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Die Nacht und die Helle
Die Nacht und die Helle
Die Nacht und die Helle
eBook228 Seiten3 Stunden

Die Nacht und die Helle

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Über dieses E-Book

Es ist Samstagabend und es gibt Fußball im Fernsehen. Während sich andere Männer das Länderspiel anschauen, bereitet sich Claudio Alvarez darauf vor, zum Tango zu gehen.

Die Milonga ist voller schöner Frauen. Die Blicke gehen hin und her. Ein bloßes Kopfnicken und sie tanzen zusammen.

Es ist auch ein Abend der Erinnerungen: an das Nachtleben von Buenos Aires und an eine Fahrt am frühen Morgen in einem weißen Jaguar durch Paris.

Und dann erscheint eine extravagante Amerikanerin, die wunderbar tanzt...
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum3. Dez. 2018
ISBN9783748115076
Die Nacht und die Helle
Autor

Claudio Alvarez

Claudio Alvarez lebt als Autor in Berlin und Buenos Aires.

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    Buchvorschau

    Die Nacht und die Helle - Claudio Alvarez

    Inhaltsverzeichnis

    Die Nacht

    Die Helle

    Riesenwesen

    In der Provence

    Blicke

    Die Schönheit in den Augen der Betrachter

    In Paris

    Di Sarli

    In Buenos Aires

    Pugliese

    Das Ende

    Die Nacht

    Vor der Milonga¹

    ... es war sehr warm, die Männer saßen in weißen Oberhemden, und als der Ansager das berühmte Paar mit seinem Mikrofon in der Hand angekündigt hatte, reichte die Frau ihrem Mann sein Jackett für das Tanzen. Alle Plätze waren besetzt, selbst hinter den Tischreihen standen die Menschen und vor den Tischen saßen viele Japanerinnen und Japaner auf dem Fußboden, die zum Tango nach Berlin gekommen waren, und dieses alte Paar tanzte mit einer Intensität, so innig, unerklärlich und faszinierend …

    Das war aber nur ein Traum. Als er erwachte und langsam zu sich kam, war es ihm wichtig, für sich klar zu stellen, dass er Carlos Perez und Rosa Forte beim großen Festival im letzten Jahr gesehen hatte, aber nicht tanzen, sondern nur für einen Moment, als sie durch die dicht gedrängte Menge an ihm vorbei in den Tanzsaal gegangen waren. Den Tango hatten sie einige Monate früher im Club Sunderland in Villa Urquiza getanzt, als der Geburtstag von „El Negro Firpo" gefeiert worden war. Der Boden hatte so hell und grell wie ein bei Nacht beleuchtetes Fußballfeld geglänzt. Tatsächlich wurde hier die Woche über Basketball gespielt, und an den Samstagen stellten die Veranstalter für die festlich gekleideten Gäste Tische und Stühle auf, die Männer in Anzug, Hemd und vereinzelt auch mit Krawatte, die Frauen in Abendkleidern. Sie hatten an Tischen mit weißen Tischdecken gesessen. Es war an diesem Abend sehr warm und die Männer hatten ihre Jacketts ausgezogen und saßen in Hemdsärmeln und als Carlos Matera das berühmte Paar angekündigt hatte, reichte Rosa Forte ihrem Mann sein Jackett. Die Plätze im Sunderland waren bis auf den letzten Platz besetzt. Selbst hinter den Tischreihen hatten die Menschen bis zu den Wänden gestanden und vor der ersten Tischreihe hatten junge tanzbegeisterte Menschen auf dem Fußboden gesessen, darunter manche Japanerinnen und Japaner, die vermutlich nur zum Tangotanzen nach Buenos Aires gekommen waren.

    Die Träume - er fand, dass dies ein romantisches Wort für die untergründigen Aktivitäten jenseits des Wachzustandes sei, die seinen Schlaf mit lebhaften Bildern begleiteten; die Träume kamen, wenn er sich am frühen Abend für eine Stunde schlafen gelegt hatte. Sie gehörten zu den seltsamen Begleiterscheinungen, die seine Vorbereitungen mit sich brachten, um zum Tanzen zu gehen. In Buenos Aires begannen die Tanzveranstaltungen spät, und in einer Milonga wie dem Salón Canning kam der Abend erst kurz vor Mitternacht in Gang, erst dann trafen die besten Tänzerinnen und Tänzer ein, sie waren jung oder auch nicht, schön oder auch nicht, und dies änderte die Atmosphäre des Abends, die Paare bewegten sich leichtfüßiger und flüssiger, die Garderobe der Tänzerinnen und Tänzer wurde ausgefallener, der Abend wurde exklusiver und ging für ein paar Stunden in die Festlichkeit der Nacht über, bis der Exodus begann. Milongas mit einer vergleichbaren Exotik waren in Europa kaum zu finden; und wenn nur auf großen Tangofestivals mit Gästen aus dem ganzen Land, den großen europäischen Städten und den USA - und selbstverständlich den berühmten Tänzerinnen und Tänzern aus Argentinien.

