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Der Ring von Pontobriga: Historischer Roman
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Der Ring von Pontobriga: Historischer Roman
eBook592 Seiten7 Stunden

Der Ring von Pontobriga: Historischer Roman

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Über dieses E-Book

Es sind die ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt. Eine Zeit dramatischer Umwälzungenr und Völkerwanderungen, in der Macht und Autorität des Römischen Reiches schwinden. Heriman, ein Waisenkind aus keltisch-germanischem Fürstengeschlecht, reift durch Einfluss eines schamanischen Heilers zu einer Persönlichkeit heran. Angewidert durch grausame Schlachten, schwört er dem Kriegshandwerk ab, und wendet sich der Heilkunst zu. Schon bald erlangt er als Medicus Anerkennung und Ruhm. Er nimmt sich des römischen Sklavenjungen Romano an, dessen Herkunft im Dunkeln liegt, und hilft ihm bei der Nachforschung nach dessen Vergangenheit. Mysteriöse Zeichen, Orakel und Botschaften weisen ihnen den Weg. Eine bedeutende Rolle spielt hierbei der Ring des Cäsaren. Er könnte das Geheimnis um Romanos Herkunft lüften, doch der Ring ist auf rätselhafte Weise verschwunden.

SpracheDeutsch
HerausgeberPandion Verlag
Erscheinungsdatum8. Juli 2017
ISBN9783869115450
Der Ring von Pontobriga: Historischer Roman

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    Buchvorschau

    Der Ring von Pontobriga - Anton J. Reitz

    Zuckmayer

    ZUM GELEIT

    Der so vielfach gebrauchte Terminus der Zeitenwende suggeriert in uns die Vorstellung von Umbruch und Umwälzung. Ganz anders stellt sich dieses Phänomen in Anton J. Reitz’ historischem Roman »Der Ring von Pontobriga« dar. Der Rhein, die Schlagader, in dem sich später entwickelnden »Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation« war immer ein Schmelztiegel der Nationen und Kulturen, in dem sich Römer, Kelten und Germanen mal friedlich, mal in Konkurrenz, mal kriegerisch begegneten, bis sich schließlich ein Volk durchsetzte, das aber durch den erfahrenen kulturellen Durchdringungsprozess nicht mehr das gleiche wie zuvor war, sondern das Elemente der vermeintlich unterlegenen Völker in sich aufnahm und weiterentwickelte.

    Das hier in der abstrakten Sprache der Historiker Gesagte wird im vorliegenden Roman durch die agierenden Personen im Handlungsbereich des nun zum »Welterbe« geadelten Mittelrheintals lebendig und konkret. Es ist Geschichte im Sinne von Geschehen story – history, aber auch in der Bedeutung von »res gestae«, also als das, was als Struktur von diesem Geschehen noch übrig geblieben ist

    In Frankreich bezeichnete man im Mittelalter alle in der Landessprache verfassten Werke mit »Roman«, wobei die Wortgleichheit mit dem englischen roman = Römer verblüfft. Die vielfältigen Facetten des Begriffs »Roman« kommen in Reitz’ Werk deutlich zum Ausdruck: Historischer Roman, ja sogar Bildungsroman. Der Autor greift auf ein Genre des 18. Jahrhunderts zurück, um zweitausend Jahre alte Strukturen und Institutionen dem Leser wieder vor Augen zu führen. Nicht belehrend mit dem Zeigefinger, nein, beiläufig, gewissermaßen im Nebensatz.

    Ein Roman zwar, aber hart an der Wirklichkeit.

    Dr. Winfried Monschauer

    Lehrbeauftragter der Universität Koblenz

    PROLOG

    »Von nun an geht’s bergab!«, rief der Heiler Heriman, freudig seinem jugendlichen Begleiter zu, als sie nass geschwitzt und schwer atmend endlich das freie, lichte Hochplateau erreicht hatten. Von der befestigten Limesstraße waren sie abgebogen, vorbei den zahlreichen Hügelgräbern und dann durch den Hohen Wald dem schmaleren Zubringerweg gefolgt.

    Die Sonne stach unbarmherzig vom weißlich-milchigen Himmel. Es war windstill und die Luft wurde immer schwüler und drückender. Wieder auf dem hohen Sitz des Wagens hatte Heriman nun einen freien Blick auf das vor ihm liegende weite Land. Die rechte Hand schützend über die geblendeten Augen gelegt, schienen ihm die gold- und rotfleckigen Herbstbäume wurzellos auf einem schattenhaften Meer zu schwimmen. Zwar konnte man sich bei der dunstigen Sicht über Entfernungen leicht täuschen, doch er hatte keinen Zweifel: sie näherten sich den letzten Ausläufern des Tauno. Die in der flimmernden Luft weit drüben im Westen zu erkennenden Berge? Das mussten schon die sanften Hügel des Hunnenruck jenseits des Rhenus sein.

    Rechts vor einem hohen Wald, der sich von West nach Ost wie ein dunkles Band am Horizont hinzog, konnte er schemenhaft, inmitten quadratisch angelegter Gebückshecken, einen großen römischen Gutshof erkennen. An dem in der flachen Senke sich schlängelnden Bach standen Korbweiden, die mit ihren langen, gelbgrünen Zweigen wie ungekämmte Riesen aussahen. Unter ihnen lag eine Herde friedlich widerkäuender gelblicher Frankenrinder und zwischen hohen Ginsterhecken, im Schatten dicker Apfelbäume grasten, scheinbar bewegungslos, zottige Keltenpferde.

    »Ist das nicht ungewöhnlich heiß für einen frühen Vormittag im Dämhair, Pater?«, fragte Romano, ein anmutiger, etwa sechzehn Jahre alter junger Mann mit südländischem Aussehen, der nun auch auf den hohen Bock geklettert kam. Er wischte sich mit einem großen leinenen Tuch seine schwarzen Locken aus der Stirn.

    »Ja, außergewöhnlich für Oktober! Diese Wetterphänomene kann man schon seit vielen Jahren beobachten.« Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Wasserschlauch. »Das Wetter macht seltsame Sprünge.«

    Bald begann der Weg sachte aber stetig beigab zu führen. Der Wald zu beiden Seiten wurde dichter, die Bäume waren nun jünger und standen enger beisammen, sodass die noch grünen Haselsträucher einen kühlen dunklen Tunnel bildeten. Doch diese Wohltat währte nicht lange, der Wald war plötzlich zu Ende und wieder fuhren sie im gleißenden Sonnenlicht.

