welt der Komödie, usw.).[11]

    Die Unterscheidung, ob ein Text einem Genre zugehörig ist oder aber ein Genre benutzt, verändert auch das Verhältnis zwischen dem individuellen Text und dem Genre, sodass es nicht mehr um Beispielhaftigkeit geht, der Text also nicht mehr nur als Metonym oder Synekdoche des Genres fungiert. Die Wesensart des Genres als »symbolischer Handlung« impliziert, dass es sich bei Genre um einen unter vielen Codes handelt, die ein Text aktiviert, wie es Roland Barthes so schonungslos in S/Z ausdrückte. Genrehybridität ist also kein Sonderfall; jedes Narrativ, das länger ist als eine Schlagzeile oder ein Witz, muss zwangsläufig verschiedene generische Konventionen und Strategien zur Anwendung bringen. Die Unterscheidungen zwischen SF und Fantasy erkennen dies, wenn auch eher im Stillen, meist an, wenn sie sich als Bezugspunkt auf den ihnen beigemessenen Status der realistischen Konventionen im Vergleich zum Rest des Narrativs berufen. Aufgrund der Art und Weise, wie unterschiedliche Genres innerhalb eines individuellen Textes miteinander und gegeneinander spielen, ist das Schubladendenken in Bezug auf Genrezugehörigkeit eines Textes weit weniger sinnvoll als ein Verstehen der Positionierung des Textes innerhalb des Feldes aller ihm offen stehenden Genre-Möglichkeiten.[12]

    2.4 Die Identität von SF ist eine differenziert ausgeprägte Position in einem historisch wandelbaren Feld von Genres

    Nachdem Frow seine These aufgestellt hat, dass Texte Genres benutzten und ihnen nicht angehörten, führt er weiter aus, dass die Nutzung von Genre in einem Text »sich nicht auf ›ein‹ Genre bezieht, sondern auf ein Feld oder ein Wirtschaftssystem [engl. economy] von Genres, und [die textliche] Komplexität ergibt sich aus der Komplexität dieser Beziehungen« (Genre 2). An dieser Stelle von einem »Wirtschaftssystem« zu sprechen, wie Frow es hier tut, bedeutet, die im Text oder vom Leser aktivierten Genrekodierungen als eine Frage von Entscheidungen anzusehen, denen Werte zugeordnet sind in Relation zu anderen möglichen Entscheidungen. Ein solches Wirtschaftssystem hängt maßgeblich vom Genresystem ab, das durch Raum und Zeit definiert ist. Genres – wie Phoneme und Wörter in Saussures Vorlesungen zur Linguistik – werden so als Werte betrachtet, die aufgrund des Unterschiedes zu anderen Werten eine Bedeutung annehmen und diese Werte verlieren oder verändern können, wenn sie in ein anderes System übersetzt werden. Entsprechend muss die Genreanalyse, wie Tony Bennett es ausdrückt, immer auch in Betracht ziehen, dass Genres sich in einem »System generischer Unterscheidungen« befinden, die »konzipiert als ausdifferenziertes Feld sozialer Nutzung, zu einer bestimmten Zeit in Hinsicht auf ihren Einfluss auf sowohl textliche Strategien als auch die Kontexte der Rezeption vorherrschen« (108). Dies gilt insbesondere, da jede generische Entscheidung eine, wie Pierre Bourdieu es nennt, Positionsbestimmung in Hinsicht auf die Positionen und Werte darstellt, die das entsprechende Feld der Entscheidungsmöglichkeiten strukturiert. Die Dynamiken des Konzepts Genre in einem bestimmten Text zu verstehen hängt davon ab, das Feld zu verstehen, das dem Autor oder Leser die Bandbreite generischer Möglichkeiten zur Verfügung stellt und das die Werte dieser Möglichkeiten determiniert.

