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Licht und Schatten: Roman
Licht und Schatten: Roman
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eBook862 Seiten11 Stunden

Licht und Schatten: Roman

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Über dieses E-Book

Der angeschlagene Präsident von Königsland ernennt den Jungunternehmer Michael Steinberg zum Finanzminister, um einen politischen Neuanfang zu wagen. Michael setzt sich nach Kräften für Reformen ein, doch reaktionäre Kräfte stellen sich ihm entgegen. Er ist hin und her gerissen zwischen seiner Liebe zur Hotelangestellten Susanne Wiesenhof und der Loyalität zu seinem Land. Susanne begibt sich auf eine Reise zum christlichen Glauben, durch das Beispiel tätiger Nächstenliebe. Eine politische Affäre, aufgedeckt durch die Journalistinnen Dora und Dina Winter, legt Pläne einer Verschwörung gegen die Demokratie frei. Die Uhr tickt unaufhörlich. Feindliche Agenten sind ihnen auf den Fersen. Nach der Präsidentenwahl kommt es zum großen Showdown. Wird es den vier Verbündeten gelingen, den Putsch noch aufzuhalten?
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Jan. 2019
ISBN9783748114932
Licht und Schatten: Roman
Autor

Roland Stefan Fröhlich

Stefan Fröhlich, geboren 1983 in Bonn, ist Autor zweier Kinderbücher. Schatten der Nacht ist sein Debütroman. Er arbeitet in einer Bibliothek am Bibelseminar Bonn und schreibt in seiner Freizeit Gedichte, Kurzgeschichten und betreibt Ahnenforschung.

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    Buchvorschau

    Licht und Schatten - Roland Stefan Fröhlich

    sein.

    1. Ein verlockendes Angebot

    »Der kürzeste Weg zwischen zwei Menschen

    ist ein Lächeln.«

    Aus China

    »Manche Wege beginnen,

    das lässt sich ersinnen,

    fern voneinander, doch dann

    führen sie zueinander irgendwann.«

    Hochzeitsgedicht, Stefan Fröhlich

    Samstag, 15. Juni 2002

    Das Stapfen von Stiefeln durchbrach die Stille des nachtdunklen Schönwalds. Rhythmisch schritten die Eindringlinge durch das knackende Unterholz auf alten Schmugglerpfaden voran. Hin und wieder sprang ein aufgescheuchtes Tier aus dem Gebüsch und stob aufgeschreckt davon. Der Kommandant an der Spitze der Kompanie erreichte eine kleine Lichtung, wo er stehen blieb. Sie schien das Ziel des nächtlichen Marsches zu sein. Das Licht des Mondes und der Sterne erhellte den Platz nur spärlich, was ihm ein unheimliches Aussehen gab. Die Taschenlampen und Nachtsichtgeräte der Männer sorgten jedoch dafür, dass sie alles im Blick behielten.

    Der Befehlshaber drehte sich zu seinen Untergebenen.

    »Kompanie stillgestanden!«, befahl er mit gedämpfter Stimme. »Funker und Feldwebel folgen mir. Hauptmann Schröder übernimmt mit seinem Trupp die Aufklärung. Ich funke die Basis an und nehme Befehle entgegen.«

    Die bezeichneten Personen folgten den Instruktionen und verließen die wartende Kompanie. Nach wenigen Minuten kehrte der Kommandant von seinem Funkgespräch zurück und die Aufklärungseinheit nahm nach ausführlicher Prüfung der Lichtung wieder bei ihren Kameraden Aufstellung.

    Mit stolzgeschwellter Brust marschierte der Kommandant vor den Reihen der jungen Männer auf und ab. An seiner blauen Uniform steckten drei Orden. „Lange hat es gedauert, doch jetzt ist es soweit. Was wir in unseren Manövern probten, wird Wirklichkeit. Die geheime Anlage zu bauen, wird alles von uns verlangen, aber wir werden es schaffen. Ihr seid die Elite unserer Truppen, für diesen Augenblick ausgewählt. Von uns hängt die Zukunft des Landes ab, also enttäuscht mich nicht.«

    »Wir folgen Ihnen«, schworen die Soldaten einmütig.

    Die Offiziere kamen einem Wink des Kommandanten nach und versammelten sich bei ihm. »Trupp eins baut die Tarnzelte auf. Zwei, drei, vier und fünf roden eine Durchfahrt für die Lastwagen. Trupp sechs bildet den Beobachtungsposten, wie abgesprochen. Beeilung! Die Lastwagen kommen bald. Bis dahin muss alles fertig sein.«

    Die Kompanie verteilte sich über die Lichtung und jeder ging seiner Arbeit nach.

    Der Befehlshaber nahm seinen Feldwebel beiseite, der ihm persönlich unterstand. „Und wir sehen uns ein weiteres Mal alle strategischen Geländepunkte an. Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen!"

    Damit überquerten sie die Wiese in Richtung eines kleinen Hügels. Erst im Morgengrauen, nach Verstärkung durch die Transporttruppe, hörten die Männer mit ihrer Arbeit auf und begaben sich in ihre Tarnzelte.

    Sonntag, 16. Juni 2002

    Susanne Wiesenhof, die von allen nur Susi genannt wurde, fuhr mit ihrem Opel Corsa durch Königsstadt, der Hauptstadt des Zwergstaates Königsland. Ihr Auto war schon ein wenig in die Jahre gekommen und nicht mehr im allerbesten Erhaltungszustand. Es sollte heute ihr großer Tag werden, hatte sich die oft verträumte zweiundzwanzigjährige Hotelangestellte vorgenommen. Das rotweinfarbene Ballkleid, das die WG-Mitbewohnerin Meike ihr geliehen hatte, schien für diesen Zweck bestimmt zu sein. Die beiden jungen Frauen hatten es letztes Wochenende gemeinsam ausgesucht. Daher konnte sich Susi gewiss sein, dass es ihr stand und ihre Figur gut betonte. Hoffentlich würden auch die anderen Gäste das so sehen.

    Sie fuhr die Lindenallee bis zu ihrem Ende entlang, wo sich diese hinter einer Kreuzung unter dem Namen Waldstraße fortsetzte. Hier endete das Stadtzentrum und begann der Stadtteil Waldberg. Hier kam Susi immer wieder an den unvermeidlichen Steinberg-Restaurants vorbei. Diese Schnellimbisse schossen wie Pilze aus dem Boden.

    Am Ende der Straße passierte die Autofahrerin das Ortsausgangsschild, wohinter ein gut ausgebauter Waldweg begann. Dieser wäre normalerweise recht einsam gewesen, hätten ihn nicht Dutzende Autos, Taxen und Busse bevölkert. Überdurchschnittlich viele Edelkarossen bewegten sich hier vorwärts selbst für Landesverhältnisse, aber auch viele Mittelklasse- und Kleinwagen waren unterwegs. Susi drosselte die Geschwindigkeit, da der Verkehr zu dicht wurde. Ihr endgültiges Ziel Gut Waldstein, in dem das sehr begehrte Sommerfest stattfand, lag abgelegen im Wald. Der reiche und beliebte Gutsbesitzer Oswald Bauer hatte zu diesem Volksfest eingeladen, das war der Grund für den großen Andrang.

    Erfreulicherweise hatte Susi bei einem Preisausschreiben eine Eintrittskarte ergattern können, im Gegensatz zu ihren Freundinnen. Sicher waren sie jetzt neidisch auf sie. Denn auf der Feier war die gesamte Prominenz Königslands vertreten, wenn sie auch streng abgeschirmt von der Mehrheit der weniger Begüterten feiern würde. Etwa 1000 Glückliche aus dem gewöhnlichen Volk kamen in den Genuss einer der begehrten Eintrittskarten. Für diese Normalbürger öffnete der Gutsbesitzer den riesigen Park mit seinen vielen Pavillons. Die Prominenten und Reichen dagegen feierten im Gutshaus, das fast schon einem kleinen Schloss glich. Selbstverständlich galt Susis Eintrittskarte nur für die Feier im Park. Doch selbst hier konnten sich wichtige Kontakte für sie ergeben, zumal Kleinunternehmer und der ein oder andere Personalchef sich dort aufhielten. Und Kontakte brauchte sie, um einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

    Abends sollte ein Rock- und Popkonzert stattfinden und die Absperrung zwischen Normalbürgern im Park und Prominenten im Gutshaus würde weggeräumt werden. Der Präsident Königslands hatte für das Ende des Konzerts eine Rede angekündigt, die er an alle Gäste richtete. Im Anschluss daran sollten beide Feiern wieder getrennt voneinander fortgesetzt werden.

    Nun tat sich zu Susi linker Seite das Gutsgelände auf. Hohe Mauern und Zäune, sowie dichtes Buschwerk, hinderten sie, einen Blick auf das Gelände zu werfen. Auf der rechten Seite lag der Schönwald mit seinen alten, knorrigen Buchen. Die Autos rollten inzwischen nur noch mit Schrittgeschwindigkeit voran. Nach einer Weile lichtete sich der Wald und es eröffnete sich ein großer Parkplatz, den bereits viele Autos bedeckten. Shuttlebusse hielten an einer provisorischen Haltestelle und ließen ihre menschliche Fracht heraus. Taxen stoppten oder fuhren bis zum Haupteingang. Ein Parkeinweiser winkte Susi nach rechts weiter, damit die Straße wieder frei wurde. Es dauerte aber noch kurze Zeit, bis ihr einer der Blauuniformierten tatsächlich eine Parklücke zeigte. Susi rangierte vorsichtig ihren Wagen in die Lücke auf dem Parkplatz. Glücklicherweise konnte sie gleich beim ersten Mal gut einparken.

    Sie öffnete die Wagentür. Der Parkplatz war ungeteert und der Boden daher schmutzig. Behutsam stieg sie aus, sorgsam darauf bedacht, dass ihr Ballkleid nicht mit dem Boden in Berührung kam. Ihr Outfit, für das sie so lange gebraucht hatte, sollte keineswegs wegen einer kleinen Unaufmerksamkeit leiden müssen. Es gelang ihr ohne weitere Probleme.