    Nach dem Stand der Sonne über dem Dahtberg, musste es etwa Mittagszeit sein. In der Luft lag der würzige Duft von trockenem Gras. Es schwirrten aber auch Schwärme lästiger Fliegen aller Art umher, die in dem getrockneten Rinderdung ideale Brutstätten fanden. Die blutdürstigen Stechmücken fanden an den bloßen Armen und Beinen des Jungen eine willkommene Blutbank. Romano zerquetschte mehrere der Plagegeister auf seinem nackten Oberschenkel und wischte sich das Blut von der Hand.

    »Hier, nimm von diesem Kräuterextrakt und reibe dir damit gründlich deine Arme und Beine ein.« Der alte Heiler reichte Romano eine etwas streng riechende, weißliche Paste. »Sie hält dir die blutsaugenden Plagegeister vom Leib.«

    Nach einer Weggabelung, endlich wieder ein wenig im dünnen Schatten einzelner Äste, die sich über den Weg streckten, schnitten sie die breite Römerstraße, die nach Westen in Richtung Baudobriga führte, dem bedeutendsten Castellum des mittleren Rhenusgebietes. Diese viel befahrene Straße war noch mit den üblichen entholzten Seitenstreifen und mit Gräben und Wällen gesichert. Sie bildeten mit einer Tiefe von etwa zehn Fuß zwar keinen unüberwindlichen Schutz vor feindlichen Kriegern, konnten aber Wegelagerer am schnellen Entkommen hindern oder zumindest ihre rasche Flucht erschweren. Unter einem, mit scharlachroten Früchten überladenen Vogelbeerbaum hielt Heriman den Wagen an.

    »Diese Eberesche ist nicht nur ein beliebter Nistplatz unserer gefiederten Freunde, unter diesen fedrigen Blättern haben bestimmt schon viele meiner Vorfahren gerastet, denn nach altem Keltenglauben gewährt dieser Baum Schutz und Sicherheit!«

    Viele Monde waren sie nun schon unterwegs. Eine weite Wegstrecke. Von den böhmischen Dörfern fern im Osten immer in Richtung der untergehenden Sonne. Dabei folgten sie vorwiegend den über die Höhenzüge angelegten tiefen Wegerissen, auf denen schon die keltischen Vorfahren vom Hindukusch und den Quellgebieten des Indus kommend, in die Weiten Mitteleuropas gezogen waren.

    Zuletzt hatte der Weg des Heilers zu vielen neuen Siedlungen, kleinen Dörfern und Gehöften, aber auch stattlichen Gutshöfen im Tauno geführt. Dieses Dekumatland, als Sicherheitsgebiet des Römischen Reiches zwischen Rhenus und dem Limes, wurde jetzt von den Nachfahren der einst von den Römern vertriebenen Sueben bewohnt. Unter dem neuen Namen Alemannen hatten sie den Limes überrannt. Sie lebten nun mit den alteingesessenen romanisierten Chatten sowie ehemaligen Sklaven und entlassenen Söldnern in friedlicher Eintracht. Vielfach waren die Bewohner Nachkommen jener Soldaten, die am Limes ihren Dienst taten und die anstelle des Soldes je ein Stück Land in der Nähe ihrer Kastelle überschrieben bekommen hatten.

    Allerorts, wo Heriman hinkam, eilte ihm bereits sein Ruf als schamanischer Wundarzt und Heiler voraus. Er wurde von den dankbaren Menschen, von denen viele noch nie einen Medicus gesehen hatten, überall mit offenen Armen empfangen.

    Ächzend ließ sich Heriman in das dürre hohe Gras am Wegesrand fallen. Sein helles Haar trug er nach Manier eines freien Mannes lang bis zu den Schultern. Der gestutzte, dichte Bart betonte den Ausdruck von Würde und Stärke in seinem Gesicht und die auffällige Nase wies eine eigentümliche Krümmung auf, so, als sei sie irgendwann schon mal gebrochen worden. Was jedoch besonders beeindruckte, waren seine rätselhaften klugen Augen. Sie hatten nicht mehr den jugendlichen Glanz, doch noch immer glimmten die Pupillen verschiedenfarbig: azurblau und stahlgrau-grün.

    Auch das saubere, knöchellange und sackartige Gewand aus Leinen, um das er in Hüfthöhe einen Gürtel geschlungen hatte, verstärkte sein Respekt gebietendes Aussehen.

    Mit halbgeschlossenen Augen schaute der Heiler über die vor ihm liegende liebliche Landschaft, mit ihren sanften Hügeln und dem tief eingeschnittenen Flussbett. Auf einer geheimnisvollen, verborgenen Ebene hatte ihn dieses Land schon immer gerufen. War hier das paradiesische Land, dort unten im Tal vielleicht sogar der lange gesuchte Ort, von dem er seit seinen Kindertagen träumte?

    Er fühlte sich in seinem siebten Lebensjahrzehnt zwar noch nicht alt, aber das Ziehen in den Beinen und die immer häufigeren stechenden Schmerzen im Rücken waren nur die deutlichen äußeren Signale, die ihn mahnten, mit seinen Kräften hauszuhalten. Viel mehr Sorgen bereiteten ihm aber seine innere Unruhe und die beängstigenden Träume in der Nacht, die ihm in letzter Zeit den Schlaf raubten.

    Es waren nicht nur Ängste um sein eigenes Schicksal. Was ihm noch mehr den Schlaf verwehrte, war das Erschrecken, dass um ihn herum alle Dämme der alten Welt zusammenbrachen. Die Sitten verwilderten. Die Herdgenossen lösten sich von ihren Wirten. Die Dienstmannen legten ihre eisernen Ringe ab – das äußere Zeichen ihrer Hingabe – und zogen als grausame Banditen, ohne Bindung an Weib und Gut, plündernd und mordend durch die Lande. Mächtige, kriegerische Völker drängten von Osten her, zermalmten alles, was sich ihnen entgegenstellte und Brudervölker führten ihre blutigen Schlachten immer wilder und kannibalischer.

    Heriman erkannte erschüttert wie eine Welt zerbarst und mit ihr der seit Jahrhunderten im Volk verwurzelte Glaube an den segnenden und strafenden Einfluss der Schicksalsgötter. Die Menschen zweifelten an der Allmacht der Weltenlenker und an ihren Zeichen. Glaubten nicht mehr an Donnerschlag, Hagel und fallende Sterne, weder an den Gesang und den Flug der Vögel noch an das Wiehern der Rosse. Sie verachteten, was ihren Vätern einst heilig war, verlachten ihre Druiden. Selbst die Runen verloren ihre Würde und das Zauberkräftige ihrer Wirkung.

    Heriman schauderte. Er schüttelte sich, als könne er so die niederschmetternden Gedanken vertreiben. Zweifelnd fragte er sich, ob er noch hinreichend Kraft, noch genügend Zeit für sein Vorhaben hatte, den geliebten Jungen, in diesem unaufhörlichen Auflösungsprozess, an sein Ziel, in Romanos Heimat zu führen?