    Um für die Nacht gewappnet zu sein, hatte er von sieben bis acht Uhr geschlafen. Wenn er nach einem Vorabendschlaf erwachte, hatte er oft das Gefühl einen Kieselstein im Mund zu haben. So war es auch dieses Mal; so, wie er sich fühlte, mussten Menschen ausschauen, die gerade aus einer Ohnmacht erwacht waren, mit einem Ausdruck von etwas Frischem und zugleich Entlegenem. Nach einigen Minuten stand er benommen auf und ging in die Küche, dort fiel ihm ein, dass er erst im Wohnraum den Fernseher einschalten wollte, danach lief er zurück, aber dort ging ihm durch den Kopf, dass er nicht vergessen durfte, was er heute Abend anziehen wollte; im Schlafzimmer hängte er einen Anzug aus dem Schrank, die Tagesschau war vorbei, und nebenan befragte der Sportreporter einen ehemaligen Fußballspieler, der jetzt Fußballsachverständiger war, nach den Aussichten der deutschen Nationalmannschaft für das anstehende Spiel gegen das Team aus Argentinien. Er ging zum Fenster des Wohnraums. Unten an der Straßenkreuzung in den Cafés saßen viele Menschen und er beobachtete das lebendige Treiben, bis er in der Küche den Wasserkocher knacken hörte. Später saß er dort mit einem Kaffee und blickte in den Hof auf einen riesigen Baum mit schwarzem Stamm und Ästen. Der Tisch war von einer Schreibtischlampe beleuchtet und deshalb blieb der obere Teil des schlauchförmigen Raumes im Dunkeln. Der melierte Steinfußboden machte diesen Teil der Wohnung kühler. Er hatte sich einen Salat zubereitet, aß in Ruhe und wartete darauf, dass er vollständig zu sich kam. Er betrachtete aufmerksam den großen Teller des altrosafarbenen Geschirrs, das er von seinen Großeltern geerbt hatte.

    Es war schon spät und er fühlte sich müde. An einem normalen Abend hätte er ernsthaft überlegt, ob er noch tanzen gehen sollte. „Wer wird in die Milonga kommen? Wird es voll werden? Welche Musik wird der DJ spielen? Diese Fragen stellten sich heute nicht, denn es war Samstagabend, und dazu noch ein besonderer. Also nahm er seine Müdigkeit nicht ernst, während er an unspektakulären Abenden hoffte, sie durch das Tanzen vertreiben zu können. Dann schloss er gleichsam eine Wette mit sich ab, dass er seine Mattigkeit überwinden werde. Aber an diesem Abend waren die „Neugier auf die Stadt und nach einem Leben außerhalb der alltäglichen Normen und die „Sehnsucht nach Begegnung" entfacht. Das waren nach den Worten Louis Aragons die „Antriebskräfte, die Menschen nachts auf die Straßen treiben."

    Nächtliche Reise

    Als er eine Stunde später aus der Tür und auf die Straße trat, war das Café auf der gegenüberliegenden Seite voller junger Menschen. Sie waren quasi immer da. Ebenso wie die Taxen, die nur wenige Meter entfernt auf der linken Seite des Platzes warteten. Ihnen gegenüber: Leute über Leute, Fahrräder über Fahrräder. Zu dieser Jahreszeit saßen die Jungen zu Dutzenden draußen. Ein Motorradfahrer hatte seine Maschine bestiegen und ließ vor diesem Publikum den Motor seines schweren Geräts aufheulen. Stunden später, wenn er von der Milonga zurückkommend aus dem Taxi steigen würde, würde der Platz wie ausgestorben sein. Die Scheiben der Cafés würden dunkel sein, die Stühle würden kopfüber auf den Tischen stehen. Der große schwere Wagen, in dem er jetzt saß, strahlte Ruhe aus. Er fuhr mit einem leichten Surren über den Asphalt. „Merkwürdig dachte er, „die Stimmung im Inneren des Wagens entspricht der Atmosphäre draußen in der Stadt: die Ereignisse und das Geschehen sind heruntergefahren oder zurückgenommen. Ihn beschäftigte diese Entsprechung von drinnen und draußen. Die Ruhe im Innern entsprach der Ruhe draußen, Ereignislosigkeit entsprach Ereignislosigkeit, Entspanntheit Entspanntheit.