    Zielstrebig wollte sie zum Gutshof gehen, als die raue Stimme eines Parkwächters Susi zurückrief. Er hatte sie abrupt aus ihren Gedanken aufgeschreckt.

    »Sie haben die Parkgebühren nicht bezahlt«, sagte er bestimmt. Seine Stimme klang schneidend.

    »Muss ich das denn?«, fragte Susi erstaunt. Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Der Parkwächter musterte sie kritisch von oben bis unten.

    Dann sagte er abschätzig: »Aber sicher. Umsonst ist nichts auf dieser Welt! Wer sollte sonst für den ganzen Aufwand aufkommen? Wenn hier niemand bezahlte, wären unsere Dienste ja überflüssig!«

    Susi dachte insgeheim, dass sie auf die Dienste der Blauuniformierten gern verzichten konnte, unterließ es aber, das dem Mann ins Gesicht zu sagen. Sie wollte keine Schwierigkeiten.

    Beschwichtigend nickte sie: »Schon gut. Können sie mir dann zeigen, wo ich das Kassenhäuschen finde?«

    Wortlos wies er ihr die Richtung und wandte sich gleich dem nächsten Auto zu. Susi ging auf ein Kassenhäuschen zu. Als sie dort die Preise sah, musste sie ihren Ärger hinunterschlucken, doch sie zahlte zähneknirschend. Anschließend brachte sie den Parkschein zum Auto und legte ihn auf das Armaturenbrett. Sie wanderte zurück, überquerte die Straße und reihte sich in die lange Menschenschlange ein, die vor dem Parkeingang wartete. Ein schmiedeeiserner Zaun grenzte das Grundstück zur Straße hin ab. Da dieser auch noch mit Efeu bewachsen war, konnte Susi von hier aus nicht auf die andere Seite sehen. Lediglich einige groß gewachsene Parkbäume erblickte sie über den Zaun hinweg. Durch das ebenfalls eiserne Tor gelangten die Gäste in den Park. Da jedoch am Eingang die Eintrittskarten kontrolliert wurden, tröpfelte die Menge nur sehr langsam hindurch. Die Wartezeit, um eingelassen zu werden, war also entsprechend hoch. Doch wie vor einem begehrten Konzert, nahm auch Susi dies gerne in Kauf. Zu stark bewegten sie Hoffnungen und Erwartungen, die sie auf die Veranstaltung setzte. Allmählich lichtete sich die Menschenreihe vor ihr. So konnte sie erkennen, dass rechts und links des Tores zwei muskulöse Wachmänner standen, die Eintrittskarten kontrollierten. Nach einer halben Stunde Wartezeit langte Susi am Tor an.

    »Zeigen Sie mir bitte Ihre Eintrittskarte!«, befahl der linke Wachmann.

    Susi zog ihre aus der Tasche und gab sie dem Mann.

    Dieser betrachtete die Karte genau und sagte schnell: »Die Karte muss gefälscht sein. Von unserer Agentur stammt sie jedenfalls nicht. Wo haben Sie die denn gekauft? Etwa auf dem Schwarzmarkt?«

    »Ich habe sie regulär bei einem Preisausschreiben gewonnen«, antwortete Susi verwirrt, »Warum sollte sie denn gefälscht sein?«

    »Sehen Sie, mit diesen und anderen Ausreden versuchen hier immer wieder Leute, heimlich aufs Gelände zu kommen. Falls ich mich irren sollte, tut es mir leid. Aber ich kann Sie so nicht hineinlassen!«, erwiderte der Wächter. Sein Blick blieb unerbittlich.

    »Moment, das kann doch nicht sein!«, rief Susi verzweifelt. All ihre Träume, all ihre Hoffnung, die sie auf diesen Tag gesetzt hatte, schienen sich zu zerschlagen. Sie musste unbedingt in den Park gelangen. Sie versuchte es noch einmal: »Prüfen Sie es bei der »Königsstädter Allgemeinen« nach. Diese Zeitung würde doch nie ein falsches Ticket verlosen.«

    »Dafür ist keine Zeit«, brummte der Wachmann. »Gehen Sie zur Seite! Es warten noch mehr Menschen auf den Einlass. Solche mit echten Karten.«

    Susi gab auf. Zu ungeduldig drängelten andere Besucher hinter ihr. Schweren Herzens verließ sie die Reihe. Ein Stück weiter blieb die junge Frau stehen und überlegte. Dass ihre Eintrittskarte gefälscht sein sollte, konnte und wollte sie nicht glauben. Vielleicht, so dachte sie, hatte der Wächter sie nur deshalb abgewiesen, weil er sie nicht ausstehen konnte. Selbst wenn es so war, was konnte sie jetzt tun? Es gab die Möglichkeit sich erneut anzustellen und es hinterher beim rechten Wächter zu versuchen. Susi hatte aber kein gutes Gefühl dabei. Sollte wirklich alles umsonst gewesen sein und sie so kurz vor dem Ziel wegen eines Stück Papiers scheitern? Wie betäubt ging Susi am Zaun entlang; weg vom Eingang. Sie stand auf der anderen Seite des Gelobten Landes und durfte nicht hinein. Wie ein Staudamm brachen in ihr Gefühle auf, die sie vorher nie so stark gespürt hatte. Mit der Kraft und allem Mut ihres Herzens wollte sie hinüber und vermochte es nicht. Sie musste die Tränen unterdrücken. Sollte sie umkehren, sich in ihr Auto setzen und wieder in ihr altes Leben zurückkehren? Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Doch wie so oft bleibt in solchen Situationen ein Funken Hoffnung zurück, der zu einer verzweifelten Entschlusskraft anschwillt, sich gegen das Unvermeidbare aufzulehnen und das Unmögliche zu wagen. So ging es auch Susi. Jedoch waren ihre Ideen, wie sie es doch auf die andere Seite schaffen konnte, kaum noch von Realitätssinn geleitet. Eine Weile suchte sie den Zaun nach Löchern ab, aber das blieb ein sinnloses Unterfangen. Zu viele Augen sahen zu und außerdem hätte sie bei einer solchen Aktion wohl ihr Ballkleid zerrissen. In gewissen Abständen patrouillierten auf dem Bürgersteig vor dem Zaun Zweiergruppen von Polizisten. Da zahlreiche Prominente das Sommerfest besuchten, wurde an Sicherheit nicht gespart. Das machte es gleichwohl für Susi unmöglich, sich ungesehen aufs Gelände zu schleichen.

    Desillusioniert beobachtete Susi, wie der Besucherstrom vor dem Parkeingang langsam verebbte. Nur noch einzelne Personen passierten das Eisentor. Der rechte Parkwächter verließ den Posten und ging hinein. Derjenige, der sie abgewiesen hatte, hielt jedoch wachsam seine Position.

    Mit Tränen in den Augen stand Susi auf dem Bürgersteig allein gelassen da.

    Die Villa Waldstein erstrahlte in hellem Glanz, wie schon lange nicht mehr. Die Vorbereitungen für das Sommerfest hatten viele Wochen in Anspruch genommen und waren auch nicht billig gewesen. Es schien sich gelohnt zu haben, wie an den unzähligen Gästen zu erkennen war. Die prunkvolle Ausstattung zeugte vom erlesenen Geschmack seines Besitzers. Oswald Bauer machte sich zwar herzlich wenig aus Luxus und überbordendem Pomp, doch wollte er den besonderen Charme dieses Hauses um jeden Preis erhalten. Zu einem nicht unerheblichen Teil des Inventars hatten seine Eltern und Großeltern beigetragen. Besucher gerieten regelmäßig ins Staunen, wenn sie die seltene Gelegenheit bekamen und das Haus besichtigen konnten.

    Dieser Teil des Sommerfestes bestand aus einer geschlossenen Gesellschaft. Hier kamen die Prominenz Königslands und Gäste aus der ganzen Welt zusammen. Einfache Bürger hatten keinen Zutritt, es sei denn, sie gehörten der Presse an oder waren Mitarbeiter einer bedeutenden Persönlichkeit. Die Berühmtheiten wollten lieber unter sich bleiben und sich in gepflegter Atmosphäre unterhalten.

    Der junge Mann, der sich auf einer edlen Sitzgarnitur niederließ, war nicht zum ersten Mal in der Villa Waldstein. Er stand in Verbindung mit dem Gutsherrn Oswald Bauer, so ging er als Gast oft hier ein und aus. Die Sitzecke war kunstfertig in eine Nische in der Wand integriert. Wer dort saß, hatte einen guten Überblick über den gesamten Raum. Andererseits lag die Nische etwas versteckt, sodass sie nicht von überall her eingesehen werden konnte. Dieser geschickte Kniff bildete eine Besonderheit der Villa Waldstein. Nicht nur die Eingangshalle, sondern auch jeder größere Salon wies gleich mehrere dieser Sitzecken auf.

    Michael Steinberg nutzte die Gelegenheit, um die neu ankommenden Gäste zu begutachten. Die geräumige Eingangshalle eignete sich sehr für diesen Zweck. Er beobachtete interessiert, wie würdevolle Herren und geschmackvoll gekleidete Damen einander begrüßten und sich angeregt unterhielten. Die Damen trugen mit ihren kostbaren Ohrringen und den Juwelen an den Halsketten ihren Reichtum zur Schau. Die Herren in ihren Anzügen waren meist einheitlicher und dezenter bekleidet, auch wenn diese maßgeschneidert waren und ebenso ein Vermögen gekostet haben mochten. Nach der Ankunft in der Halle verteilten sich die Gäste bald in die angrenzenden Salons. Michael hielt wenig von der Auftrennung des Sommerfestes in zwei separate Teile. Nichtsdestotrotz gehörte er der Prominenz Königslands an. Im Augenblick verschaffte er sich einen Überblick darüber, wen er auf der Feier erwarten konnte.