    Inzwischen hatte Romano die Pferde getränkt und sie unten am Bach an eine Stelle, wo das Wasser ein paar Fuß tief über einen grünbemoosten Felsen herabfiel, in den Schatten der ausladenden Trauerweiden geführt. Hier, unter den lang herunterhängenden Ästen konnten sie sich leichter der lästigen Bremsen erwehren.

    »Das Gewitter zieht langsam ab!« Romano ließ sich aufatmend neben seinem Ziehvater im dürren Gras nieder. Heriman schreckte aus seinen Gedanken auf und sah erstaunt, wie sich majestätisch das mächtige Wolkengebirge, wie von Geisterhand gelenkt, zunächst nach Westen und dann nach Norden in Richtung des Flusses Lano, verzog.

    Dankbar nahm er von dem Jungen den Krug mit dem frischen Quellwasser. »Gönnen wir uns und den Tieren nach der Mittagsmahlzeit noch etwas Ruhe«, meinte er. »Bis zum großen Fest Samhain dauert es ja noch einige Tage.«

    Wenig später erkannte er an den tiefen Atemzügen, dass Romano schon eingeschlafen war. »Du bist ein guter Junge«, sagte der Heiler halblaut und dachte: Ich könnte jetzt auch einen Enkel haben, der in seinem Alter wäre. Wenn ... Ja, wenn ...!

    Wie gewohnt umklammerte Romano im Schlaf mit seiner linken Hand seinen, aus feinem Terrakotta gefertigten Talisman. Das Amulett hatte die Form eines aufgeschnittenen Hühnereis.

    Das Äußere des Jungen stand im deutlichen Kontrast zum hünenhaften Körperbau Herimans. Zwar war Romano mit seinen fast sechs Fuß Körperlänge für einen Angehörigen der romanischen Rasse auch groß, aber viel feingliedriger als Heriman. Er hatte eine glatte bronzefarbene Haut, strahlend weiße Zähne und funkelnd schwarze Augen, die immer zu lächeln schienen. Sein krauses Haar war kurz geschnitten. Besonders auffallend war sein hochgewölbter Hinterkopf.

    Romanos Schlaf war nur kurz. Offenbar plagte ihn der Hunger. Doch sie machten wegen des trockenen Grases kein Feuer, sondern aßen würzigen Käse und Brot, tranken Wasser und verdünntes Bier.

    Aus den Augenwinkeln heraus musterte Romano den geliebten Helipater, wie er seinen heilenden Ziehvater zärtlich nannte. Der Junge erkannte zu seinem großen Erschrecken im flimmernden Licht, dass Heriman plötzlich gealtert und leichenblass aussah. Das Leuchten in seinen gütigen Augen war erloschen, sie waren wie von einem milchigen Schleier überzogen.

    »Habt Ihr nicht auch ein wenig geschlafen, Pater?«, fragte Romano besorgt.

    Und obwohl der alte Heiler nur leise, wie für sich selbst sprach, hallte es in den Ohren des Jungen wie Paukenschläge: »In mir wächst kein neues Leben mehr zu, ich schleppe nur noch das alte hin, müder und müder in jeder Stunde. Ich wollte meine Angst auf sich beruhen lassen – aber sie will nicht schlafen.«

    »Wie lange spürt Ihr das schon?«, flüsterte Romano mit bebender Stimme.

    »Schon einige Zeit.« Und ohne die nächste Frage des Jungen abzuwarten, fuhr er fort: »Es ist der ewige Kampf zwischen Licht und Dunkel in mir. Ich denke ständig an die letzte Weissagung des Druiden vom Kampf Donars gegen Dispater. Im Traum sehe ich bizarre Bilder von einem auf mich niederstürzenden Berg, ein seltsamer Berg, wie ich ihn noch nie gesehen habe.«

    Der Heiler streckte die Beine weit von sich. Seine Stimme klang müde. »Ich warf die Runen, die mir einst ein Druide zusammen mit einer Keltenschnur übergeben hatte. Sie zeigten mir ein eindeutiges Bild: DEIN LEBEN WAR!«

    »Furchtbar!« Romano fiel ein Schatten aufs Herz, und er umklammerte Schutz suchend seinen Talisman.

    »Ich habe noch so viele Fragen!« Der Heiler sah den Jungen liebevoll an. »Die Welt wird fortdauern. Sie besteht aus dem Willen der Götter, dem Zufall, und aus tugendhaften Tagen der Menschen. Nicht aus Fragen und Antworten!«

    »Aber nur Ihr könnt meine Fragen beantworten!«

    »Wenn du genug weißt, um eine richtige Frage zu stellen, dann weißt du auch genug, um dir selbst die Antwort zu geben. Die Weisheit des Lebens ist sparsam. Alles Neue wird aus Altem zusammengesetzt.« Heriman strich liebevoll dem inzwischen zum Jungmann gereiften Romano über den Scheitel. Doch so, als habe er ein glühendes Eisen angepackt, zuckte seine Hand zurück: Diese markante Kopfform! Der Heiler war sich sicher: Irgendwann hatte er schon einmal einen solchen Schädel eines ungewöhnlichen Mannes in seinen Händen gehabt

    Das sich entfernende Grollen über dem Deuerberg, eine dem germanischen Donnergotte Taranis geweihte Erhebung, erinnerte den alten Heiler an die verschlungenen Pfade seines Lebens. Heriman musste den Faden seiner Erinnerung ganz von vorne aufwickeln. Wie hatte alles angefangen? Die Zeit seiner freudlosen Kindheit stieg vor seinem geistigen Auge auf, wie die Wolkenberge am fernen Horizont. Ihre teils bizarren, teils bedrohlichen Formen waren das Sinnbild seines aufgewühlten und ruhelosen Lebens.

    Es waren verschwommene Bilder aus mannigfachen Andeutungen, hingeworfene Bemerkungen aus eigenen Erinnerungsbruchstücken. Sie schienen wie die Fäden auf der Rückseite eines gewebten Teppichs. Sie verliefen in einem scheinbar sinnlosen Durcheinander kreuz und quer, überall Knoten und unlogische Enden, ein farbiges Chaos. Heriman suchte in den wirren Fäden ein erkennbares Motiv, er suchte das Bild seines Lebens. Wie hatte alles angefangen?

    TRAUMBILDER

    Für Henmans Vater hatte es vor mehr als sieben Jahrzehnten angefangen, an einem schicksalshaften frischen Morgen im Lenzmond. Die Sonne war noch nicht hinter den Bergen hervorgetreten, doch verwandelten ihre Strahlenbündel die Wolken im Osten in ein blutend rotes Meer »Wie der Lebenssaft von vielen tausend Toten«, murmelte Hardumar vor sich hin, als er seine entzündeten Augen reibend, vor das prächtige Häuptlingszelt trat.