    Die Herausforderungen eines solchen Genre-Wirtschaftssystems sind für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Science Fiction in zweierlei Hinsicht absolut zentral: Erstens hat dies mit Prestige zu tun und zweitens mit der Geschichte des Genres. Roger Luckhurst schreibt sehr unterhaltsam von der »Todessehnsucht« der SF, also von deren Wunsch, nicht länger als SF zu existieren und lieber zu »Literatur« zu werden. Die Quelle dieses Wunsches liegt in der Art und Weise begründet, in der im Wirtschaftssystem ›Genre‹ Positionen und Werte ausgerichtet sind, um die Unterhaltungsliteratur[13] mit negativen Konnotationen zu belegen:

    Die paradigmatische Topografie zwischen Ghetto und Mainstream markiert eine Grenze, auf der sich die Bewertungen von populär/ernst, niedrig/hoch, Unterhaltung/Literatur darstellen … Der einzige Weg, um, so der Vorschlag, die SF zu legitimieren, liegt darin begründet, sie über die Grenze in die Hochliteratur zu schleusen. Und damit das Genre als Ganzes legitimiert wird, bedeutet dies paradoxer Weise die Zerstörung des Genres selbst. (Luckhurst, »The Many Deaths of Science Fiction« 37–38)

    Das Bild der Todessehnsucht bezieht sich aber natürlich auf etwas durchaus anderes als einen instinkthaften Trieb, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass man zwar die Wahl hat (in diesem Fall hinsichtlich der Genrezuordnung), aber eben nur die Wahl zwischen den historisch gegebenen Optionen. Viele Forscher (und Lektoren, Autoren und Leser) der SF hätten gerne ihre SF und ihre Hochliteratur in einem, aber das ist eine Option, die eine Trennung von ernster und unterhaltender Literatur eben gar nicht erst zulässt. Das maßlose Bedürfnis nach klaren Grenzen, das einst die Diskussionen über Genre dominierte, lag nicht in einer weit verbreiteten Sehnsucht nach Präzision in der Genrebestimmung begründet, sondern vielmehr in dem Prestige, das einer bestimmten Position innerhalb des zeitgenössischen Genresystems anhing. Und es ist dieses Prestige, aus dem heraus sich die wiederholten Bestimmungen und Umdeutungen der Grenzen der SF, über die Luckhurst schreibt, speisen. Die Tatsache, dass Genregrenzen so häufig präskriptiv und einengend dargelegt werden, speist sich aus ähnlichen Motiven – nicht weil die Grenzen tatsächlich so sind, sondern weil in der modernen westlichen Kunstpraxis mehr Prestige generiert wird, wenn die Grenzen überschritten, und nicht wenn sie eingehalten werden. Entsprechend wurde das Konzept der Hochliteratur schon wiederholt als eine Kategorie bezeichnet, in der jedes Werk sein einzigartiges Genre erschafft (u. a. bei Friedrich Schlegel, Benedetto Croce und Maurice Blanchot; vgl. dazu Frow, Genre 26–27 und Altman, Film/Genre 4–7). Was ein solches Verständnis von Hochliteratur jedoch infrage stellt, ist weniger die präskriptive Kraft der Genregrenzen als das Spiel der Erwartungen und Überraschungen in der Art und Weise, wie ein Text mit ihnen umgeht, wie es etwa Jauss’ Rezeptionstheorie im starken Gegensatz von innovativen Strategien und der Sichtweise von Genre als Menge vorhersehbarer und mit der Zeit abgenutzter Konventionen sieht. Zwar existiert die Unterscheidung hoher von trivialen Formen des Erzählens erwartungsgemäß überall dort, wo sich Klassenunterschiede in der Produktion und Distribution des Erzählten niederschlagen (also überall in der Geschichte), dennoch ist die spezielle Art und Weise, wie sich ›hoch‹ und ›trivial‹ in den zeitgenössischen Genrepraktiken mit Konzepten von Innovation und Imitation verbinden, eine neuere und recht spezifische Entwicklung. Die merkwürdige Sicht der »Literatur« als Kategorie, deren Mitglieder sich einer Kategorisierung widersetzen, ist ein integraler Bestandteil der Geschichte der Sicht auf Genre, die eine Existenzbedingung der SF ist. Sich der Geschichtsschreibung der SF zu widmen, beinhaltet also immer auch ein Mindestmaß an Auseinandersetzung mit den historischen Veränderungen in den Genresystemen, die diese Unterscheidung hervorgebracht haben. Die Geschichte der SF umfasst also auch die Geschichte eines Signalwechsels innerhalb der Genresysteme: das heißt, das Aufkommen eines Genresystems für Massenpublikationen, dem neben der Science Fiction auch die Detektivgeschichte, die moderne Liebesgeschichte (engl. romance), der Western, Horror, Fantasy und ähnliche Genres angehören, und das zusammengefasst eine Praxis der Genrekategorisierung beschreibt, die sich klar von einem bestehenden, klassischen und akademischen Genresystem abgrenzt, in dem sich Epos, Tragödie, Komödie, Satire, Versroman, Lyrik und so weiter finden. In diesem Sinne findet der Einfluss der großen Innovatoren wie Shelley, Verne und Wells innerhalb eines Kontextes »kultureller und historischer Fluktuationen der Zusammensetzung des Genresystems« (Bennett 101) statt. Eine genaue Untersuchung der Rezeption jedes der drei Autoren verdeutlicht entsprechend, dass »die selben Texte in verschiedenen sozialen und historischen Kontexten unterschiedlichen Genreklassifikationen zugeordnet werden können« (Bennett 101). Aber sowohl das klassisch-akademische, als auch das massenkulturelle Genresystem haben jeweils eine eigene Geschichte, die in die Produktion, Distribution und Rezeption von Texten einfließen und die substanzielle Verbindungen zwischen den beiden Systemen selbst, den Geschichten und den Bedeutungen der Texte schaffen. Es ist zwar möglich, Oedipus von Sophocles als eine Detektivgeschichte zu lesen, aber seine historische Beziehung zum Genre der Tragödie und zum System von Genres und literarischen Werten, die Bezug nehmen auf die klassische Tragödie, ist von größerer Bedeutung. Der selben Logik folgend können Texte, die üblicherweise als Science Fiction verstanden werden, auch einfach als Beispiele für Satire, Komödie, Tragödie und so weiter gelesen werden, aber dies zu tun würde sie nicht etwa in den Status der ernsten Literatur heben, sondern sie vielmehr eines wichtigen Aspekts ihrer Historizität berauben.