    Vor einigen Monaten hingegen war das kleine Taxi mit seinen verschlissenen Stoßdämpfern zu einer Milonga mehr gerattert und geschaukelt als gefahren, aber auch hier hatte es eine Entsprechung gegeben, jedoch von anderer Art. Die Federung des Wagens hatte den Zustand der Stadt auf expressionistische Weise ins Wageninnere übersetzt. In der Metropole Argentiniens war alles auf Ruhelosigkeit und Schlaflosigkeit ausgerichtet, und der Fahrstil des Fahrers, der auf den von Bäumen gesäumten Einbahnstraßen langsam fahrende Fahrzeuge rasant überholte, entsprach dieser Sommernacht mit den Straßen voller Autos und den Bürgersteigen und Parks voller junger Menschen. Sein Fahrer war mit den Sprüngen, die er aus seinem gelbschwarzen Wagen herausholte, gewissermaßen der Übersetzer des äußeren Geschehens gewesen. Auf dem Heimweg am frühen Morgen hatte sich die Ruhe der Nacht durchgesetzt. Er wurde ruhig über die großen Avenidas gefahren, und die herunter gekurbelten Fensterscheiben hatten den Fahrtwind hinein gelassen, der ihm durch die Haare gestrichen hatte.

    Aber jetzt waren die Fenster des Wagens geschlossen, die Schwere und Ruhe des Taxis schottete ihn von der Außenwelt ab. Dort schuf das Licht der Lampen und Beleuchtungen eine seltsame Farbschwäche. Als ob die gelben Leuchten, die über der Straßenmitte hingen, die Dunkelheit in Szene setzten. Das Motorgeheul eines Motorrads unterbrach die Ruhe im lässig dahin rauschenden Wagen. Aus großer Ferne hätte die Sirene eines Polizeiautos zu hören sein können. An einer Kreuzung schweißten Arbeiter in orangefarbenen Overalls beim Schein mächtiger Bogenlampen die Straßenbahnschienen und ließen im Halbdunkel der Straße dabei Funken und grelles Licht aufblitzen. Andere arbeiteten vor dem klaren Nachthimmel im Hebekorb eines Krans an der Hochspannungsleitung. Eine dritte Gruppe von Arbeitern, deren Unterkörper an der Hüfte abgetrennt waren, stand fußballstadionhell angeleuchtet in einem Graben. Weiter ging die ruhige wortlose Fahrt und er war froh, dass der Taxifahrer kein Gespräch suchte. Schließlich überquerten sie den Kanal, der um diese Uhrzeit nur ein trübes und totes Gewässer war. Im Hintergrund die Umrisse der mächtigen dunklen Blocks eines Heizkraftwerks.

    Die nächtlichen Reisen produzierten wundersame Beleuchtungen, Stimmungen und Gedanken. Auf einer Fahrt zu einem Tanzabend im eigenen Wagen jagte der nur vom Scheinwerferlicht beschienene Mittelstreifen der Fahrbahn dahin. Die Straßen waren so gut wie leer, nur vereinzelte Autos waren unterwegs, zum Teil mit großer Geschwindigkeit. Wenn er zu dieser späten Stunde allein im Wagen saß, bevorzugte er die Musik von Pugliese, Troilo oder Tanturi. Später würde in der Milonga nur die Musik aus den dreißiger und vierziger Jahren gespielt werden, und er würde zu keinem der kunstvollen Tangos aus den Fünfzigern tanzen können. Er war unterwegs zu einem unwahrscheinlichen Ort: einem Restaurant mit dem Charme einer Bauernstube auf einer Flußaue. Gewöhnlich verbrachten dort die Gäste des Campingplatzes ihren Abend, wenn sie einmal nicht vor ihrem Zelt sitzen wollten. In Buenos Aires gab es ähnlich fantastische Orte des Tangos, darunter auch die Turnhalle, die seinen Traum bebildert hatte. Er dachte: „Der Tango ist ein Eintopf, in dem verschiedenartige Zutaten zu etwas Konsumierbaren zusammengeworfen und verkocht werden." Stunden später auf dem Heimweg würden in der Morgendämmerung die Bäume dieser Aue an ihm vorbeifliegen.