    Er war ein breitschultriger blonder Hüne, ein stolzer Tuath, der Anführer des Volkes der Hermunduren. Als Sohn eines Stammesführers war er bereits in seinen jungen Jahren der draufgängerische Häuptling einer kriegerischen, schlachterprobten Truppe. Seine sichtbaren Narben zeugten davon. Die Schwielen von geheilten Schwertwunden leuchteten weiß auf dem kräftigen braunen Körper, sein rechtes Ohr war etwas plattgedrückt und sein Mund war wegen einer alten Stichwunde unter seinem rechten Wangenknochen leicht verzerrt. Doch ungeachtet, oder gerade wegen aller Schrunden, Schrammen und Risse, war er in den verliebten Augen vieler Frauen ein begehrenswerter, attraktiver Mann. Wenn er sprach, klang seine Stimme wie ein Chor. Weisheit leuchtete ihm von seiner hohen Stirn und wie viel Kraft in seinem etwa fünfundzwanzig Winter alten Körper steckte, konnte man nur ahnen.

    Nach blutigen Schlachten mit den Römern hatten sie nach tagelangem, beschwerlichem Marsch aus dem Herzen Galliens kommend, hier am linken Ufer des lieblichen Stromes der Mosa ihr Lager aufgeschlagen. Alemannen nannte man sie. Sie waren ein Teil der vereinigten Germanenvölker, in denen sich alle Mannen im Kampf gegen die Römer vereinigt hatten.

    Hardumar liebte das wilde Leben. Das Umherziehen mit seinen Kameraden, diesen sonnen- und windgebräunten Burschen mit struppigen Bärten und herausfordernden Gesichtern, denen die Hitze des Alkohols die feurig-wilden Augen oft wie kriegerische Lichter aufblitzen ließ. Die Freude am Kriegführen, der Blutrausch der Schlacht, das Plündern und Beutemachen, Brandschatzen und Morden, das war ihre Welt. Die gierige Lust beim Vergewaltigen von Frauen, ebenso wie das Verschleppen und Versklaven von Gefangenen, gehörte zu den Charaktereigenschaften der meisten Krieger seiner Zeit.

    »Bestimmt haben die Götter ein Schmerzmittel in den Wein des letzten Horns gemischt«, fluchte Tuath Hardumar leise vor sich hin und rieb sich mit kreisenden Bewegungen seine Schläfen. Sein Kopf tönte und dröhnte wie beim Widerhall einer gewaltigen Glocke.

    Das helle Morgenlicht schmerzte wie Feuer in seinem umränderten seltsamen Augenpaar, denn während die Regenbogenhaut des rechten Auges blau leuchtete, war die Iris des linken grau-grün. Doch heute strahlte weder das eine noch das andere. Sie waren trübe und blicklos. Hardumar fühlte sich matt und elend. Er glaubte jedes Haar seiner Augenwimpern als stechende Nadel zu spüren, in den Ohren summte es wie in einem Bienenschwarm, sein Nacken war verkrampft – steif wie ein Brett – seine Zunge dick und klebrig. Er hatte einen widerlichen Geschmack im Mund. Ja, er fühlte sich krank

    »Das letzte Horn war schlecht«, knirschte er erneut mit geschlossenen Zähnen, als er mit schweren schwankenden Schritten hinüber zum munter plätschernden Bach ging. Leichter Nebel lag über der Ebene.

    Wie durch einen Dunstschleier erinnerte sich Hardumar an die ausgeuferte Heldenfeier am gestrigen Abend. Dabei war eigentlich alles wie gewohnt verlaufen. Mit einem zünftigen Siegesmahl mit saftigem Wildschweinbraten hatte es angefangen. Alsdann tranken die Gefolgsleute zunächst mit Stolz auf ihren siegreichen jungen Heerführer Hardumar und ließen ihn hochleben. Danach begann das Prahlen. Die jungen Krieger überboten sich gegenseitig. Jeder protzte mit seinen Heldentaten. Sie stritten, wem von ihnen als dem größten Helden das beste Stück Fleisch, das Heldenstück gebühre! Immer schneller kreisten die Trinkhörner. Später wurden die mächtigen Hörner statt mit Ale, mit einem schweren roten Wein aus dem Süden Galliens gefüllt. Und sie tranken den wuchtigen Wein in tiefen, langen Zügen. Sie tranken ihn wie Kurmi – aber die Wirkung war eine andere.

    Hardumar kamen auch wieder die jungen Frauen mit den bemalten Lippen und wiegenden Hüften in den Sinn. Besonders die eine: jung, drall und rothaarig. Lustige Sommersprossen im Gesicht. Sie hockte erhöht auf einem Strohballen. Ihr fadenscheiniges fleckiges Hemd, verbarg nichts von ihren Reizen. Lockend hatte sie ihn angelacht. Er ging auf sie zu. Sie roch leicht verschwitzt. Der Strohballen wackelte – kurz und heftig – und drohte nach hinten zu kippen. Die Kameraden sangen dazu ein obszönes Lied, dessen Text nur schwer in Worte zu fassen war.

    Langsam schleppte sich Hardumar an den Mannschaftszelten vorbei, aus denen das grunzende Schnarchen der berauschten Krieger zu hören war.

    Auf halbem Weg wäre er fast über einen Burschen gestolpert, dem offensichtlich der Weg zur Latrine zu weit gewesen war. Ein gezielter Tritt, und der Kerl mit den dick verquollenen Augen rollte mit blankem Gesäß im taunassen Gras den Abhang hinunter. Hardumar lächelte gequält

    Endlich stand er an dem kleinen künstlichen Wassersturz, der nach seinen Anweisungen am Vortag angelegt worden war. Dazu hatten sie oberhalb des steilen Abhanges den schmalen Bach in einen offenen Baumstamm geleitet, sodass das klare Wasser jetzt in einer Höhe von etwa zehn Fuß herabsprudelte.

    Er legte seine Kleider ab und ließ sich das eiskalte Wasser von der Hüfte an über sein rechtes Bein fließen. Der Trittstein kippelte. Ein Schauer lief über seinen nackten Rücken. Ihn fröstelte. Die gleiche Prozedur anschließend mit dem linken Bein, dann die rechte Schulter, linke Schulter. Bis er sich schließlich auch mit dem Kopf und dem ganzen Körper in den erfrischenden, ernüchternden Wasserstrahl stellte. Er schauderte, doch nach kurzer Gewöhnungszeit fühlte sich das Wasser nicht mehr kalt, sondern prächtig prickelnd an. Seine Lebensgeister erwachten. Ihm war es körperlich wieder wohler. Das leidige Rauschen in seinen Ohren hatte nachgelassen und er vernahm schon wieder das lustige Gezwitscher der Vögel um ihn herum.