    Die Art und Weise, wie Begriffe und Entscheidungen im Verhältnis zu anderen Begriffen und Entscheidungen ihre Bedeutung anzeigen, ist einem beständigen Wandel unterworfen. Aus diesem Grund, so Fowler, »ist es weder möglich noch wünschenswert, einen hohen Präzisionsgrad bei der Verwendung von Genrebegriffen zu erreichen. Die Wandlungsfähigkeit und die Überschneidungen innerhalb von Genres bedeuten, dass eine ›unpräzise‹ Terminologie von größerer Effizienz ist« (130). Solche Wandlungsfähigkeit und solche Überschneidungen machen es auch erforderlich, Genres im Nachhinein zu benennen, um die Ahnenschaft aufkommender Genrekategorien nachzuzeichnen (deswegen auch »frühe Science Fiction«). Nichtsdestotrotz, wenn man der Geschichte der Genresysteme Aufmerksamkeit schenkt, dann verbietet sich die Option eines pauschalen Überstülpens der Kategorie SF auf frühmoderne und klassische Texte. Wenn Shelleys Frankenstein zur Zeit seiner Entstehung nicht als SF gelten konnte (vgl. Rieder, Colonialism 19), dann kann diese Kategorie für Swifts Gullivers Reisen (1736) oder Lucians Wahre Geschichten umso weniger gelten. Von entscheidender Bedeutung hierbei ist, dass das Aufkommen der SF nichts mit dem ersten Erscheinen eines bestimmten formalen Typus zu tun hat und auch nicht damit, wann das erste Mal der Begriff »Science Fiction« benutzt wurde

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