    Michael war erleichtert, dass sie bisher nicht kam. Sie hatte ihn ganz schön verletzt, als sie vor wenigen Wochen abrupt die Beziehung zu ihm beendet hatte. Jetzt hieß es, sie sei ins Ausland gegangen und studiere dort. Hoffentlich stimmte die Information, denn Michael wollte unter keinen Umständen auf diesem Fest Sibilla Weissendorn, seiner Ex-Freundin, wiederbegegnen. Zu tief saß der Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte. Er wollte nicht mehr an sie denken, und verbannte Sibilla aus seinen Gedanken.

    Viel lieber dachte er an den Gutsbesitzer Oswald Bauer, auf dessen Grund das Volksfest stattfand. Oswald verhielt sich wie ein Onkel zu ihm, ja mehr noch war er sein väterlicher Freund. Michaels Eltern waren früh gestorben und nach ihrem Tod hatte sich Oswald um ihn gekümmert. Viel von dem Erreichten verdankte er letztendlich ihm. Michael wuchs in einfachen Verhältnissen auf, mittlerweile hatte er es mit seinen 28 Jahren weit gebracht. Als Gründer und Besitzer einer Schnellimbisskette, die in wenigen Jahren aus dem Nichts zu einem großen Unternehmen angewachsen war, zählte er zu den Gutverdienenden. Dazu hatten Michaels kühl kalkulierender Verstand, sein glückliches Händchen mit Geld und einige Kredite von Oswald beigetragen. Mit 25 Jahren hatte er mit einem einzigen Schnellrestaurant begonnen. Inzwischen gab es Filialen im ganzen Land; einer Ausweitung der Geschäfte ins Ausland stand nichts mehr im Wege. Mithilfe dieser Marktlücke hatte er schnelles Geld gemacht. Viele Bürger strömten in die Steinberg-Restaurants, ob jung oder alt, ob reich oder weniger begütert. Mit schier unerschöpflichem Einsatz hatte er sein Unternehmen hochgebracht. Michael war aber auch der beliebteste Unternehmer im Land. Eine Umfrage der traditionsreichen »Business World« hatte ihn in Sachen Beliebtheit klar an die Spitze der Finanzwelt gewählt. Zudem galt Michael als der gutaussehendste und heißbegehrteste Junggeselle Königslands, wenn man dem »Society Magazin« und einigen Fernsehsendern Glauben schenkte. Doch Michael war sich da nicht so sicher. Das plötzliche Interesse an seiner Person kam ihm oft recht unheimlich vor. Außerdem suchte er zurzeit nach keiner neuen Beziehung. Sibilla hatte in seinem Herzen einen wilden Scherbenhaufen hinterlassen, der viel Zeit benötigte, bis er halbwegs gekittet war. Allzu rasch wollte er sich nicht auf eine neue Frau einlassen.

    Und trotz allem, was er erreicht hatte, fühlte er sich immer wieder innerlich leer. Womöglich war es auch deshalb, weil er schon mehr verwirklicht hatte, als andere je zu hoffen wagen durften. Er fragte sich, was es noch Größeres geben konnte, als weiterhin die Geschäfte seines Unternehmens zu führen. Sicher würde die Firma in den nächsten Jahren weiter rasant wachsen. Es mussten Entscheidungen von Tragweite über die zukünftige Ausrichtung des Unternehmens und seiner Geschäftsphilosophie gefällt werden. Doch eine Herausforderung sah Michael nicht mehr darin. Ihm kamen Fragen hoch, was nach dem Gipfel des Erfolgs auf ihn wartete. Das durfte noch nicht alles gewesen sein. Manchmal erschien es Michael, dass da ein bodenloses schwarzes Loch sich auftat, das ihn zu verschlingen drohte. Erfolg war eben nicht alles im Leben, auch wenn man sich viel damit kaufen konnte. Doch Michael war zu sehr Pragmatiker, um sich allzu tief mit diesen Problemen zu beschäftigen. Das funktionierte ausgezeichnet, solange er sich in Arbeit stürzte, dennoch konnte er ihnen nicht immer aus dem Weg gehen. Der junge Unternehmer hatte niemanden, mit dem er darüber reden konnte. Das war offensichtlich die Einsamkeit, wenn man an der Spitze stand. Auch Oswald konnte ihn nicht verstehen. Bald schob Michael diese Gedanken beiseite. Es war Sommer und dieses Fest sein Höhepunkt.

    Hin und wieder kamen doch einmal Gäste an der Sitzgruppe vorbei, Banker, Adelige, Schauspieler, Fabrikanten, Sänger und Journalisten. Und sie grüßten freundlich, wenn sie ihn sahen. Michael lächelte zurück. Das Leben musste weitergehen, dachte er.

    Er hatte genug gesehen. Michael erhob sich entschlossen von der Sitzgelegenheit und trat in den sichtbaren Bereich der Eingangshalle ein. Der Präsident wurde soeben angekündigt und dessen Eintreffen wollte er um keinen Preis verpassen. Am Eingang wartete eine Reihe von Gästen, die ebenfalls von der Ankunft des Präsidenten gehört hatten. Dem bedeutendsten Gast des Sommerfestes wurde entsprechend viel Aufmerksamkeit geschenkt.

    Es dauerte noch einige Minuten, bis der Präsident gemeinsam mit seinen Begleitern durch das ausladende Portal in die Villa Waldstein eintrat. Ein leises Raunen ging durch den Raum. Die Festgäste stellten sich auf beiden Seiten der Halle auf und ließen in der Mitte einen kleinen Korridor frei. Diesen Freiraum schritten die Neuankömmlinge entlang. Die Würdenträger und einflussreichen Persönlichkeiten, die am Rande des Korridors standen, begrüßten den Präsidenten mit Händeschütteln. So kam die Prozession nur langsam voran. Michael nutzte die Gelegenheit und musterte interessiert den Staatsmann. Präsident Gerhard Boss wirkte mit seinen 45 Jahren noch recht jung. Nichtsdestotrotz bekleidete er bereits seit einigen Jahren das höchste Staatsamt. Groß gewachsen und insgesamt von eindrucksvoller Statur machte er einen guten Eindruck. Sein schwarzer, maßgeschneiderter Anzug passte ihm perfekt. Dazu trug er eine hellblaue Krawatte aus feinster Seide. Michael bemerkte, dass die Augen des Präsidenten wachsam durch den Raum wanderten, sodass er immer alles im Blick zu haben schien. Doch er wirkte freundlich, aufgeschlossen und den Menschen zugewandt. Politisch gesehen war Gerhard Boss nicht leicht durchschaubar. Seine zahlreichen Kritiker warfen ihm vor, dass seine Politik Geldwäsche und Korruption begünstigte. Königsland entwickelte sich zu einer Oase für Steuerhinterzieher aus dem Ausland. Das war zwar ein Problem für fremde Regierungen, doch solange die Nachteile nicht die eigenen Bürger betrafen, verziehen sie es ihrer Regierung gern. Die Günstlingswirtschaft der Politik dehnte sich zum Schaden der Gesamtbevölkerung immer weiter auf die eigene Elite aus. Das machte den Präsidenten seit Monaten beim einfachen Volk so unbeliebt, dass das Vertrauen zu ihm auf einen historischen Tiefpunkt sank. Dabei trug er die Konsequenzen der Fehlentscheidungen anderer. Die Vorgänger des Präsidenten hatten unter dem Einfluss mächtiger Lobbyisten mit dieser Politik begonnen, bisher hatte sich niemand daran gewagt, dies wieder rückgängig zu machen. Doch jetzt stand Gerhard Boss selbst unter politischem Druck. In zwei Monaten waren vorgezogene Neuwahlen und es sah nicht nach einer Wiederwahl aus. Alle Umfragen der Meinungsforschungsinstitute prognostizierten ihm eine vernichtende Niederlage. Seine Partei, die seit der Staatsgründung noch nie abgewählt worden war, würde die Rechnung für ihre Misswirtschaft der letzten Jahre erhalten. Schwierigkeiten bereitete den Kritikern allerdings, dass Präsident Boss keine ernsthaften Gegner fürchten musste. Diese hatten sich aus der Politik zurückgezogen. Es gab daher kaum eine sinnvolle Alternative zu ihm. Trotzdem konnte er im ersten Wahlgang abgewählt werden, wenn die Mehrheit der Bürger gegen ihn stimmte. Die Entscheidungsmöglichkeiten des Volkes bezogen sich zunächst also nur auf Wiederwahl oder Abwahl des Präsidenten. Im Falle seiner Abwahl musste seine Partei einen oder mehrere neue Kandidaten aufstellen, die bei einem zweiten Wahlgang direkt vom Volk gewählt werden konnten. Gegenkandidaten der Unabhängigen im Parlament hatten wenige Chancen zum Zuge zu kommen. Präsident Boss wusste von dem Dilemma, in dem er steckte. Gespannt wartete die Gesellschaft darauf, wie er auf die drohende Niederlage reagierte. Nichts jedoch am heutigen Auftreten des Präsidenten ließ schrumpfendes Selbstbewusstsein erkennen. Er bewegte sich in der Eingangshalle unter Menschen, bei denen seine Beliebtheit nie nachgelassen hatte. Die Prominenten vertrauten ihm weiterhin, weil sie am meisten von ihm profitierten.

    Michaels Blick wanderte zu den Begleitern des Präsidenten. Rechts neben ihm ging General Gustav Weissendorn, ein Machtmensch ersten Ranges. Mit seinen 65 Jahren gehörte er noch lange nicht zum alten Eisen, sondern kannte sich auf allen aktuellen Gebieten der Militärführung und der Politik aus. Er war der ranghöchste General von Königsland und zugleich wichtigster militärischer Berater des Präsidenten. Michael fiel der Unterschied im Auftreten dieser beiden Personen sofort ins Auge. Während Präsident Boss den Blickkontakt zu den Menschen, denen er die Hände schüttelte, suchte, und ihnen freundlich lächelnd begegnete, schaute Weissendorn nur mit stahlharter Miene abschätzig drein. Seine Erscheinung, das graue Haar eingeschlossen, hätte den Eindruck eines weisen Menschen vermitteln können, wäre da nicht dieser eiskalte Blick gewesen. Der General galt als jähzornig, unberechenbar, aber auch als hochintelligenter Taktikfuchs. Manche glaubten, dass in Wirklichkeit er die Fäden der Politik in der Hand hielt. Michael hatte einen weiteren Grund, warum er den General nicht mochte. Er war der Vater seiner Ex-Freundin. Anscheinend hatte Sibilla von ihm eine Reihe unangenehmer Eigenschaften geerbt.