    Der scharfe Dunst frischen Pferdemistes schlug ihm entgegen, als er mit festem Schritt hinüber zur Koppel ging. Theofric, sein treuer Knappe, ein zäher, zaundürrer Junge mit strohblondem Haar, hielt bereits das freudig wiehernde Ross am Zaum. Der Junge neigte leicht den Kopf und schaute seinen Häuptling verstohlen von der Seite her an. Der schlaue Stallbursche hatte gelernt, an der Farbe der geheimnisvollen Augen die jeweilige Stimmungslage seines Herrn abzulesen. Wenn das blaue Auge strahlte, war er guter Laune, funkelte dagegen das linke in grünlichem Meeresgrau oder zuckten in ihm gar eisblaue Blitze auf, dann war höchste Vorsicht geboten. Doch heute war das rätselhafte Augenpaar des Häuptlings ausdruckslos. Unsicher und wortlos legte Theofric den Sattel auf.

    »Diesen Tag will ich ganz für mich haben«, brummte der Häuptling mehr zu sich selbst. Mit gelenkigem Schwung saß er auf und ritt aus dem Lager, vorbei an den ehrerbietig grüßenden Wachmannschaften. Im schummrigen Morgenlicht schauten von den hölzernen Lagerpfosten die schon teilweise gebleichten Schädel der bei den letzten Schlachten getöteten Römer und Gallier aus dunklen Augenhöhlen gespensterhaft auf ihn herab.

    Plötzlich riss der Nebel auf und die Sonnenvorhänge fielen blendend über die weite Ebene. In strammem Galopp sprengte Hardumar in die strahlende Sonne des Frühlingsmorgens. Das Land war durchzogen von einem grobmaschigen Netz kleiner Bäche, gesprenkelt mit Wäldchen und von tiefen Sumpfgräben durchfurcht. Hohl klangen die Hufe des Pferdes beim Überqueren eines schmalen Knüppeldammes über dem weitläufigen Sumpfland.

    Die Sonne stand schon in ihrem Zenit, als er sein schweißtriefendes Ross in den Kühle spendenden Schatten eines Ahornbaumes lenkte. Er rieb das Tier sorgsam ab und band es zum Grasen an. Erschöpft legte er sich auf den Rücken ins Gras, sah in die aufziehenden Wolken und lauschte dem leisen Rauschen des Windes in den Zweigen. Belustigt beobachtete er die Lerchen um ihn herum, die sich zu Dutzenden erhoben und geblendet auf die Feuerkugel der Sonne zuflogen, um dann wieder wie vom Blitz getroffen, auf die Erde zu stürzen.

    Als ein Regenguss ihn unsanft aus einem aufgewühlten Halbschlaf riss, stellte er sich Schutz suchend nahe an die unbemooste Seite des dicken Baumstammes. Nun drehte sich der Wind und der Regen kam ihm in dicken, klatschenden Tropfen entgegen, und bald war Hardumar bis auf die Haut durchnässt. Nur ganz langsam ließ der Regen nach. Eine Zeitlang fiel er noch in dünnen, lautlosen Fäden, dann kam die Sonne zwischen den Wolken hervor, und kurz darauf war der Himmel wieder azurblau. Hardumar hängte seine Kleider an die ausladenden Äste des Baumes, wo sie in der lauen Frühlingsluft rasch trockneten.

    Die untergehende Sonne warf lange Schatten und ein betörender Duft von Frühlingsblumen stieg ihm in die Nase, als er ausgeruht und von den Strapazen der Nacht erholt, zurück ins Lager ritt.

    Unerwartet drangen Lautfetzen an sein Ohr. Die Geräusche kamen von dem kleinen Fluss her, der sich in großem Bogen um das weite Lager herumschlängelte. Neugierig angelockt durch helles Weiberlachen und das aufspritzende Wasser am Flussufer, ritt Hardumar näher und schaute eine Weile belustigt dem anmutigen Treiben zu. Es waren ›seine‹ Sklavinnen, die sich in den klaren Fluten den Schmutz und Staub der Landstraße abspülten. Er hatte sein Pferd schon fast wieder gewendet, als er sie sah. Der Augenblick, als sie langsam aus dem Wasser stieg, veränderte sein Leben.

    Sie war ein bildhübsches Mädchen. Ihre braunen Haare, die sich gelöst hatten und ihr kokett in die Stirn hingen, ließen sie zugleich verwegen und kühn aussehen. Ihre stolze und doch zugleich mädchenhafte Haltung, ihre verheißungsvollen dunklen Augen entflammten blitzartig sein Verlangen. Seine bewundernden Augen blieben gebannt auf ihrem nassen Hemd haften, das sich so fest an ihren jugendlichen feuchten Körper schmiegte, sodass von ihrem köstlichen Leib fast nichts verborgen blieb. Wie ein Dieb fühlte er sich, wie ein gemeiner Späher, aber er konnte sich lange nicht von diesem entzückenden Bild losreißen.

    Theofric saß, den Rücken durchgedrückt mit verschränkten Armen auf der Vorderkante der Futterkiste und sah seinem Herrn erwartungsvoll entgegen. Schon seit geraumer Zeit hörte er das sich nähernde Hämmern der Hufe. Im letzten Moment parierte Hardumar den Hengst, sprang behände aus dem Sattel: »Reibe ihn gut ab, und gib ihm eine Extraportion Heu, er hat es verdient.« Seine sonore Stimme klang so seltsam beschwingt.

    Theofric strahlte ihn an, als er ihm die Zügel zuwarf. »Ein wunderschöner Tag.«

    »Ja ein außergewöhnlicher Tag.« Der Häuptling kniff für einen Moment die Augen zu. »Aber warum grinst du so dämlich?«

    Der Junge fühlte sich ertappt. »Machen wir bald eine reiche Beute, Häuptling?«

    Er bekam einen freundlichen Klaps auf den Hinterkopf. »Wie kommst du darauf?«

    »Euer Auge leuchtet so blau!«

    »Blau?«

    Hardumar lachte leise, er wusste, dass der Schlingel das Geheimnis seiner Augen kannte. »Mhm ..., Tja ..., reiche Beute. Aber wahrscheinlich anders als du sie dir denkst«

    Noch nie hatte der Knappe seinen jungen Herrn so beglückt lächeln sehen.

    Die Gefühle und heftigen Empfindungen, die ihn so plötzlich überfallen hatten, waren Hardumar fremd. Und sie verwirrten ihn. Er befürchtete fast, in etwas hineingezogen zu werden, auf das er nicht vorbereitet war.