    Oder er war zu Fuß zu einer ehemaligen Fabrik unterwegs, die zwei charmante Frauen an einem Abend im Monat in ein Tangofest verwandelten. Der Spaziergang dauerte nur wenige Minuten und an einem Herbstabend wie diesem spürte er die feuchte Luft der Nacht und nahm das Rauschen der Bäume wahr wie in einem Park bei starkem Wind. Zu dieser Milonga kamen die Gäste zum Teil von sehr weit her, um diese die lokalen Szenen übergreifende Tangogesellschaft zu treffen, und seine Zweifel, ob er an diesem Abend ausgehen sollte, waren ihm eitel und überheblich erschienen. Als er unter den Bäumen die Straße entlang durch diesen Vorort mit kleinen Häusern lief, traf er auf eine Gruppe von Jugendlichen, die vor einem Kiosk an einer Straßenkreuzung herumhingen. Sie waren freundlich und ließen ihn ohne Probleme passieren. Er fühlte sich für einen Augenblick wie der vorbei laufende „Ghost Dog", den die jungen Schwarzen und Hispanos in Jim Jamushs Film wohlwollend „good nigger" genannt hatten.


    ¹ Das Wort Milonga bezeichnet eine Veranstaltung, auf der Tango getanzt wird. Außerdem ist es der Name für einen Tanz, der neben dem Tango und dem Vals auf einer Milonga getanzt wird.

    Die Helle

    Die Flure, Treppenhäuser, Türen und Einlasskontrollen der Milongas, mögen sie „Gricel", „Niño Bien", „Canning", „El Beso", „Aux Neuf Billards", „La Latina" oder „Ballhaus Rixdorf" heißen, waren die Schwellen zu einer anderen Welt. Diese fremden Gegenden wurden von Schwellengöttern, Penaten, bewacht: den Bildern und Fotos der Größen des Tangos an den Wänden der Zugänge zu den Milongas und den jungen Frauen, die am Eingang den Eintritt verlangen. Es war eine helle und vitale Welt, die sie beschützen, große Salóns der flimmernden Lichter, der Sichtbarkeit - der Blicke, des Aufforderns und des Tanzens - und der Musik, die physisch spürbar war. Wer sie durch die Eingangstür betrat, tat dies abwartend, mit sparsam abgemessenen Schritten; es war ein Entschluss.

    Flimmernde Lichter

    Als er das Taxi verlassen hatte und durch einen Innenhof die letzten Meter zur Milonga zurücklegte, fiel ihm ein Stück Hauswand auf, das die spärlichen, schwachen, engumkränzten Lichter der Nacht entrissen hatten, alles andere hatte das Dunkel ausgelöscht, den Dreck, das Hässliche, das Mittelmäßige, ein Baum, eine schattenhafte Gestalt, ein Gesicht, all das hatte die Nacht aufs äußerste vereinfacht und stilisiert. Schon längst war ihm die Musik von Juan D‘Arienzo entgegengekommen; sie hatte zunächst noch schemenhaft und leise geklungen, wie aus einer fernen Erinnerung, war aber, quasi mit jedem Schritt, mit dem er sich dem alten Gebäude näherte, gegenwärtiger geworden. Er ging die Stufen des breiten und hohen Treppenhauses hinauf bis er vor einer schweren großen Tür aus Stahl stand. Es war ein merkwürdiges Gefühl nichts zu hören, aber zu wissen, dass hinter dieser Tür taghelle Aktivität existierte. Bei manchen Milongas konnte er schon von außen die Gäste an der Bar sitzen und die Paare im Saal miteinander tanzen sehen. Im Dunklen stehend war ihm die in den erleuchteten Räumen versammelte Gesellschaft fremd erschienen, er hatte dann für einen Moment gezögert, diese Welt zu betreten, zu der sich der Außenbetrachter nicht zugehörig fühlte, aber sobald er die Tür geöffnet hatte, war er Teil der Helligkeit, der Wärme, des Stimmengewirrs und der Musik geworden.

    Beim Öffnen der schweren Stahltür fiel sein Blick auf zwei festlich gekleidete junge Frauen, die hinter einem Tisch saßen und die eintreffenden Gäste begrüßten. Die eine hätte aus Argentinien stammen können, die andere aus Brasilien. Die vermeintliche Brasilianerin begrüßte ihn und fragte, ob er eine Karte reserviert habe. Sie ging ihre Gästeliste durch und überreichte ihm mit den Worten „Viel Spaß heute Abend!" seine Eintrittskarte. Um ihn herum war eine Masse von Menschen, und auf dem Hauptbahnhof der Stadt hätte es in der Stoßzeit nicht umtriebiger und unübersichtlicher zugehen können. Die Tanzenden und die Gäste, die sich um die Tanzfläche herum aufhielten, boten das Bild eines vielgestaltigen Lebens. Die kreisenden Paare hatten das Zentrum des Saales in ein riesiges sich bewegendes Etwas verwandelt, und er würde Zeit brauchen, um Einzelheiten zu erkennen. Von der Galerie der Halle, die gut acht Meter hoch und von Osten nach Westen zwanzig Meter breit sein mochte, und noch etwas länger in nördlich-südlicher Richtung, schauten die Besucher stehend auf das Ereignis hinunter, einige hatten sich auf die Balustrade aus Gitterstäben gelehnt. Zu seiner linken erkannte er den DJ an seinem Pult auf einer Bühne einige Stufen über dem Geschehen.