    Oswald Bauer, der Gastgeber des Festes, trat dem Präsidenten freundlich und aufgeschlossen gegenüber.

    »Es freut mich, Sie auf meinem Landsitz empfangen zu dürfen«, begrüßte er ihn. Beide drückten sich die Hände. »Ich hoffe, dass es Ihnen hier gefallen wird.«

    »Mich freut es auch, dass ich an diesem Volksfest teilnehmen darf«, sagte der Präsident augenzwinkernd. »Wir werden sicher später noch die Gelegenheit bekommen über meine neuen Pläne für Königsland zu sprechen.«

    Nach der Begrüßungsszene löste sich die kleine Versammlung in der Eingangshalle auf. Die Gäste verteilten sich wieder in die Salons oder auf die große Terrasse, nahmen auf Sitzecken Platz und unterhielten sich miteinander. Auch Michael verließ die Eingangshalle und schlug den Weg durch die vielen Räume des Hauses zum Billardzimmer ein. Auf dem Weg dorthin durchquerte er einige Salons, die ineinander übergingen. Im Gelben Salon, wo sich gleich mehrere Sitzecken befanden, debattierten einige Herren über Themen aus Politik und Wirtschaft. Michael wurde auf eine kleine Traube Menschen aufmerksam, die sich in einer Ecke des Raumes versammelt hatte. Sie scharten sich um einen einzelnen Redner und hörten ihm zu. Gespannt kam er näher und stellte fest, dass Präsident Boss das Zentrum ihres Interesses war. Da Michael ihn noch nicht besonders gut kannte, gesellte er sich dazu. Bisher waren sie einander nur flüchtig begegnet.

    Boss gestikulierte mit seinen Armen und rief aufgeregt: »Eine neue Zeit für unser Land wird kommen. Ab jetzt ist Schluss mit Korruption und Geldwäsche! Endlich werden wir dem ein Ende setzen.«

    Michael fragte sich, warum Boss erst so kurz vor der Wahl auf diesen Gedanken kam. Das sah gehörig nach einem Versuch aus, das Ruder letztlich herumzureißen, um die Wahl doch noch zu gewinnen.

    Dennoch sprach dieser weiter: »Wir werden die Wirtschaft ankurbeln und die Staatseinkünfte gerechter aufteilen. Alles wird anders. Nun beginnt eine neue Zeit.«

    Immerhin war der Präsident mutig genug, sich zuerst an die Menschen zu wenden, die bis jetzt von der alten Politik profitiert hatten. Ein Politikwechsel, sofern dieser ernst gemeint sein sollte, würde ihre Interessen ernsthaft gefährden. Das war ein gefährliches Spiel mit dem Feuer, aber Gerhard Boss schien zu wissen, worauf er sich da einließ. Andererseits konnten die Reichen durchaus aus einem Abbau der Bürokratie ihren Nutzen ziehen.

    Michael mischte sich unter die debattierende Gruppe und beteiligte sich an der Diskussion. Oft widersprach er Rednern, manchmal auch dem Präsidenten, und legte seine eigenen Standpunkte dar. Präsident Boss war darüber aber keineswegs verärgert, sondern schien ihn mit Wohlwollen zu betrachten. Interessiert hörte er Michaels Ausführungen zu. Dann ergriff er wieder das Wort und verriet ein wenig über seine Pläne, auch wenn er dabei nicht allzu konkret wurde. Die allgemeine Stimmung in der Gruppe schlug zugunsten des Präsidenten um. Ja, diesmal würde vieles anders werden, sagten sich die Debattierenden. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass Boss es ernst meinte.

    Der einzige, der sich immer noch kalt und berechnend umsah, war der General, der keinen Fingerbreit von der Seite des Präsidenten wich. Er beteiligte sich nicht an der Diskussion und verriet mit keiner Miene, was er davon hielt.

    Boss hob begeistert an: »Ja, es wird einen Neuanfang für unser Land geben und heute ist erst der Anfang.«

    Gut gelaunt schlenderten zwei junge Frauen durch die Salons der Villa Waldstein. Hin und wieder ließ eine von ihnen ein helles Lachen vernehmen, wenn sie sich über eine einfallsreiche Bemerkung aus ihrem letzten Interview amüsierten. Grund dazu gab es genug, denn die beiden Schwestern waren heute ganz in ihrem Element. Sie waren nicht deshalb gekommen, weil sie selbst prominent gewesen wären, sondern eher, weil sie beruflich mit diesen Menschen umgingen. Das erklärte auch, warum die beiden gut sichtbare Presseschilder an ihrer Kleidung trugen.

    Dora und Dina Winter kamen an einzelnen Menschentrauben vorbei und wanderten quer durch die Villa. Ihr heutiger Auftrag brachte es mit sich, dass sie den größten Teil der Zeit kaum gefordert waren. Sie nutzten die Gelegenheit und machten von vielen Unterhaltungsangeboten Gebrauch. Ein Salon des Hauses war als Kino eingerichtet, wo ohne Unterbrechung populäre Filme gezeigt wurden. Auf einer kleinen Bühne in einem Vorführraum gaben Komiker ihre Späße zum Besten und in der privaten Bibliothek stellten Schriftsteller ihre neuesten Bücher vor. Natürlich existierte auch eine Bar, für diejenigen, die sich weniger intellektuell betätigen wollten. Zwischendurch wurden die Schwestern dann doch wieder für ihren eigentlichen Auftrag benötigt.

    Dora und Dina befanden sich hier in einer ungewohnten Situation. Sie waren zum ersten Mal auf dem Sommerfest, das alljährlich auf Gut Waldstein stattfand. Ihre Aufgabe bestand darin, für die »Königsstädter Allgemeine Zeitung« über das Volksfest zu berichten. Es bedeutete eine überaus große Ehre, dass die beiden jungen, aufstrebenden Journalistinnen dafür ausgewählt worden waren und keineswegs nahmen sie das als selbstverständlich. Gewöhnlich erhielten nur erfahrene und spezialisierte Presseleute die Chance auf einen Arbeitsauftrag auf dem Fest. Dass die Schwestern jetzt schon eingeladen worden waren, und nicht erstmalig nach vielen Jahren, galt als Vertrauensbeweis in ihre Fähigkeiten. Dabei arbeitete Dora nach ihrem Journalistikstudium seit knapp zwei Jahren für die Allgemeine und Dina hatte gerade erst dort angefangen. Harry Hans, der Chefredakteur der Zeitung, vertrat die Meinung, dass junge Menschen in Aufgaben hineinwachsen sollten. Er hatte recht bald das Talent der beiden Schwestern entdeckt und setzte große Hoffnungen in ihre Zukunft. Als Förderer gab er ihnen abwechslungsreiche Aufträge, mit teils höherer Verantwortung als allgemein üblich. Die Journalistinnen hatten schon am Anfang ihres Berufslebens eine Festanstellung bekommen. Das bedeutete eine bevorzugte Behandlung, die Berufseinsteiger bei der Allgemeinen sonst nicht bekamen. Doch eine ganz andere Sache war die Einladung zum Sommerfest. Diese Gelegenheit kam einer Beförderung gleich, selbst wenn sie keine weiteren Privilegien mit sich brachte.

    Dora und Dina teilten sich zwar den Beruf, waren aber charakterlich unterschiedlich. Das spiegelte sich auch in ihren Aufgabenbereichen wider. Meistens arbeiteten sie zusammen. Dora war außerdem eine ausgezeichnete Fotografin und hatte eine Zusatzausbildung als Pressefotografin gemacht. Sie hatte den besonderen Blick, der dafür nötig ist, im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche zu sehen und davon das Bedeutende auszuwählen. Dazu kam noch ein geschickter Umgang mit der Kamera, sodass sie diese Momente genau festhalten konnte. Oft schoss Dora Fotos für die gemeinsamen Artikel. Dina dagegen hatte die Menschen und ihre Anliegen im Auge. Sie war in der Gesprächsführung geschult und konnte die Interviews in die richtige Richtung lenken. Sie kam schnell auf den Punkt, zudem entdeckte sie meist bald, ob jemand unaufrichtig war, oder die Wahrheit sagte. Unbestreitbar aber schrieben beide ausgezeichnete Artikel. Dabei wechselten sie sich je nach Aufgabenstellung immer reihum ab. Diese Mischung aus individuellen Fähigkeiten und gemeinschaftlicher Ergänzung schätzte Harry Hans an ihnen besonders. Als Team waren die Schwestern kaum zu schlagen. Der größte Auftrag ihrer bisherigen Karriere verlangte jedoch viel Improvisationstalent.

    Auch im Aussehen unterschieden sich die 24-jährige Dina und die 25-jährige Dora voneinander. Dora hatte dunkles, schwarzes Haar, das ungefähr bis zu ihren Schultern herabhing. Es war recht glatt, auch wenn sie sich lieber Locken gewünscht hätte. Die trug stattdessen Dina in ihrem von Natur aus kastanienbraunen Haar. Dina hatte es allerdings um eine Nuance heller färben lassen. Jede von ihnen besaß eine besondere, hübsche Ausstrahlung, doch jede auf ihre eigene Art. Dora liebte die Ordnung, während Dina das Chaos, das sie anrichtete, nie bändigen konnte. Entsprechend sahen ihre Schreibtische am Arbeitsplatz aus. Es entstanden immer wieder auch Streitereien zwischen ihnen, die aber meist humorvoll geführt wurden. Und schließlich kamen sie zu einem versöhnlichen Ende.