    Doch schon am nächsten Morgen begann sein Werben um die Gunst der schönen Sklavin Lutetia. Er betrachtete das hübsche Mädchen von Anfang an nicht als seine Beute, sein frei verfügbares Eigentum. Nein, er warb um sie, wie man eine Freie, eine adlige Frau umwirbt. Die Nähe des bewunderten Mädchens steigerte die Empfänglichkeit des Geistes und seiner Sinne zu rauschhafter Begeisterung.

    Aber sein Verhalten löste bei seinen rauen Unterführern und Kampfgenossen nur gemurmeltes Unverständnis und missbilligendes Kopfschütteln aus. Hardumar spürte wohl die Missbilligung seiner Umgebung, aber er beachtete sie nicht.

    Als er Lutetia wiedertraf, hatte sie ihr dunkles Haar, das im Licht der Frühlingssonne einen rötlichen Kupferton erhielt, nach griechischer Art frisiert, am Hinterkopf zusammengebunden und zu großen Locken gedreht, die auf den mädchenhaften Nacken fielen. Er war hingerissen. Nun folgte die Zeit einer zarten, erwachenden Liebe, es waren Tage wie eine Kette von lichten Stunden.

    Lutetia war die Tochter eines schamanischen Sehers vom Stamme der Parisii. Dieses nomadisierende Keltenvolk hatte sich einst weit im Westen angesiedelt und ihr Oppidum Lutetia Parisiorum gegründet. Doch setzten sie ihre Siedlung selbst in Brand, als sie vor der Übermacht der römischen Heere zurückweichen mussten. Später hatten sie mit den Besatzern Frieden geschlossen und ihre Stadt wieder aufgebaut.

    Doch dann zog jüngst die barbarische Bestie der germanischen Heere ihr Blut und Tränen getränktes Band durch ihr blühendes Land. So geriet auch Lutetia als Sklavin in die Hand der brandschatzenden und plündernden Eroberer und damit in Hardumars Besitz.

    Lutetia hatte vor kurzem noch daran gedacht, ihrem hoffnungslos traurigen Sklavenschicksal ein Ende zu bereiten, sich lieber das Leben zu nehmen, als sich einem dieser wilden Barbaren hinzugeben: »Ehe mich einer dieser bärtigen, stinkenden Barbaren mit seinen besudelten Pranken berührt, erdrossele ich mich mit meinen eigenen Haaren«, vertraute sie sich ihrer treuen Dienerin Sigilind an und schlang ihren Zopf um den Hals.

    Doch in den letzten Tagen hatte sich ihre Todessehnsucht in jugendliche unbeschwerte Heiterkeit gewandelt. Sie erwärmte sich für diesen großen, schlanken Mann, dessen Haar so golden schimmerte, der sie so liebenswürdig umwarb, als sei sie eine Freie. Sein edles Gesicht war so jungenhaft, tollkühn und heiter, seine geheimnisvollen Augen so blau, hell und ohne Falschheit.

    Es war an einem warmen Abend im Wonnemond. Ein eigener Zauber von Licht und Leben, Wärme und Farbe lagen über dem bezaubernden Land und prickelnd war die frische Luft. Der Heerestross war auf der Bernsteinstraße weiter nach Osten gezogen und sie hatten die Lager in den lichten Wäldern am Oberlauf des zauberhaften Flusses Mosella aufgeschlagen.

    Das Mädchen ging beschwingt neben ihm her. Hardumar betrachtete es aus den Augenwinkeln. Lutetia war so mädchenhaft, ihre Augen leuchteten so rein und es lag soviel Unberührtheit über ihr. Ihre zarte Haut seidenglatt und die von dunklen Locken umrahmte Stirn hoch und ebenmäßig. Ihr sanft geschwungener Mund, die samtig roten Lippen, die sie scheu zusammenpresste, so frisch und verlockend, wie reife Beeren aus südlichen Ländern. Das fließende blaue Kleid, mit einem Gürtel von in Silber getriebenen Blättern um die Hüfte gerafft, ließ ihren jugendlich wohlgeformten Körper erahnen. Sie lächelte geheimnisvoll.

    Er führte sie unter den Bäumen auf und ab und begann langsam, da und dort, wie unabsichtlich, ihren Körper mit der Hand zu berühren, zufällig, ohne Hast. Er legte leicht den Arm um das Mädchen, roch an ihren Haaren, fasste nach, wollte unter der Achsel hindurch an ihren festen Busen, doch sie schubste ihn scheu und schüchtern weg.

    Der kleine Bach murmelte geheimnisvoll in dem steinigen Flussbett. Im hellgrünen, federnden Gras einer kleinen Lichtung blieben sie stehen. Lutetia sah sich mit leuchtenden Augen um. Haselnusssträucher und Birken umstanden die nach Moos und Erde duftende Waldlichtung. Die warme Luft war erfüllt vom Summen der ersten Bienen auf dem Jungfernflug.

    Zärtlich rief er sie beim Namen, wollte auf sie zugehen, doch sie wich aus und stellte sich mit dem Rücken an eine junge Birke. Sie scheuchte ihn mit einem leichten Kopfschütteln zurück und wehrte ihn mit einer flüchtigen Handbewegung ab. Doch in ihren verliebt-verräterischen Augen spiegelte sich ein ganzer Schwarm unruhiger Vögelchen wider.

    »Ich liebe dich!« Er kam näher, wartete und drückte sie liebevoll an sich. Sie zitterte, als er sie zärtlich in die Arme nahm. Ihre Abwehr wurde schwächer. Zögernd ließ sie ihn gewähren. Er wurde mutiger und küsste ihren kirschroten Mund.

    Noch einmal machte sie sich frei, bog den Kopf zurück und zog ihr leichtes weißes Seidentuch fester um die Schultern. Sie strich mit beiden Händen über das Haar. Im dämmrigen Mondlicht sah er mit angehaltenem Atem, wie sie mit einer Hand ihr Kleid glättete, sodass sich jede Kontur ihres jugendlichen Körpers abzeichnete.

    Sie sah ihn erschreckt an: »Du verwirrst mir die Sinne ...«

    Statt zu antworten, legte er in einer raschen, ungestümen Bewegung den rechten Arm um ihre Schultern und zog sie fest an sich. Ein, zwei Sekunden schien sie verdattert. Aber dann schlang sie mit einer spontanen, freimütigen Bewegung beide Arme um ihn und drückte ihre Lippen auf seinen Mund. Zielsicher nahm er ihr das Tuch von den Schultern und löste die Spange ihres Gürtels. Ihr Widerstand schmolz dahin. Leise raschelnd fiel ihr Gewand ins trockene Gras. Ihre dunklen Augen leuchteten wie schwarze Oliven, als sich seine heißen Lippen wieder auf ihren Mund senkten. Gedämpft hörte man von irgendwoher das beharrliche Hämmern eines Spechtes. »Mein Blut und mein Atem für dich«, wisperte sie und die frühe Dunkelheit des Abends bettete sie ein. Ihr jugendfrischer Körper duftete betörend nach Mandeln ...