    Es war heller Tag. Der Saal wirkte glanzvoll, die Gäste in ihrer glamourösen Abendkleidung, einige Frauen in dunklen mit Pailletten besetzten Kleidern und die Männer in Anzügen oder Jackets, waren wach und frisch. Der Unterschied zu der Milonga, die Julio Cortázar einst beschrieben hatte, hätte kaum größer sein können. „Viele schwitzten, eine Mestizin (...) kam dicht am Tisch vorbei und ich sah, wie ihr das Wasser vom Haaransatz troff und den Nacken hinunter in die Speckfalten lief. Es hatte „nach feuchtem Talkumpuder gerochen, „nach faulem Obst und Cortázars Protagonist hatte vermutet, „dass sie sich nur flüchtig waschen, einmal kurz mit dem nassen Lappen übers Gesicht und unter die Achseln, danach das Wichtigste, Gesichtswasser, Wimperntusche, der Puder auf dem Gesicht all dieser Frauen, eine weißliche Kruste, durch die braune Placken durchscheinen. Cortázar hatte auch davon gesprochen, dass „Rauch aus dem Salon nebenan (drang), wo man Rostbraten aß und Rancheras tanzte, die Dünste von gebratenem Fleisch und der Zigarettenqualm bildeten eine niedrige Wolke, die die Gesichter und die billigen Malereien an der gegenüberliegenden Wand entstellten." Daran erinnerte ihn das Cochabamba 444 in Buenos Aires vor drei Jahren. Die Milonga in einer schmalen Straße mit Kopfsteinpflaster neben der Stadtautobahn in San Telmo hatte aus einem langen schmalen Raum bestanden und, er konnte nicht genau sagen warum, wie eine Hafenkneipe gewirkt. So ähnlich mussten die Anfänge des Tangos ausgesehen haben, als der Rauch so dicht gewesen war, „dass die Gesichter auf der Mitte der Tanzfläche verschwammen, so dass der Bereich der Stühle für die Animiermädchen zwischen den Körpern und durch den Dunst hindurch nicht zu sehen war." Alles hatte einen improvisierten und zufälligen Eindruck gemacht. Es war nicht besonders hell, die Gäste hatten an großen Tischen gesessen, die nicht fürs Tanzen dort aufgestellt worden waren und sich laut unterhalten. Er hatte nicht erkennen können, wie die Tänzer ihre Partnerinnen aufforderten und warum diese einwilligten oder ablehnten. Ihm waren die vielen jungen Leute aufgefallen, darunter auch Touristinnen und Touristen.

    Ein klingender Raum

    Es war heller Tag und die Lebhaftigkeit der Musik Juan D'Arienzos übertrug sich auf die Tanzenden. Sein „Orquestra Typica" hatte mit seinen vier oder fünf Bandoneons², mehreren Geigen, einer Bratsche, Klavier und Kontrabass eine Einheit aus Rhythmus und Melodie geschaffen, die die Gäste noch heute zum Tanzen animierte, und für viele Tänzerinnen und Tänzer galten seine Tangos als ideale Tanzmusik. Sie hatte schon in den vierziger Jahren die großen Tanzsäle von Buenos Aires begeistert und immer noch erzeugten die alten Stücke eine fast physische Anwesenheit des Orchesters. Dieser große Raum erschien ihm dafür wie geschaffen während an anderen Orten, z.B. bei Tangokonzerten in Kirchen, der Nachhall der Räume die rhythmische Temperatur der Musik abkühlte und den Tango konzertant machte. Darin war der Tango dem Jazz ähnlich, denn seine schnellen Improvisationen klangen in kleinen plüschigen Clubs am besten, während Konzertsäle ihm nicht gut taten. Konzertsäle hatten darüber hinaus bisweilen ihre Tücken. Die Eröffnung der Philharmonic Hall in New York 1962 soll ein Desaster gewesen sein, weil der Saal schrecklich geklungen hatte. Das Orchester hatte sich selbst nicht hören können, und die tiefen Frequenzen der Celli und Bässe waren im Auditorium praktisch nicht zu hören

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