    Heute hatten die Journalistinnen sich festlich angezogen und auf legere Kleidung, die sie sonst vorwiegend trugen, verzichtet. Mit Pullover und Jeans wären sie gewiss unter den prominenten Gästen unangenehm aufgefallen. Und sie vertraten ja vor allem die Interessen der Zeitung, deren Leser diesen Kreisen entstammten. Die Presseausweise sorgten dafür, dass Dora und Dina, obwohl sie mit dem teuren Kleidungstil der Berühmten nicht mithalten konnten, auf dieser Feier überall gern gesehen wurden. Es ergaben sich gute, meist private Gespräche. Fürs Erste hatten sie noch kaum arbeiten müssen. Das Wichtigste war am Abend die Rede des Präsidenten und bis dahin durften sie sich hier vergnügen. Bisher hatten sie mit den anderen Gästen gescherzt und gelacht.

    Doch jetzt strebten die Journalistinnen zielstrebig auf eine bestimmte Sitzecke im Jagdsalon zu, denn ihr Chefredakteur hatte sie rufen lassen. Der Salon wies an seinen Wänden Dutzende daran befestigte Geweihe und ausgestopfte Hirschköpfe auf. Vor dem Kamin lagen kostbare Bärenfelle und Perserteppiche bedeckten an einigen Stellen den blitzblanken Marmorboden. Auf einem Sofa saß Harry Hans und rauchte eine Zigarre. Er unterhielt sich mit anderen Zeitungsfunktionären, die ihm gegenübersaßen. Doras Augen wanderten suchend durch den Raum, bis sie den Chefredakteur gefunden hatte. Dieser hatte die beiden ebenfalls gesehen, entschuldigte sich bei seinen Gesprächspartnern, stand auf und kam auf die Journalistinnen zu.

    »Na, wie gefällt euch das Fest, Mädels?«, sprach er fröhlich, »Habe ich euch nicht zu viel versprochen?«

    »Nein, überhaupt nicht«, sagte Dina begeistert, »Wir genießen die Atmosphäre und sind schon gespannt, welche Aufgaben heute noch auf uns warten.«

    Harry Hans blickte heiter auf. Es war ein großer Tag für die Schwestern und er setzte hohe Erwartungen in sie. Er hatte ihnen wegen ihrer vielseitigen Einsetzbarkeit den Vorzug gegeben. Und er wusste, dass er auf sie zählen konnte.

    »Dann dürft ihr euch über euren ersten Sonderauftrag freuen. Ich habe nämlich etwas für euch, Mädels«, versprach er nun. »Der Präsident hat einen Neuanfang für Königsland angekündigt. Darum solltet ihr euch jetzt kümmern. Boss hält sich übrigens im Gelben Salon auf, wo er gerade eine kleine Debatte führt. Hört ihm zu, macht euch Stichpunkte, und ergänzt sie gegebenenfalls mit seiner Rede am Abend.«

    Der Chefredakteur der staatlichen Zeitung, nebenbei der wichtigsten in Königsland, füllte seinen Posten seit einer Reihe von Jahren aus. Mit seinen 54 Jahren war er noch genauso erfolgreich, wie zu Beginn seiner Karriere. Wer sein wahres Alter nicht kannte, hätte ihn jünger eingeschätzt. Das lag daran, dass er sein Haar blond färbte, um die grauen Strähnen zu verbergen, die immer zahlreicher wurden. Doch auch sonst sah er sportlich aus und erweckte den Eindruck eines jung gebliebenen Menschen.

    »Ein Neuanfang?«, fragte Dora skeptisch. »Das ist ja ganz was Neues. Was will Boss denn damit bezwecken?«

    »Das weiß ich nicht«, sagte Harry Hans achselzuckend. »Ich habe eben mit jemandem gesprochen, der dem Präsidenten im Gelben Salon zugehört hat. Aber viel mehr konnte ich nicht erfahren. Da müsst ihr beiden schon ran.«

    »Ich danke Ihnen, dass Sie uns Ihr Vertrauen geschenkt haben, denn sonst hätten Sie uns ja nicht mitgenommen«, erklärte Dora. »Und wir werden unser Bestes geben.«

    »Das weiß ich doch«, bemerkte ihr Arbeitgeber grinsend. »Nicht umsonst habe ich euch gefördert. Aber jetzt macht ihr euch besser auf den Weg.«

    »OK, packen wir’s an!«, sagte Dina und die Schwestern zogen los.

    Unterwegs schlenderten sie an einigen Kollegen vorbei. Auch die Allgemeine hatte weitere Journalisten und Fotografen mitgenommen, jeden mit unterschiedlichen Aufträgen ausgestattet, damit sie sich nicht in die Quere kamen. Die Ankunft der Prominenten an der Auffahrt zum Gutshaus hielt ein erfahrener Fotograf fest. Gespräche mit den einzelnen Berühmtheiten führten heute andere. Dora und Dina sollten sich allein auf die Politik und hauptsächlich auf die Rede des Präsidenten konzentrieren. Doch fiele ihnen etwas Bedeutsames aus einem fremden Bereich auf, würden sie ihrem dafür zuständigen Kollegen Bescheid geben.

    Kurz vor dem Gelben Salon trafen sie auf eine bekannte Schauspielerin. Dora zog Dina am Ärmel, da sie wusste, dass sie ihre Schwester sonst nicht mehr wegbekommen hätte. Und bei ihrem Auftrag kam es auf jede Minute an.

    Im Gelben Salon stand eine Gruppe in der Nähe des Präsidenten. Da sie erst relativ spät eintrafen, erkundigte sich Dina bei einem Umstehenden, was der Präsident bisher im Wesentlichen gesagt hatte. Flink schrieb sie Notizen auf und lauschte gleichzeitig aufmerksam, wie die Debatte weitergeführt wurde. Währenddessen wuselte Dora durch den Raum und fotografierte den Präsidenten aus verschiedenen Entfernungen und Positionen. Dabei fielen ihr die entschlossenen, eiskalten Augen des General Weissendorn auf. Als sie auch von ihm eine Aufnahme machte, erntete sie einen vernichtenden Blick. Der Präsident stattdessen liebte die Aufmerksamkeit und präsentierte sich immer in einem günstigen Licht.

    Nachdem die Debatte endete und sich die Menge langsam zerstreute, fragte Dora ihre jüngere Schwester: »Hast du die Augen von General Weissendorn gesehen, der die ganze Zeit neben Präsident Boss stand und die Leute kritisch musterte?«

    Dina nickte: »Ja, diesmal ist mir das auch aufgefallen. Wer weiß schon, was in diesem Machtmenschen so vor sich geht. Etwas Gutes kann es jedenfalls nicht sein. Anders wirkte der junge attraktive Mann in der Menge rechts des Präsidenten. Er strahlte eine traurige, aufrichtige Würde aus. Schade eigentlich, dass man nicht in die Herzen der Menschen sehen kann. Denn dort sieht vieles anders aus, als es den Anschein hat.«

    Aller Hoffnungen beraubt, wartete Susi seit einer vollen Stunde am Zaun des Gutshauses. Vom Park her drang fröhliches Gelächter zu ihr herüber, laute Musik ergänzte die lebhafte Geräuschkulisse. Susi wusste, dass im Park Karussells und Hüpfburgen für die Kinder der Gäste bereitstanden. Das Fest vermittelte den Eindruck eines ausgelassenen Jahrmarktes, auch wenn sie nichts davon sehen konnte. Nur sie stand alleingelassen auf der falschen Seite da. Natürlich blieb Susi in der Zwischenzeit nicht untätig. Nach einer Wachablösung hatte sie es am jetzt fast menschenleeren Parkeingang bei einem anderen Wächter versucht, doch leider vergeblich. Irgendetwas stimmte mit der Eintrittskarte nicht. Ein Anruf bei der »Allgemeinen Zeitung« hatte keine Klarheit gebracht, warum das verloste Ticket keine Gültigkeit besaß. Der für die Öffentlichkeitsarbeit der Zeitung zuständige Mitarbeiter befand sich ebenfalls auf dem Sommerfest und war telefonisch nicht zu erreichen. Dann war sie am Zaun entlang gegangen und bis zu einem zweiten größeren Tor gekommen von dem aus eine Einfahrt zum Gutshaus führte. Doch diese Zufahrt wurde viel strenger bewacht, da hier die Autos der Prominenten bis zum Kreisel vor der Villa vorfuhren. Fünf Polizisten patrouillierten ständig am Tor, wobei die gesamte Auffahrt von hier aus nicht einmal eingesehen werden konnte. Susi war weiter gewandert bis zum Ende des Zauns. Dahinter hörte das Gutsgelände auf und auf der linken Seite erstreckten sich Weizenfelder soweit das Auge reichte. Die Straße führte nur noch als ungeteerter Feldweg in die Ferne. Da es nirgends nach einem anderen Eingang ausgesehen hatte, war sie wieder umgekehrt, bis zu dem Punkt ihres Aufbruchs.

    Dort stand sie unbeweglich mit Tränen in den Augen und verwischter Schminke im Gesicht. Sie ahnte langsam, dass sie es nicht mehr auf das Volksfest schaffte, doch irgendetwas in ihr weigerte sich, aufzugeben. Gelangweilt starrte sie zum Parkplatz, wo der Parkplatzwächter zum bestimmt zwanzigsten Mal seine Runden zog. Spöttisch sah er zu ihr herüber und spekulierte vermutlich darüber, wann die junge Frau endlich aufgab.

    Da hörte Susi eine helle Kinderstimme neben sich. Sie zuckte überrascht zusammen, denn sie hatte niemanden kommen gehört.

    »Möchtest du auch rein?«, fragte die Stimme.

    Susi drehte sich zu ihr um und entdeckte einen etwa achtjährigen blonden Jungen, der am Zaun entlang geschlendert kam. Die Frau bückte sich ein wenig zu ihm herab und sagte: »Ja, ich möchte gerne auf das Sommerfest, aber ich habe leider keine Eintrittskarte. Meine ist irgendwie ungültig.«

    Die Traurigkeit in ihrer Stimme konnte sie nicht verbergen. Der Bursche nahm davon Notiz.