    Langsam verging die Nacht. Die silberne Sichel des Mondes war bereits gemächlich über den Horizont gewandert, um ihre lange Reise zum Morgen hin anzutreten, als sie sich beglückt als seine Frau aus seinen starken Armen löste.

    Die Liebe zu diesem Mädchen veränderte das Seelenleben Hardumars von Grund auf. Oft saßen sie, eng aneinander geschmiegt, in der Dämmerung des Waldes, eingehüllt in das tiefe Schweigen der geheimnisvollen Dunkelheit. Eine Zaubergewalt lag über ihnen und zog sie immer mehr in ihren Bann. Die ganze Welt schien erfüllt von neuem Fühlen, von Sehnsucht und Liebe.

    In langen Gesprächen machte sie ihn vertraut mit ihren Vorstellungen von ihrem Gott. Sie erzählte ihm, ohne Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit von ihren Ahnungen an den einen unsichtbaren Schöpfergott der Liebe. Sie sprach mit ihm über die Gleichheit aller Menschen. Von seinem Gebot der Nächstenliebe, wobei sie ihn aber auch nicht von der tiefen Kluft zwischen dieser hehren Lehre und dem tatsächlichen, verwerflichen Verhalten vieler Glaubensanhänger im Unklaren ließ.

    Sie saßen an einem kleinen Abhang und sonnten sich im warmen Schein der untergehenden Sonne. Der große Malermeister Herbst hatte die sanften Hügel ein buntes Gewand gepinselt. Fahlbraun, purpurfarben, gold-gelb und rostrot hatte sich das Laub verfärbt. Von einer sanften Brise getrieben, zogen die Wolken langsam über den Himmel.

    »Die Seele und das Reich der Ideen sind unsterblich und ewig, der menschliche Körper und die fassbare Welt hingegen vergänglich.« Lutetia wusste nicht, ob sie das gehört hatte, oder ob es nur der Widerhall aus ihrem tiefsten Innern reflektierte.

    Als er schwieg, fuhr sie fort: »Was dich selbst angeht, sprichst du nicht viel, aber einiges kann ich dir vom Gesicht und aus den Gedanken hinter deinen Fragen ablesen.«

    Hardumar schien ganz von seinen Überlegungen in Anspruch genommen. Endlich brach er sein Schweigen. »Es fällt mir schwer, jenen lichten Gott mit meiner eigenen Stellung und Lebensweise in Einklang zu bringen. Wie soll ich mit dieser Lehre weiter blutige Kriege führen, andere Länder erobern und Völker unterjochen? Und meine alten Götter zürnen und er ...?« Hardumar sah sie fragend an: »Und er? Dein Gott! Kennst du deinen Gott?«

    Sie legte ihm den Finger auf den Mund. »Würde ich ihn kennen – so wäre ich ER!«

    Hardumar war verblüfft. Lange brütete er vor sich hin.

    »Wie kommt es, dass du als Tochter eines keltischen Sehers diesen neuen Glauben angenommen hast?«, fragte Hardumar endlich.

    »Du irrst! Das habe ich nicht. Ich bin keine Fidelis, keine Getaufte. Aber viele Elemente dieses neuen Glaubens entsprechen meinen eigenen Überzeugungen.«

    Hardumar schwieg wieder lange. Ein schwerer Kampf tobte in seiner Brust: wie verträgt sich das Gebot dieses neuen Gottes: »Du sollst nicht töten« mit der keltisch-germanischen Sitte, die Köpfe der Feinde abzuschlagen, am Sattel zu befestigen oder auf Pfähle zu stecken? Wie vereinbarte sich dieses Gebot mit den Opferriten, in denen unschuldige Menschen abgeschlachtet und geopfert wurden?

    Als er sie nach einer Weile anblickte, lag ein seltsames Strahlen in seinen Augen. »Du hast mir doch von jenem Mann erzählt, der durch eine Himmelserscheinung plötzlich von einem wütenden Verfolger zu einem der eifrigsten Verfechter des neuen Glaubens wurde.«

    »Du meinst die Geschichte von dem Saulus, der zum Paulus wurde?«

    »Ja, an den Mann dachte ich.«

    »Und was ist mit dem?«

    »Etwas ganz Seltsames.« Fragend sah sie zu ihm auf. Irgendetwas in ihren Augen zwang Hardumar weiterzusprechen. »Bisher war für mich ein unsichtbarer Gott nicht vorstellbar ...«

    »Und jetzt, kannst du ihn dir plötzlich vorstellen?«, unterbrach sie ihn erstaunt.

    »Ja. Ganz blitzartig. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Jetzt sehe ich klar und glaube die Antwort auf meine Fragen zu kennen: Gott ist Liebe. Gott ist die Liebe zur Schöpfung, zur Natur, zur Kreatur, zu den Menschen und zu ...« Statt weiterzusprechen legte er beide Hände um ihren schlanken Körper und zog sie fest an sich. »Gott ist die Liebe zu dir. In meiner Liebe zu dir, wird er für mich greifbar.«

    »Du meinst begreifbar!«, lachte Lutetia und schmiegte sich zärtlich an ihn.

    Herbststürme zogen über das Land. Sie lagen in ihrem Zelt auf einer Schilfmatte und erholten sich von den Strapazen des Tages. Lutetia stieß Hardumar mit dem Unterarm leicht an, als wollte sie ihn wachrütteln und brachte ihren Mund an sein Ohr: »Unsere Liebe ist nicht ohne Folgen geblieben.«

    Mit ungläubigem Erstaunen, die dichten Brauen zusammengezogen, blickte er sie an. Dann kam etwas Verträumtes in seine Augen, und schließlich brach ein Lächeln hervor, so strahlend, dass es sie mitten ins Herz traf. Er glaubte ihr und sein Herz schlagen zu hören. Er schloss sie so leidenschaftlich in die Arme, als wären sie viele Monde auseinander gewesen. Als sie nachher entrückt nebeneinander lagen und dem langsam abklingenden Pochen ihres Atems lauschten, fühlten, dachten und erfuhren sie ein und dasselbe. Alles schien plötzlich klar und unwiderruflich: Nichts kann uns mehr trennen!

    Oft dachte Hardumar jetzt an die Zeit, da sein Vater nicht mehr wäre und er selbst auf dem Hochsitz zwischen den Götterbildern sitzen würde. Dann flammten seine Wangen, und in dem seltsamen Beben spürte er die Kraft und seinen Willen zur Sorge für das Wohl seiner Sippe. Aber gerade diese Verantwortung mahnte ihn den neuen Weg zu gehen, der wegführte vom Teufelskreis nackter Gewalt und Gegengewalt, vom sinnlosen gegenseitigen Abschlachten und grausamen Niedermetzeln ganzer Stämme.