    Susi musterte ihn. Er trug einfache Kleidung; Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Er hätte direkt von einem Tennisplatz kommen können.

    »Das macht nichts, eine Eintrittskarte habe ich auch nicht«, bemerkte der Junge fröhlich. »Übrigens, ich bin der Uli. Und wer bist du?«

    »Ich bin Susanne, aber meine Freunde nennen mich Susi«, antwortete sie. Die Hotelangestellte überlegte ernsthaft, warum sie sich auf ein Gespräch mit einem kleinen Jungen einließ, der ihr kaum weiterhelfen konnte. Unbeirrt plauderte er weiter.

    »Oh, meine Mutter hieß auch so«.

    »Sie hieß? Lebt sie nicht mehr?«, fragte Susi nach.

    »Meine Eltern starben bei einem Autounfall.« Die Stimme des Jungen klang traurig. »Aber ich wohne bei meinem Onkel.«

    »Das tut mir Leid«, sagte Susi schnell. Sie war glücklich, dass sie noch Eltern hatte.

    Uli sprach munter weiter: »Danke, mein Onkel sorgt gut für mich. Ich bin froh, dass ich bei ihm leben darf.«

    »Und warum bist du hier allein und ohne Begleitung?«, fragte sie skeptisch.

    Merkwürdig fand sie die Sache schon. Es gab an dieser Stelle keine anderen Häuser im Schönwald außer Gut Waldstein. Die Stadt war für einen Fußmarsch zu weit entfernt.

    »Weil ich rein will«, sagte der Junge wie selbstverständlich. »Ich möchte nämlich auch auf das Sommerfest. Dort soll es sogar ein Riesenrad geben.«

    »Bist du zu Fuß gekommen?«

    »Nein, ich wohne hier in der Nähe.«

    Susi wunderte sich. Sie fragte sich noch einmal, ob es hier Nachbarhäuser gab, von denen sie nichts wusste, doch sie ließ es mit ihren Fragen dabei bewenden.

    »Aber ich habe alles schon versucht«, seufzte sie.

    Uli erkundigte sich neugierig: »Was hast du versucht?«

    »Ich bin am Bürgersteig entlanggegangen«, erklärte Susi, »Es gibt keine Löcher im Zaun.«

    »Dann nehmen wir eben den Parkeingang«, schlug Uli vor.

    »Da wird man uns nicht einlassen«, konstatierte die junge Frau. Schon überlegte sie, wie sie das Gespräch abbrechen konnte, um den kleinen Jungen abzuwimmeln.

    »Doch das wird man!« Er zeigte nicht einen Hauch von Unsicherheit.

    Susi plante, etwas dagegen einzuwenden, aber der Junge reichte ihr seine Hand. Damit zog er sie einfach mit in Richtung Eingang. Uli war felsenfest davon überzeugt, dass es funktionieren könnte. Sie wollte ihn nicht enttäuschen und folgte ihm widerwillig.

    Am Parkeingang standen zwei Wächter und vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen. Als sie das ungleiche Paar erblickten, verstummten sie und öffneten kommentarlos das Tor. Staunend fasste Susi nicht, was sie dort sah. Wie im Traum lief alles vor ihr ab und sie fragte sich nach dem Grund für die überraschende Wendung.

    Uli, der ihr Zögern bemerkte, zupfte eilig an ihrem Kleid. Susi entschloss sich, ihm zu folgen. Diese Gelegenheit bot sich kein zweites Mal. Die Wächter standen noch immer regungslos vor dem Tor und erwarteten keine Eintrittskarte von ihnen. Gemeinsam betraten Susi und Uli das Parkgelände. Wie von der anderen Seite zu hören gewesen war, ging es im Park lebhaft zu. Pavillons, Imbissbuden und Musikanlagen luden zu geschäftigem Treiben ein. Kinder vergnügten sich auf den Karussells, Hüpfburgen und einem kleinen Riesenrad. Erwachsene unterhielten sich in gemütlichen Open-Air Cafés.

    Doch noch immer staunte Susi über Uli. Wer war der Junge, dass die Wächter so einfach das Tor öffneten? Sie realisierte es kaum.

    »Was verheimlichst du mir?«, fragte Susi ihn. »Warum haben uns die Wächter hereingelassen?«

    Stolz verkündete Uli: »Ich wohne hier.«

    Susi erkannte, dass auf dem Gutsgelände neben der Villa ein kleineres Steinhaus stand. Vermutlich wohnten dort Mitarbeiter des Gutsbesitzers mit ihren Familien und Uli musste wohl der Sohn eines von ihnen sein.

    »Und was machen wir jetzt?«, fragte Susi verblüfft. Eben hatte sie noch davon geträumt, wie es wäre, auf der anderen Seite zu stehen, sodass sie, als es so kam, nicht mehr wusste, was sie hier anfangen sollte.

    »Ich werde dir alles zeigen«, sagte Uli, »Komm mit!«

    Das ergab durchaus Sinn, dachte Susi. Er kannte sich aus und würde sie durch den Park führen. Also folgte sie ihm. Der Junge und die Frau gingen gemeinsam über das Gelände. Doch Uli hielt an keiner der Attraktionen an und bahnte ihnen einen Weg durch die vielen Menschen. Schließlich kamen sie in einen ruhigeren Teil des Parks, von wo aus man einen guten Blick auf die Absperrung werfen konnte, welche die einfache Gesellschaft von der Feier der Prominenten trennte.

    »Wohin führst du mich?«, fragte Susi.

    »Das wirst du schon sehen«, antwortete Uli und ging weiter. Sie hielt irritiert an. Der Junge schritt nämlich einen immer schmaler werdenden Weg entlang, zwischen engstehenden Buchsbäumen. Das war kein offizieller Gartenweg, sondern eher ein Trampelpfad über einige Beete. Was hatte der Junge nur vor? Als er bemerkte, dass sie stehen blieb, kam er zurück und sah sie mit bittenden Augen an.

    »Wir sind bald da«, erklärte er, »Es wird dir gefallen. Kommst du mit?«

    Warum sie das tat, konnte sich Susi nicht erklären, doch ein Gefühl gab ihr vor, dass sie ihm folgen sollte. So machte sie sich auf den Weg und vorsichtig führte er sie einen versteckten Weg entlang. Und dann kamen sie in einem Teil des Parks an, den Susi noch nicht auf ihrer Wanderung gesehen hatte. Es dauerte kurze Zeit, bis sie begriff, dass sie mittlerweile auf der anderen Seite der Absperrung angekommen waren. Sie waren nicht länger auf der einfacheren Volksfeier, sondern dort wo die Reichen und Berühmten feierten. Uli hatte eine Möglichkeit gefunden, die Barriere zu umgehen.

    »Das ist nicht richtig, Uli«, stammelte Susi verlegen. »Ich habe nichts auf dieser Seite zu suchen. Ich bin nicht zu der Feier eingeladen.«

    »Doch das bist du«, erwiderte Uli entschlossen. »Ich lade dich ein.«

    Langsam ahnte die junge Frau etwas.

    »Oswald Bauer ist dein Onkel?», fragte Susi erstaunt. Dann warf sie ein: »Aber was soll ich bei den Prominenten? Das ist eine geschlossene Gesellschaft.«

    Uli kramte in seiner Tasche. Zufrieden zog er ein kleines Ansteckschild heraus. »Wenn du das nimmst, wird dich keiner hier herausschmeißen.«

    »Was ist denn das?« Susi nahm den Anstecker und erkannte, dass es sich um ein Presseschild handelte.

    In diesem Augenblick riss sich Uli von ihr los und lief über eine bedachte Terrasse in die Villa. Susi war so verblüfft, dass sie ihm nicht folgen konnte und diesmal kam er nicht zurück. So überlegte sie, ob sie denselben Weg zurückgehen sollte, den der Junge sie geführt hatte. Doch sie wusste auch, dass sie ihn allein niemals würde wiederfinden können. Es dunkelte langsam und der Schleichweg war zu verwickelt, als dass sie sich hätte daran erinnern können, wo sie entlang gekommen waren. Die Situation gestaltete sich brenzlig. Entdeckte man sie hier, drohten ihr Schwierigkeiten. Bleiben konnte sie also nicht. Es gab nur eine einzige Möglichkeit. Sie musste weiterhin auf Uli hören, und ihm in die Villa Waldstein folgen.

    Michael und Oswald waren ins Gespräch vertieft und unterhielten sich über wirtschaftliche Entwicklungen in Königsland, als unversehens Präsident Boss an sie herantrat. Sie hatten ihn gar nicht kommen gehört. Der General fehlte diesmal an seiner Seite.

    »Darf ich mich zu Ihnen gesellen?«, fragte der Präsident.

    »Selbstverständlich«, antwortete Oswald, »Wir sprachen über die ökonomische Situation des Landes.«

    »Dann störe ich Sie doch hoffentlich nicht bei einer wichtigen Besprechung?«, sagte Boss mit fragendem Blick.

    »Keineswegs«, erwiderte Oswald, »Ich habe Michael gerade für seine Ideen zur Expansion seines Unternehmens gelobt. Einen so lernbereiten Schüler hatte ich noch nie.«

    Michael sagte dazu: »Dafür hatte ich auch den besten Lehrer, den ich bekommen konnte.«

    Boss sah Michael erwartungsvoll an. »Ich bin fasziniert von Erfolgsgeschichten in der Wirtschaft, vor allem wenn sie auf Fleiß und Nachhaltigkeit beruhen. Verraten Sie mir doch den Schlüssel zu Ihrem Erfolg?«

    Michael verwunderte es, dass der Präsident sich auf einmal für ihn interessierte. Er hatte bis heute noch nie einen Gedanken daran verschwendet, dass seine Unternehmensgeschichte bis in die höchste Politik Wellen geschlagen haben könnte. Wenn er jetzt darüber nachdachte, erschien es ihm nachvollziehbar. Andere Menschen suchten nach Erfolgsprinzipien, die sie selbst umsetzen konnten.