    Aber an den Lagerfeuern wuchs die Unzufriedenheit und in manchen funkelnden Augen der Kampf erprobten Männer loderte ein gefährliches Feuer. Sie mussten zwar notgedrungen anerkennen, dass ihr Anführer mit seiner neuen gewaltlosen Taktik große Gebiete eroberte und reiche Beute machte. Aber sie wollten den richtigen Kampf. Sie wollten die Länder der Römer und ihrer Vasallen mit dem gefürchteten teutonicus furor, dem germanischen Feuersturm überziehen, ihre Häuser in Brand setzen, ihre Weiber schänden, Sklaven rauben und die Köpfe der Feinde, als Dank an die Götter, auf Pfähle stecken.

    Hardumar spürte wohl die Verdrossenheit seiner Schwertgenossen. Sie hungerten nach Krieg und er hatte in gewissem Maße auch Verständnis für sie. Hatte nicht auch er lange gebraucht um zu seinen neuen Einsichten zu kommen?

    Senorius, einer seiner Getreuen, ein weißhaariger alter Recke, verblüffte ihn mit seiner warnenden Offenheit. »Du lebst gefährlich, Häuptling. Es ziemt dem Manne, sein Schwert nie weiter wegzulegen, als der Arm reicht, denn wechselvoll ist das Leben.« Mit erhobener Stimme fügte er hinzu: »Am strahlenden Himmel zucken Blitze und kein Glück der Menschen währt ewig.« Als Hardumar schwieg, sprach der Recke weiter: »Du musst es selber wissen, was du tust, Häuptling. Mein Rat war nur ein Rat. Mögest du nie bereuen, dass du ihm nicht folgtest.«

    Doch Hardumar war auf der Hut. Völlig unerwartet kam der Tag, an dem er seine Autorität mit Waffengewalt verteidigen musste. Es war während der mittleren Nacht, der drei Samhain-Nächte, in der Zeit des Übergangs, in der die Grenzen zwischen natürlicher Welt und der Anderwelt verschwammen und die Geister ins Diesseits kamen und Schabernack trieben – der nicht immer lustig war.

    Zu diesem Fest versammelten sich die Mannen der beiden verbündeten Stämme auf einem Berghügel, um gemeinsam die Feuer zu entfachen, die den Beginn des neuen Jahres verkündeten. Der Himmel war verhangen und ein scharfer Nordwind peitschte und blies die letzten dürren Blätter von den Bäumen.

    Schweigend stiegen sie die steile Anhöhe hinauf. Als Hardumar mit seinen Unterführern die kahle Kuppe, die sich über die weite Talebene erhob, erreichte hatte, standen dort bereits die Mannen des befreundeten Stammes.

    Die äußere Erscheinung des Häuptlings war das Abbild seiner Wesensart, sein Name Artaios, und erinnerte tatsächlich an einen Bären. Ein untersetzter Mann mit mächtigem Brustkasten und korpulentem Bauch. Sein Kettenhemd wirkte abgenutzt, der Waffenrock darunter verblichen; nur dem Mantel sah man den Rang seines Trägers an.

    Inmitten der breiten Schultern wuchs ein Stiernacken hervor und auf dem wuchtigen Kopf sträubten sich borstenartig die leicht angegrauten Kopfhaare. Auffallend waren seine langen, muskulösen Arme. Seine kleinen grauen Augen blickten scharf und kalt. Hardumar spürte instinktiv, dass sein Gegenüber die Konfrontation mit ihm suchte, als er statt einer freundlichen Begrüßung ein paar unartikulierte Laute zwischen den Zähnen zerquetschte. Artaios Grußhand steckte tief in der Manteltasche.

    Mit einem hämischen Grinsen über die Schultern in Richtung seiner Unterführer, ging Artaios sofort zum Angriff über.

    »Dünn bist du geworden, Häuptling Hardumar, zieht dir ein Weib das Fett von den Rippen?«

    Hardumar ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn diese Anspielung auf Lutetia in Wut versetzte, sondern er konterte in spöttischem Ton und blickte dabei herausfordernd auf den Schmerbauch seines Kontrahenten: »Mich wundert’s nicht, dass sich deiner Männlichkeit kein Weib nähert.«

    »Manchen sah man gurren und springen auf weichem Moos, der hohe Sprünge in der Feldschlacht vergisst«

    Hardumar sah finster auf den Sprecher. »Mahnst du, weil Neid deine Seele zerfrisst?«

    Aber Artaios legte nach: »Sicher gebührt dir noch die Würde eines Häuptlings, aber dir scheint die Kraft deiner Arme in die Lenden gezogen ...«

    Noch immer versuchte sich Hardumar äußerlich zur Ruhe zu zwingen, doch sein Inneres kochte und brannte lichterloh.

    »Ich hörte manchen, der einen Schwertschlag ausgeteilt, darüber glucksen wie ein Huhn, das ein Ei gelegt hat.« In den Augen Artaios loderte ein gefährliches Feuer, als Hardumar fortfuhr. »Auch vernahm ich Kunde von einem Maulhelden, dem sein Gefolge die Schilde vorhält gegen feindliche Speere.«

    Jetzt setzte Artaios zum folgenschweren Vorwurf an: »Und ich hörte von einem Häuptling, der feige und nach welscher Art Krieg führt und der seine Stammesgenossen an die Römer verrät ...«

    Das war zu viel! Hardumar vergaß sich. Katzenschnell schoss er nach vom und packte den lästernden Verleumder am Hals.

    »Ich fordere dich zum Kampf!«

    Artaios Augen wurden ganz schmal, als er seine riesigen Pranken um Hardumars Arme legte und so den Würgegriff lockerte. Unverhohlene Geringschätzung loderte in seinem Gesicht. Vertrauend auf seine Bärenkräfte keuchte er.

    »Du wirst diese Stätte nicht lebend verlassen!«

    Die Mannen umringten in weitem Kreis den Kampfplatz. Während sich die Speerleute Artaios’ vom Sieg ihres Anführers überzeugt zeigten, waren die Gefühle von Hardumars Speerleuten zwiespältig.

    Die beiden Kämpfer verneigten sich kurz vor den hilfreichen Göttern, dann gingen sie ohne Schilder, aber in Helmkappe und Panzerhemd, mit ihren Streitäxten aufeinander los.

    Stahl schlug an Stahl. Die Funken sprühten. Es war ein harter Männerkampf auf Leben und Tod. Die Streitenden waren gleichstarke Kämpfer. Als plötzlich der Nordwind auffrischte und Staub aufwirbelte, versuchte Artaios seinen Gegner in eine Stellung zu zwingen, die Hardumar Sand in Augen trieb und

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