    Der junge Unternehmer entgegnete jedoch: »Da muss ich Sie leider enttäuschen. Es gibt nicht den einen Schlüssel zum Erfolg, sondern gleich mehrere. Jeder von ihnen funktioniert unter bestimmten Bedingungen. Dennoch existieren Unternehmensregeln, ohne die Erfolg gar nicht erst nicht möglich ist. Einsatz, Mut, Entschlusskraft und die Fähigkeit aus Misserfolgen zu lernen.«

    »Ich bewundere diese Ideale«, erklärte Boss, »Davon bräuchten wir sehr viel mehr in der Politik.«

    Oswald bemerkte: »Da haben Sie Recht. Nicht alle jedoch sind dieser Meinung.«

    Boss sprach ein wenig gequält: »Damit muss ich mich tagtäglich abplagen. Ich wünschte, ich könnte mein Kabinett für diese Strategie gewinnen.«

    Er machte eine Pause. Dann fuhr er fort: »Herr Steinberg, würde es Ihnen etwas ausmachen, Sie einige Augenblicke allein zu sprechen?«

    »Das ist in Ordnung. Ich stehe dafür zur Verfügung«, sagte Michael überrascht.

    »Und Sie, Herr Bauer, könnten Sie Ihren Gesprächspartner kurze Zeit erübrigen?«

    »Ich wollte ohnehin gerade gehen«, erklärte Oswald, »Mich ruft die Pflicht. Mein Konferenzzimmer bietet Ihnen einen geschützten Rahmen für die Besprechung.«

    »Vielen Dank«, sprach Boss erfreut. »Es geht um eine sehr wichtige Angelegenheit.«

    Michael entschuldigte sich bei Oswald und folgte dem Präsidenten durch einige Salons. Bald erreichten sie ein kleines abschließbares Nebenzimmer, in das sich ausgewählte Gäste zu ungestörten Konversationen zurückziehen konnten. Während er ihm nachging, stellte sich Michael eine Menge Fragen. Was wollte Boss von ihm? Bis auf das eben zurückliegende Gespräch und die Diskussion im Gelben Salon hatten sie noch nie miteinander gesprochen. Zudem interessierte sich Michael nicht für Politik. Er hatte keine hohe Meinung von den sogenannten Volksvertretern und das war allgemein bekannt. Präsident Boss kam nicht besser weg, als seine Minister oder andere Politiker. Michael hatte nur allzu viel von den negativen Seiten des Staatsoberhauptes gehört. Deshalb wollte er seine bisherige Distanz zur Politik wahren. Folglich erwartete er nichts von diesem Gespräch.

    Michael schloss die Tür des Nebenzimmers ab. Dann setzten sich die beiden Männer an den Tisch in der Mitte des Raumes, so dass sie sich gegenüber saßen. Michael verfolgte aufmerksam die Miene des Präsidenten. Doch dieser verbarg selbst mit seiner Körpersprache, worauf er hinauswollte.

    »Sie fragen sich gewiss, warum ich Sie alleine sprechen will«, begann Boss freundlich. »Aber bevor ich damit beginne, möchte ich mich erkundigen, wie Sie über den Neuanfang für Königsland denken?«

    »Ich schätze, dass es eine gute Gelegenheit für Königsland ist, seinen Ruf zu verbessern«, formulierte Michael vorsichtig eine Antwort. »Das ist eine Notwendigkeit auch den eigenen Bürgern gegenüber.

    »Das ist richtig«, insistierte Boss, »Das passt gut zu meiner neuen Vision, die ich für Königsland entwickelt habe.«

    Nachdenklich fügte Boss hinzu: »Zu diesem Zeitpunkt ist ein Neubeginn unbedingt erforderlich, da die Glaubwürdigkeit der Regierung zu wünschen übrig lässt. Ich habe in meiner Amtszeit viele Fehler begangen, die ich jetzt bereue. Doch ich möchte einen Neustart wagen, damit die Fehler der Vergangenheit keine Wiederholung finden.«

    »Was soll dieser Neuanfang denn beinhalten?«, fragte Michael neugierig.

    »Ich möchte das Kabinett umstrukturieren, mit Menschen an meiner Seite, die den Politikwechsel mittragen.« Boss wirkte überzeugend.

    »Das sind ambitionierte Pläne, doch warum reden Sie ausgerechnet mit mir darüber?«

    »Da kommen Sie ins Spiel«, antwortete der Präsident knapp.

    Michael fiel aus allen Wolken. »Was habe ich damit zu tun?«

    »Sie haben in kürzester Zeit eine florierende Restaurantkette aufgebaut«, lobte Boss. »Davor haben Sie in der »Bank von Königsland« im führenden Management gearbeitet. Sie können produktiv wirtschaften und Mitarbeiter wirksam leiten. Der Erfolg Ihres Unternehmens fasziniert mich. Ihre aufrichtige Unternehmensphilosophie und Ihr Einsatz, wie Sie diese in die Tat umsetzen, beeindrucken mich tief. Wenn mein Politikwechsel erfolgreich sein soll, brauche ich Menschen mit Prinzipien. Daher habe ich an Sie gedacht. Ich suche nämlich Mitglieder für das neue Kabinett und ich würde Sie gerne für ein politisches Amt vorschlagen.«

    Michael prustete vor Überraschung auf: »Aber ich besitze auf diesem Gebiet doch keinerlei Erfahrung. Außerdem bin ich zu jung dafür.«

    »Sagen Sie das nicht!«, entgegnete Boss, »Sie sind geeigneter als die aktuellen Minister. Ich brauche Sie an meiner Seite.«

    Wild schossen Michael Gedanken durch den Kopf. Dieses Angebot war etwas, das er nicht erwartet hatte und schon gar nicht beabsichtigte. Die Politik war ein Minenfeld, von dem er sich weiterhin fernhalten wollte. Der Präsident verfolgte ein Hirngespinst. Wie konnte er nun absagen, ohne abweisend zu wirken?

    »Welches Amt haben Sie für mich im Blick?«, fragte Michael skeptisch.

    »Ich möchte Sie gerne als Finanzminister in mein Kabinett holen.« Boss klang energisch.

    Hier kam die nächste Überraschung. Das Amt war nicht gerade unbedeutend und mit besonderer Verantwortung verbunden. Außerdem durfte man den Finanzminister zu einem der einflussreichsten Politiker im Kabinett und einem der mächtigsten Männer des Landes rechnen.

    »Ist das nicht eine zu hohe Position für mich?«, entgegnete Michael.

    »Nein, Sie sind dafür hervorragend geeignet; viel mehr als alle Ihre Vorgänger zusammen. Ich glaube, dass Sie es sind, den ich in der Regierung brauche.«

    »Aber ich gehöre keiner Partei an«, widersprach Michael eifrig. »Und ich führe ein hoffnungsvolles Unternehmen, das meine Zeit völlig beansprucht. Ich bin mit Leib und Seele Unternehmer und kein Politiker.«

    »Das lässt sich ändern.« Boss lächelte gewinnend. »Ihre Geschäfte kann ein Geschäftsführer abwickeln. Ich weiß, dass Sie die Entscheidungen über die Entwicklung ihrer Steinberg-Restaurants weise gefällt haben, so dass für die Zukunft gesorgt ist. Sie haben Mitarbeiter an Ihrer Seite, die Ihre Vision teilen, und Ihre Unternehmensphilosophie zutiefst verinnerlicht haben. Sie müssen nicht mehr jede Entscheidung selbst treffen, da Sie sich mit Gleichgesinnten umgeben haben und diese für höhere Aufgaben vorbereiten. Herr Steinberg, Sie könnten auch den Hauptteil der Verantwortung abgeben und andere Ihre Geschäfte weiterführen lassen. Notfalls helfe ich Ihnen bei der Suche.«

    »Gut, da haben Sie mich ertappt«, gab Michael zu, »Ich könnte die Verantwortung abgeben, aber ich möchte das nicht.«

    Boss sah Michael bittend an: »Wollen Sie denn nichts ändern? Ist Ihnen nicht schon der Gedanke gekommen, Sie könnten etwas für Königsland bewirken? Ich werde Ihnen erfahrene Berater zur Seite stellen. Darauf dürfen Sie sich verlassen.«

    »Und meine Manager sollen von Staatsgeldern finanziert werden?«, fragte der Unternehmer scherzend.

    »Nein, natürlich nicht«, entgegnete der Präsident lachend, als hätte Michael einen guten Witz erzählt. »Das verträgt sich nicht mit meinem Politikwechsel. Aber bei Ihren Bezügen werden Sie sich auf jeden Fall einen Geschäftsführer leisten können. Dazu gäbe ich Ihnen freie Hand über alle finanziellen Belange des Staates und potenzielle Reformen.«

    Michaels Widerstand bröckelte mehr und mehr. Das Angebot anzunehmen, wurde verlockender. Wenn er diese Möglichkeit wahrnahm, konnte er etwas an den Missständen in Königsland ändern. Der Gedanke gefiel ihm. Womöglich war das die Herausforderung, auf die er gewartet hatte. Die neue Aufgabe würde endlich das schwarze Loch in seinem Herzen stopfen, das er seit langer Zeit verdrängte. Er müsste dann nicht so oft an Sibilla denken.

    »Ich habe bereits General Weissendorn für das Amt des Verteidigungsministers gewinnen können, das er zusammen mit dem Posten des ranghöchsten Generals bekleiden wird.«

    Das war kein gutes Argument. Weder für den politischen Neuanfang, noch für Michaels persönliche Entscheidung. Sibillas Vater erinnerte ihn stark an sie. Die Ämterhäufung von Weissendorn, die zwar ungünstig, aber verfassungsgemäß war, stellte ein weiteres Problem dar. Der General würde sowohl zu den gesetzgebenden, als auch zu den ausführenden Organen des Staates gehören. Das ergab eine gefährliche Verquickung von Interessen.

    Boss äußerte sich entschuldigend: »Ich weiß, dass Sie keine hohe Meinung von ihm haben. Aber ich kann ihn leider nicht umgehen, solange er noch so mächtig ist. Ich brauche Männer wie Sie, die das ändern.«

    Das sagte Michael mehr zu.

    »Alfred von Hohenburg, der Polizeipräsident, hat ebenfalls zugesagt und, das wird Sie besonders interessieren, Oswald Bauer will eventuell das Amt des Landwirtschaftsministers übernehmen«.

    Das klang schon viel besser. Doch warum hatte Oswald ihm davon nichts erzählt, überlegte Michael. Sonst besprach er solche Pläne immer mit seinem Schüler. Wahrscheinlich hatte Boss ihn erst eben darauf angesprochen. Wäre Oswald ebenfalls im Kabinett vertreten, dann änderte das alles. Gemeinsam konnten sie ihre Absichten verwirklichen. Alfred von Hohenburg war auch ein guter Mann, der ähnliche Ziele verfolgte.

    »Ich werde darüber nachdenken«, versprach Michael. »Aber wenn Ihnen der Neuanfang wirklich ernst ist, stehe ich gerne für das Amt des Finanzministers zur Verfügung.«

    »Und wie es mir damit ernst ist«, rief Boss aus. »Es ist das Gebot der Stunde. Herr Steinberg, Sie bekommen alle Zeit der Welt, die sie zur Entscheidung brauchen. Das bin ich Ihnen schuldig.«

    Dies war die Herausforderung, auf die Michael gewartet hatte. Er wusste jetzt, was nach seiner Karriere als Unternehmensgründer kam. Falls er in der Politik scheitern sollte, konnte er jederzeit wieder in die Wirtschaft zurückkehren. Als Finanzminister durfte er zusammen mit der neuen Regierung etwas Gutes bewirken. Und das hätte auch positive Auswirkungen auf ihn selbst. Vielleicht konnte diese Aufgabe ihm die Erfüllung geben, die er sehnsüchtig suchte.

    »Ich wusste, dass ich auf Sie zählen kann«, sagte Boss erleichtert und drückte ihm die Hand. Ein Lächeln lief über sein ganzes Gesicht. »Aber, entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss noch weitere Gespräche führen. Die Liste meiner Wunschkandidaten ist lang, jedoch unvollständig und das soll sich bald ändern. Mit Ihnen wird der Neuanfang gelingen.«

    Der Präsident ließ Michael mit seinen widerstreitenden Gedanken allein.

    Dora ging über die mit Marmorplatten gepflasterte Terrasse, in deren Mitte ein kleiner Springbrunnen lustig vor sich hin plätscherte. Ein gläsernes Dach, das ausfahrbare Fenster aufwies, ließ viel Licht nach innen fallen. Diese Tatsache nutzten einige junge Frauen der gehobenen Gesellschaft, die sich auf Liegestühlen an dem Licht der Sonne erfreuten. Es herrschte eine gediegene Atmosphäre. Doras Augen schweiften über das Panorama. Sie sah Gäste, vorwiegend Damen, in eleganter Kleidung an diversen Tischen sitzen und fröhlich plaudern. Das Wasser des Springbrunnens gab beruhigende gluckernde Töne von sich. Es floss zwischen vier Delfinstatuen hervor, die in alle vier Himmelsrichtungen schauten, und mündete schließlich in einem die Statuen umgebenden Becken. Die Atmosphäre gefiel der Journalistin wesentlich besser, als in den Salons der Villa Waldstein. Hier war es weniger versnobt.

    Sie ging näher auf das Ende der Terrasse zu. Dort bemerkte Dora, dass sie von hier aus in den Park über die Absperrung hinweg blicken konnte, da die Terrasse ein wenig erhöht lag und einen guten Ausblick bot. Auf der anderen Seite tummelten sich die einfachen Bürger, zu denen sich Dora zählte, auf der zweiten Feier. Mit ihnen konnte sie sich eher identifizieren als mit dieser geschlossenen Gesellschaft. Sie war aber auch nicht wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung hier, sondern weil es ihre Arbeit als Journalistin so erforderte. Und diese Aufgabe liebte sie.

    Dora drehte sich um. Da nahm sie auf der gegenüberliegenden Seite des Springbrunnens eine junge Frau wahr, die nicht in das Bild zu passen schien. Auf diesem Fest hatte Dora sie bisher noch nicht gesehen. Sie war etwa zwanzig Jahre alt, saß ein wenig abseits der anderen auf einem Liegestuhl und beobachtete erstaunt das Geschehen um sich herum. Es fiel auf, dass ihr weinrotes Ballkleid zwar durchaus schön aussah und perfekt ihre Figur einrahmte, aber nicht in die Preiskategorie der oberen Schicht passte. Irgendwie wirkte sie wie ein Fremdkörper. Dora war eine gute Beobachterin, die sich mittlerweile in der Welt der Reichen auskannte, auch wenn sie selbst nicht dazu gehörte. So bemerkte sie Details auf den ersten Blick, denen die Stimmigkeit fehlte.

    Die Frau tat ihr Leid. Sie sah in dieser Umgebung verloren aus und schaute sich mit traurigen, unschuldigen Augen um. Sie hatte ein ausgesprochen hübsches Aussehen. Das musste Dora neidlos anerkennen. Die Frau war schlank; ihr langes blondes Haar fiel über ihre Schultern hinab. Ihr Gesicht hatte einen hellen Teint. Dora fragte sich, warum noch kein Mann sie angesprochen hatte. Wahrscheinlich lag es an der unsichtbaren gesellschaftlichen Grenze.

    Die Reporterin fasste sich ein Herz und ging auf sie zu. »Hallo. Ich bin Dora Winter«, stellte sie sich vor.

    »Ich bin Susanne Wiesenhof«, sagte die Angesprochene leise.

    »Wir könnten uns doch duzen, wenn Sie nichts dagegen haben«, schlug Dora vor.

    Als Susi nichts einwandte, fragte ihr Gegenüber neugierig: »Bist du das erste Mal auf dem Sommerfest?«

    »Ja«, antwortete sie zögernd, aber erfreut, dass sich jemand mit ihr unterhalten wollte.

    »Mir geht es genauso«, erklärte Dora. »Meine Schwester Dina und ich sind Journalistinnen und sollen über diesen Abend einen Artikel für die Titelseite der »Königsstädter Allgemeinen Zeitung« schreiben. Da dies unser erster großer Auftrag ist, sind wir auch zum ersten Mal hier.«

    Mit einem Mal fiel Dora das Presseschild auf, das an Susannes Kleid steckte. Konnte es sein, dass die Frau ebenso als Reporterin die Feier besuchte? Warum waren sie sich dann noch nicht begegnet?

    »Du bist auch von der Presse?«, stellte Dora mit fragendem Unterton fest.

    Susi schaute sich verlegen um. Es kam so, wie sie es befürchtet hatte. Ihre Tarnung flog auf, ehe sie sich bewährt hatte. Wie sollte sie einer echten Journalistin vortäuschen können, sie sei eine von ihnen? Wenn sie es aber nicht versuchte, erführe Dora die Wahrheit und Susi würde wohl mit Gewalt von der Feier entfernt. Sie sagte also hastig nur ein »Ja, das ist richtig.«

    »Für welche Zeitung arbeitest du?«, fragte Dora interessiert.

    Susi überlegte angestrengt. Dann antwortete sie rasch: »Ich arbeite für das Königsstädter Anzeigenblatt.«

    Das war eine kleine unbedeutende Lokalzeitung, die Susi im letzten Moment in den Sinn kam. Hoffentlich reichte der Journalistin die Antwort.

    Dora spürte, dass sie bei ihrer Gesprächspartnerin einen wunden Punkt berührt hatte. Im Grunde genommen war es ihr gar nicht so wichtig, ob diese Geschichte stimmte oder nicht. Sie wollte einfach ins Gespräch kommen und sich zwanglos mit anderen Menschen unterhalten. Dabei beabsichtigte sie nicht tiefer in das Innenleben der jungen Frau einzudringen, als diese das t wünschte.

    Susi schob eine Erklärung hinterher: »Ich wurde von Oswald Bauers Neffen eingeladen.« Das war keine Lüge, wenn auch nicht die ganze Wahrheit. Hoffentlich fiel der Journalistin nicht auf Anhieb das wahre Alter von Oswalds Neffen ein, denn dieser zählte ja immerhin erst acht Jahre.

    »Dina und ich verfolgen hier unsere Lieblingsbeschäftigung«, erzählte Dora. »Wir gehen den Dingen auf den Grund. Ich muss aber zugeben, dass die Glitzerwelt auf Gut Waldstein nicht meine Welt ist, auch wenn ich mich meines Berufs wegen hier bewege.«

    Susi warf prüfende Blicke auf die dunkelhaarige Frau, mit der sie sprach. Diese wurde ihr mit der Zeit immer sympathischer, aber sie musste wachsam bleiben.

    Dora registrierte, dass Susanne noch nicht viel gesagt hatte, also berichtete sie weiter. »Wir kommen aus gewöhnlichen Verhältnissen. Unsere Eltern sind vor vier Jahren in die USA gezogen, während Dina und ich hiergeblieben sind. Wir wohnten erst bei Verwandten und jetzt in einer eigenen Wohnung in Siebenbusch.«

    Susi beschloss, dass sie mehr über sich verraten konnte. »Auch ich stamme aus einem einfachen Elternhaus und arbeitete gelegentlich im Hotel Excelsior, weil ich von der Stelle als Reporterin alleine nicht leben kann.« Liebend gerne wollte sie sich noch eingehender mit Dora unterhalten, doch hatte sie weiterhin Angst, dass die Tatsache aufflog, dass sie nicht eingeladen war und dass der minderjährige Neffe des Gastgebers sie eingeschleust hatte. Sie fühlte sich unglücklich, dass Uli sie unvorbereitet in diese Situation gebracht hatte.

    Dora sah auf ihre Uhr und stellte fest, dass die Zeit drängte, ihre Schwester zu suchen, da sie sich rechtzeitig für die Rede des Präsidenten vorbereiten mussten.

    »Entschuldige mich«, sagte Dora.

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